Lizenz zur Grausamkeit

Der Hamburger Kriminologe Fritz Sack über die "neue Straflust der Gesellschaft"

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Mit Sorge betrachtet der Hamburger Kriminologe Prof. Dr. Dr. h.c. Fritz Sack die zunehmende repressive Strafgesetzgebung in der BRD. Seiner Ansicht nach ist das eine logische Konsequenz des Neoliberalismus - Raubtierkapitalismus angewandt auf die Strafgesetzgebung. Dazu gibt es laut Sack, einem Vertreter der kritischen Kriminologie, eine Alternative: soziale Sicherung statt Wegsperren.

Herr Professor Sack, Sie sprechen von einer "neuen Straflust der Gesellschaft". Was veranlasst Sie zu dieser These?

Fritz Sack: Dabei beziehe ich mich auf das steigende Sicherheitsbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger einerseits und die zunehmend repressive Strafgesetzgebung andererseits, die sich u.a. in dem kürzlich vorgelegten Entwurf für ein neues Hamburger Strafvollzugsgesetz manifestiert. Damit wird ein Paradigmenwechsel eingeleitet und hundert Jahre alte Grundsätze der Strafgerichtsbarkeit werden über Bord geworfen.

Inwiefern?

Fritz Sack: Im Vordergrund der Strafgesetzgebung steht nicht mehr der Täter und dessen Wiedereingliederung in die Gesellschaft, sondern die Sicherheit der Allgemeinheit. In dem Entwurf wird die Nachrangigkeit der Resozialisierung festgeschrieben, das ist die Annullierung des bisherigen Selbstverständnisses des Strafrechts, in dem die Resozialisierung absoluten Vorrang hatte. Resozialisiserungsbemühungen sollen laut dem Entwurf „hinter Gittern intensiviert“ werden, dazu soll geschlossener Vollzug als Regelvollzug eingeführt werden, die Gefangenen sollen, wenn sie irgendwohin gebracht werden, statt wie früher bei erhöhter Fluchtgefahr nun bei „einfacher Fluchtgefahr“ gefesselt werden können. Was immer das heißen mag, auf jeden Fall bietet das die Möglichkeit, den Druck auf die Gefangenen zu erhöhen. Resozialisierung „hinter Gittern“, das ist blanker Zynismus.

Hält der Entwurf noch andere „Neuerungen“ bereit?

Fritz Sack: In der Novelle ist von der Zusammenfassung des Erwachsenen- und Jugendstrafvollzugs die Rede. Die Jugendgerichtsbarkeit wurde Anfang der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts in Deutschland eingeführt, und zwar als eigenständige – vom Erwachsenenstrafrecht getrennte - Gerichtsbarkeit. Das Jugendstrafrecht sieht bekanntlich drei Sanktionsmöglichkeiten vor: Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel und - nur ausnahmsweise - Jugendstrafe. Zuchtmittel sind z. B. Ableisten von Arbeitsstunden, Erziehungsmaßregeln sind Weisungen wie die Vorgabe, sich an bestimmten Orten aufzuhalten oder von bestimmten Personen beaufsichtigt zu werden, etc. Beides hatte bisher Vorrang vor der Jugendstrafe, das soll laut dem neuen Gesetzesentwurf anders werden. Dessen Credo lautet auch in Bezug auf Jugendliche: Wegsperren statt Resozialisieren.

Ist diese Tendenz eine Hamburgensie, oder ein bundesweiter Trend?

Fritz Sack: Hamburg spielt den Vorreiter in dieser Frage, aber auch andere Bundesländer haben ähnlich rigide Gesetzgebungen in Planung. Grundsätzlich würde ich sagen, das ist die logische Konsequenz aus der zunehmenden Neoliberalisierung der Gesellschaft, sozusagen die Kehrseite dieser Medaille. In einer Gesellschaft, in der soziale Kälte vorherrscht, in der jeder jeden zu übervorteilen versucht, wird mit denjenigen, die aus dem Rahmen fallen nicht eben zimperlich umgegangen. Und im Strafvollzug herrschen dann eben dieselben rauen Bedingungen wie in der Gesellschaft insgesamt.

