Strafe ohne Maß

Die Bundesregierung will das Gesetz zur Sicherungsverwahrung von Straftätern erneut ausweiten

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Heute berät das Bundeskabinett über das Gesetz zur nachträglichen Sicherungsverwahrung von jugendlichen Gesetzesbrechern. Dieser nach den Worten von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries „schwerste Eingriff“, der dem Staat zur Verfügung stehe, wird den Richtern immer leichter gemacht. Bei dem geplanten Paragraphenwerk handelt es sich um die sechste Verschärfung des § 66 innerhalb der letzten neun Jahre. Dabei treibt keineswegs eine immer größere Ausmaße annehmende Kriminalität die Rechtspolitiker - laut jüngstem Sicherheitsbericht ist Deutschland eines der sichersten Länder der Welt - als vielmehr eine immer größere Ausmaße annehmende Berichterstattung über Kriminalität. Als „Populismus“ hat der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Wolfgang Arenhövel, das Vorgehen der Großen Koalition deshalb bezeichnet.

Nur mit der Sicherheit ist heute noch so richtig Staat zu machen. Während der Bund immer mehr einstige Hoheitsaufgaben privatisiert und damit freiwillig Steuerungsmöglichkeiten aufgibt, erweitert er seine Kompetenzen im Bereich „Law & Order“ stetig.

„Back to the roots“ scheint dabei die Devise zu lauten, hatte doch der Philosoph Thomas Hobbes die Existenzberechtigung des modernen Gemeinwesens mit seiner Fähigkeit begründet, den Menschen vor seinesgleichen zu schützen. Verzicht auf Freiheit gegen die Gewährung von Sicherheit - so formulierte der englische Denker 1651 im „Leviathan“ seinen Gesellschaftsvertrag und stattete dafür den Souverän qua Gewaltmonopol mit der Macht aus, „alle Bürger zum Frieden und zu gegenseitiger Hilfe gegen auswärtige Feinde zu zwingen“.

Über 350 Jahre später mag Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble ebenso wenig zwischen innerer und äußerer Sicherheit unterscheiden, offensichtlich wähnt er sich noch wie Hobbes in einem Krieg aller gegen alle, in dem der Mensch dem Menschen ein Wolf ist. Kaum ein Tag vergeht, an dem er nicht neue Gesetzesinitiativen ventiliert. Von der Festplatten-Durchsuchung und der Weitergabe von Fluggastdaten über den Einsatz der Bundeswehr im Inneren, die Ausweitung von Telefon- und Wohnungsüberwachung und die Schaffung von Tatbeständen wie „Verschwörung“ bis zu ein bisschen Kriegsrecht im Strafrecht durch die „Kombattanten“-Konstruktion, Erschießungen auf Verdacht und Telefonverbot für „Gefährder“ reichen seine Vorschläge. Der Imperativ der polizeilichen Gefahrenabwehr droht dabei immer mehr Freiheiten einzuschränken und schafft sich mit Instrumenten wie Unterbindungsgewahrsam und verdachtsunabhängigen Ermittlungen sowie vagen Bedrohungsprofilen wie „Gefährder“ die Möglichkeit, im Dienste der Prävention Rechte zu beschränken, bevor überhaupt Rechtsbrüche vorliegen.

Polizeirecht und Strafrecht gehen immer mehr ineinander über und fusionieren zu einem umfassenden Sicherheitsrecht. Was als passende Charakterisierung der jüngsten Vorstöße des Bundesinnenministers erscheint, schrieb das Bremer Institut für Kriminalpolitik im Jahr 2002 anlässlich einer geplanten Verschärfung der Sicherheitsverwahrung. Schäuble ist also kein Einzeltäter, sondern steht mit seiner Politik in einer Tradition, die weit hinter Otto Schily und den 11. September mit der seither verstärkten Angst vor Anschlägen zurückgeht.

Die Kritik daran hält sich in Grenzen. Ein Massenprotest gegen die Ausweitung staatlicher Kompetenzen, wie ihn die Volkszählung in den 80er Jahren auslöste, wäre heutzutage undenkbar. Das linksliberale Milieu, das ihn organisieren könnte, existiert nicht mehr; es verabschiedete sich 1996 mit dem Rücktritt Sabine Leutheusser-Schnarrenbergers als Justizministerin wegen des Beschlusses zum Großen Lauschangriff von der politischen Bühne. Entsprechend wenig Konjunktur hat heutzutage eine Position, welche die Grundrechte als Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat begreift. Der furchteinflößende Leviathan mutiert zum wachsamen „Vater Staat“, der schützend seine Hand über die Landeskinder hält.