Also die Übertragung des Raubtierkapitalismus auf den Strafvollzug?

Wenn Sie so wollen, ja. Und das ist beileibe kein deutsches Phänomen, sondern ein Trend, der europaweit zu verzeichnen ist und seinen Ursprung in den USA findet. Ein amerikanischer Kollege nennt das „entitlement to cruelty“, Berechtigung zur Grausamkeit.

"Das übersteigerte Sicherheitsbedürfnis der Menschen fußt auf einer „subjektiv gefühlten“ Kriminalität, die mit den objektiven Verhältnissen nichts zu tun hat"

Hat der 11. September 2001 zu dieser Entwicklung maßgeblich beigetragen?

Fritz Sack: Der 11. September 2001 hat das verstärkt, aber ganz sicher nicht ausgelöst. Die Debatte um „Law and Order“ ist viel älter, wie gesagt, sie findet ihren Ursprung in den USA, wurde von Tony Blair, aber auch von Gerhard Schröder im Bundestagswahlkampf 1997 übernommen. In Hamburg hat es dann Anfang 2000 die Ära Ronald Schill gegeben und derzeit ist der neue französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy der exponierteste Vertreter dieser Linie.

Wie äußert sich die von Ihnen zitierte „Lizenz zur Grausamkeit“?

FS: Neben dem schon genannten Grundgedanken des Bestrafens statt Wiedereingliederns äußert sich das in solchen Vorhaben wie die verstärkte Unterbringung in Mehrbettzellen, Verkürzung der Umschlusszeit, also Verlängerung der Zeiten auf der Zelle, Ausgangssperren, die Beteiligung der Gefangenen an Gesundheitskosten, die Abgabe von nicht-verschreibungspflichtigen Medikamenten gegen Kostenerstattung.

Die Schill-Partei führte in ihrem Programm unter der Rubrik Strafvollzug den Begriff „Abstandsgebot“ ein. Das ist eine rein ökonomische Kategorie, die wir aus der Sozialhilfe-Debatte kennen: Der Abstand zwischen Sozialhilfe und Niedriglohn muss so hoch sein, dass die Menschen alles tun, jede schlecht bezahlte Arbeit annehmen, um nicht Sozialhilfeempfänger zu werden. Übertragen auf den Strafvollzug heißt das: die sozialen Bedingungen im Gefängnis müssen noch viel schlechter sein als die miserabelsten Lebensbedingungen draußen.

War das eine Schillsche Attitüde oder ist dieses Denken längst „in der Mitte der Gesellschaft“ angekommen?

Fritz Sack: Das hat sich längst durchgesetzt. Ich sagte eingangs, ich beziehe mich auf die zunehmend repressive Strafgesetzgebung und das steigende Sicherheitsbedürfnis in der Gesellschaft. Angeblich lauert in jeder Ecke eine Gefahr, vor der die Bürgerinnen und Bürger nur geschützt werden können, indem reale und potentielle Straftäter weggesperrt werden. Die Gesetze werden immer mehr darauf ausgerichtet und von der Gesellschaft wird das so nicht nur akzeptiert, sondern scheinbar so gewollt: schärfere Gesetze, als Strafe und zur Abschreckung, mehr Polizeipräsenz, verstärkter Einsatz von privaten Sicherheitsdiensten, Videoüberwachung, usw.

Wieso sprechen Sie von „angeblicher Gefahr“?