Im Bereich des Justizwesens feiert der starke Staat schon seit Anfang der 90er Jahre ein Comeback. Belief sich die Zahl der zu unbedingter Freiheitsstrafe Verurteilten 1992 auf 37.039 Personen, so erhöhte sie sich bis 1999 um 30 Prozent auf 48.093, um 2004 wieder leicht auf 44.854 abzufallen. Proportional zur Verbrechensentwicklung verlief dieser Anstieg nicht. Die Kriminalitätsrate fiel in dem Zeitraum sogar ab: Im Jahr 2005 lag die Summe der Gesetzesbrüche unter der von 1992. Von 1971 an betrachtet, weist die Statistik zwar bis 2005 eine Verdoppelung der Straftaten aus, aber die schweren Delikte gingen zurück. Während Diebstähle, Betrügereien, Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz und Sachbeschädigungen zunahmen, sanken die Ziffern für „Mord und Totschlag“ um ein Viertel und die für „Morde im Zusammenhang mit Sexualdelikten“ sogar um 75 Prozent .

Rechtspopulismus

Und doch sind es gerade die Sexualstraftaten, die zur Begründung der Gesetzesverschärfungen nicht nur bei der Sicherheitsverwahrung dienen. Von der Boulevard-Presse mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination ausgeschlachtet, reagieren die Politiker auf die Morde leserfreundlich mit grobschlächtigen Parolen. „Wegschließen - und zwar für immer“, forderte Gerhard Schröder einst in der „Bild am Sonntag“, und Angela Merkel kritisierte in der „Bunten“ bloß, „dass diesen drastischen Worten dann nicht die entschlossenen Taten gefolgt sind“.

Dabei tut sie der trotz des Regierungswechsels 2005 für Kontinuität in der Rechtspolitik sorgenden Brigitte Zypries freilich unrecht. Die SPD-Politikerin bessert die Sicherheitsverwahrung nach fast jeder zweiten „Crime story“ nach. Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen kritisiert ein solches Verfahren scharf. „Da hat die Politik auf spektakuläre Einzelfälle sofort mit neuen Gesetzen reagiert, ohne gründlich zu untersuchen, ob man sie überhaupt braucht und ob sie sinnvoll sind. Das ist keine rationale Kriminalpolitik, sondern Populismus“, sagte er in einem Interview mit der taz und weiß sich in dieser Einschätzung mit dem Deutschen Richterbund einig. Aus diesem Grund steht er auch für politische „Anhörungsrituale“ nicht mehr zur Verfügung: „Die wahren Ratgeber der Justizpolitik sind sowieso nicht mehr die Experten, sondern die Demoskopen“, äußerte er gegenüber der „Zeit“.

Allerdings musste er in seiner Amtszeit als niedersächsischer Justizminister am eigenen Leib erfahren, wie schwierig es ist, dem öffentlichen Druck standzuhalten. Als ein Tatverdächtiger nach sechs Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen werden musste, weil der Prozess bis dahin nicht zustande kam, und er wenig später seine Freundin erwürgte, brach in den Medien eine Welle der Empörung aus, woraufhin das Justizministerium umgehend ein Gesetz zur Verlängerung der Untersuchungshaft ausarbeitete. Mit Schmach blickt Pfeiffer heute auf diese Zeit zurück: „Ich war kein Kriminologe mehr, ich war Politiker.“.

Geschichte der Sicherungsverwahrung

Brigitte Zypries hat mit dieser Rolle kein Problem. Sie bereitet heute im Bundeskabinett die sechste Erleichterung des „Für-immer-Wegschließens“ vor. Die erste geht auf das Jahr 1998 zurück. Nachdem Politiker und Experten Anfang der 90er Jahre noch ernsthaft über eine Abschaffung der Sicherungsverwahrung diskutiert hatten, brachte Kohls öffentlichkeitswirksam „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten“ getauftes Paragraphenwerk die Wende. Es hob die Befristung der Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre auf, was sie wirklich zu einer lebenslänglichen Sanktion machte, sollten denn die alle zwei Jahre anberaumten Überprüfungen keine entlastenden Resultate erbringen.