Fritz Sack: Das übersteigerte Sicherheitsbedürfnis der Menschen fußt auf einer „subjektiv gefühlten“ Kriminalität, die mit den objektiven Verhältnissen nichts zu tun hat. Ich will das mal an dem Beispiel tödlicher Sexualstraftaten verdeutlichen. Ausweislich der polizeilichen Kriminalstatistik - nachzulesen in einer Publikation des Bundesjustizministeriums - haben sich diese Delikte in dem Zeitraum von 1973 bis 1998 stark reduziert, und zwar bei Opfern über 14 Jahren um 75 % und bei Kindern um 80%. Umfragen haben ergeben, dass trotz dessen die Kriminalitätsrate - gerade was Sexualstraftaten angeht - enorm überschätzt wird, und zwar von Frauen um 317 % und von Männern um 195 %. Allgemein wird die Kriminalitätsrate von Frauen um 39,9, % und von Männern um 34 % überschätzt.

Woran liegt das? Tragen die Medien, die mit Sex and Crime auf Quotenjagd gehen, dazu bei

Fritz Sack: Im Allgemeinen halte ich nicht sehr viel von der üblichen Medienschelte. Natürlich hat die vorherrschende Berichterstattung, vor allem was das Aufbauschen von Sexualdelikten angeht, Auswirkungen auf die Menschen in Bezug auf ihr subjektives Kriminalitätsempfinden. Aber meines Erachtens liegt die Hauptursache darin, dass den Menschen das Sicherheitsempfinden abhanden gekommen ist, damit meine ich, dass viele enormen Existenzängsten ausgesetzt sind. Die Menschen sehen keine Perspektive, haben ihre Arbeitsplätze verloren oder sind bedroht davon, erwerbslos zu werden. Dafür ist aber in vielen Fällen niemand persönlich verantwortlich zu machen, irgendwelche Vorstände treffen solche Entscheidungen und die Entscheidungsträger sind oftmals nicht greifbar. Ein Straftäter ist indes real vorhanden, an dem kann das Bedürfnis nach Rache konkret ausgelebt werden.

"Die beste Kriminalpolitik ist eine gute Sozialpolitik"

Rachelust gegenüber Straftätern quasi als Ventil zur Kompensation gesellschaftlicher Missstände?

Fritz Sack: Im Prinzip ja. Und um dieses Bedürfnis zu befriedigen, soll nicht nur das Strafrecht verschärft werden, sondern für Strafgefangene soll der Datenschutz außer Kraft gesetzt werden. Geplant ist die Verlängerung der Speicherfrist erhobener Daten auf fünf statt bisher zwei Jahre, Opfer sollen einfacher Zugang zu Informationen über Entlassungstermin und die Entlassungsanschrift von Tätern erhalten, Opfer von Sexualverbrechen können zudem Auskunft über Vollzugslockerungen des Gefangenen bekommen. Da wird der Gesellschaft ganz konkret der Schuldige für das Grundübel unserer Zeit - die Kriminalität - präsentiert.

Welche Alternativen zum repressiven Strafrecht bietet die kritische Kriminologie an?

Fritz Sack: Unser Konzept basiert auf sozialer Sicherheit, Jugendlichen muss eine Perspektive geboten werden, statt sie wegzusperren, aber auch Erwachsene brauchen eine gesicherte Existenz.

Das klingt ein bisschen nach der naiven 70er-Jahre-Ideologie, die stark marxistisch geprägt war, nach der jeder Mensch einen guten Kern hat, wir müssen nur fest daran glauben, und wenn doch etwas aus dem Ruder gerät, dann ist die Gesellschaft Schuld. Ist die Welt so simpel gestrickt?

Fritz Sack: Da brauchen wir gar nicht in der Mottenkiste des Marxismus zu graben, obwohl Marx u. a. laut SPIEGEL gerade eine enorme Renaissance erfährt, und dafür wird es wohl Gründe geben. Aber selbst bürgerliche Juristen wie der der berühmte Strafrechtler Franz von Liszt, Vetter des ebenso berühmten namensgleichen Komponisten, erkannte bereits vor mehr als 100 Jahren, dass die beste Kriminalpolitik eine gute Sozialpolitik sei.