Während dafür die Hürden stiegen, senkte der Gesetzgeber die Schwellen für die Verhängung. Im Jahr 2002 ermöglichte er, Urteile auszusprechen, die den Strafvollstreckungskammern optional eine Sicherungsverwahrung zusätzlich zur Haftstrafe vorbehielten, ab 2003 galt das auch für Jugendliche. 2004 erlangte die nachträgliche Sicherungsverwahrung für solche Täter Gesetzeskraft, deren „erhebliche Gefährlichkeit“ für die Allgemeinheit sich erst in Haft herausstellt, was Einmaltäter ebenso wie Heranwachsende treffen konnte. Seit diesem Jahr fallen auch vor 1995 in den östlichen Bundesländern verurteilte Strafgefangene unter diese Regelung. Und jetzt folgt mit der „nachträglichen Sicherungsverwahrung für Jugendliche“ die sechste „Nachbesserung“ in neun Jahren, ungeachtet der Forderung des Bundesverfassungsgerichtes nach einem speziellen Jugendstrafvollzugsgesetz, das erzieherisch ausgerichtet und am Ideal der Wiedereingliederung orientiert ist.

Eingang ins Strafgesetzbuch fand der Paragraph 66 durch die Nazis - „unglücklicherweise“, wie seine Fürsprecher kleinlaut einräumen, weshalb die DDR ihn nach 1945 sofort strich. Davor waren sowohl im Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik Versuche zur Einführung der Sicherungsverwahrung gescheitert.

Zu den vehementesten Gegnern in den 20er Jahren zählte der einstige Jura-Student Kurt Tucholsky. In der „Weltbühne“ wetterte er mit Aplomb gegen die Pläne, den Richtern dieses Instrument in die Hand zu geben. „Eine solche unerhörte Erweiterung ihrer Ermächtigung ist unangebracht, gefährlich und ein Verbrechen an der politischen Entwicklung Deutschlands, die, wenn es mit diesem Gesetz Ernst wird, damit aufgehört haben wird, zu existieren“, schrieb er und redete vor allem den SPD-Parlamentariern ins Gewissen: „Gibt sich die Sozialdemokratie zu diesem Schimpf her, so hat sie damit das letzte mögliche Maß überschritten, das ihr auch der Nachsichtigste einräumen kann“.

Damals half der Appell offensichtlich noch, aber knapp 80 Jahre später kennt die SPD endgültig kein Maßhalten mehr.

Die Unverbesserlichen

Die maßlose Strafe kann Delinquenten mit einer Tatschwere ab zwei Jahren Freiheitsentzug treffen, wenn „die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich ist“, wie der entsprechende Passus im Strafgesetzbuch lautet. Zudem muss ihm ein Gutachten die volle Schuldfähigkeit bescheinigen, ansonsten kommt er zur Behandlung seines psychischen Defektes in eine forensische Einrichtung.

Ebenso wie die Anzahl der jährlich in Maßregelvollzugsanstalten Eingewiesenen, die von ca. 850 im Jahr 1976 auf über 2.500 im Jahr 2004 stieg, nimmt diejenige der Sicherungsverwahrten kontinuierlich zu. Saßen 1996 bloß 196 Personen auf unbestimmte Zeit ein, so waren es bis Ende 2006 schon 400, und angesichts der Masse an neuen Urteilen mit Haftstrafen plus anschließender Sicherungsverwahrung dürften es rasch mehr werden.

Entgegen der landläufigen Vorstellung trifft diese Sanktionsform nicht nur Sexualstraftäter; sie stellen lediglich die Hälfte der de-facto-Lebenslänglichen. Der andere Teil setzt sich aus Mördern, Gewaltverbrechern, Brandstiftern, politischen Straftätern, Dieben, Betrügern und Bankräubern zusammen. Nicht einmal letzteren, die lediglich Vermögensdelikte begangen haben, mag Brigitte Zypries den ihrer Meinung nach „schwerste(n) Eingriff“, der dem Staat zur Verfügung stehe, ersparen. „Auch ein notorischer Scheckkartenbetrüger oder Einbrecher kann sehr hohen Schaden und viel Leid anrichten“, antwortete sie auf eine entsprechende Frage der taz.

So verurteilten die Gerichte beispielsweise einen Bankräuber, der auf seiner Ganovenehre bestand und seine Komplizen nicht verraten wollte, zu Sicherungsverwahrung. Nachträglich droht sie vernehmlich Inhaftierten, die sich in ähnlicher Weise unkooperativ zeigen, Therapieangebote ablehnen bzw. sich nicht am Tüten kleben beteiligen, hinter Gittern Körperverletzungen begehen oder sich anderweitig „schlechter Führung“ befleißigen. Mit einem solchen Verhalten erweisen sich die Gesetzesbrecher aus Sicht des Staates als nicht-resozialisierbare Unverbesserliche. Der Politikermund findet drastischere Ausdrücke für diese Täter. Von „Zeitbomben“ sprach der hessische Justizminister Christean Wagner, und der ehemalige baden-württembergische Innenminister Thomas Schäuble nennt sie „Bestien“ - offenbar gibt es ein Wach- und Schließgesellschaftsgen.

Diese negative Anthropologie kreiert „Natural Born Killers“, gegen die nur noch das „Feindstrafrecht“ hilft, wie der Rechtswissenschaftler Günther Jakob den juristischen Ausnahmezustand im Gegensatz zum „Bürgerstrafrecht“ definiert hat. Die Kieler Rechtswissenschaftlerin Monika Frommel kritisiert die Sicherungsverwahrung dann auch, weil sie „zwangsläufig ‚minderwertige‘ (...) und ‚normale‘ (...) Menschen konstruiert, um selektiv sein zu können“.

Als Trennmittel dient dabei der Begriff des „Hangtäters“. Er unterstellt, es gebe eine bestimmte Disposition zu Straftaten, die in der Persönlichkeit des Delinquenten begründet läge. Wer sich in Gerichtsverfahren vornehmlich mit den Gesetzesbrechern selber beschäftigt statt mit dem Tathergang, kommt fast zwangsläufig zu einem solchen Ergebnis. „Der Charakter belastet - das Motiv entlastet“, lautet eine alte Juristen-Weisheit. Das Motiv ist nämlich stets aus bestimmten Umständen erwachsen, die in dieser Konstellation kaum wieder auftreten dürften, während das Wesen eines Menschen eine unwandelbare feste Größe darstellt. In den Urteilen zur Sicherungsverwahrung kommt nun beides zusammen. Sie gehen von so genannten Symptomtaten aus. Gleichförmige Muster aufweisend, lassen diese nach Meinung der Richter eine „notorische“ und folglich zur Wiederholung strebende kriminelle Energie erkennen, die nur noch ein „Wegsperren“ erlaubt.

Verfassungsrechtliche Bedenken

Gegen diese neue Verwahr-Mentalität äußern viele Kritiker verfassungsrechtliche Bedenken. Der „Deutsche Anwaltsverein“ erachtet die nachträgliche Sicherungsverwahrung als einen unverhältnismäßigen Eingriff in die grundgesetzlich garantierte Freiheit. Zudem hält er eine solche Haft für unvereinbar mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, weil eine lediglich auf einem Gefährlichkeitsgutachten beruhende Sanktion gegen den Artikel 5 verstößt, der eine Haftstrafe ausschließlich unter der Bedingung einer „Verurteilung durch ein zuständiges Gericht“ für zulässig erklärt. Die FDP teilt diese Auffassung und verwies 2004 in ihrer Ablehnung des Gesetzes noch auf andere Assimilationsschwierigkeiten mit der europäischen Rechtskultur: Kein Nachbarland kennt eine solche Bestrafung. Auch der Rechtswissenschaftler Jörg Kinzig hält ein „Nachsitzen“ in Haft für höchst bedenklich. Seiner Ansicht nach ist es nicht mit der Bestimmung vereinbar, wonach niemand zweimal für dasselbe Delikt bestraft werden darf.

In der Tat reißt die Sicherungsverwahrung das ganze Gefüge von Verbrechen und Strafe sowie Schuld und Sühne auseinander. Nach der gängigen Rechtsphilosophie ordnet das Strafgesetzbuch einem Vergehen einen bestimmten Strafrahmen zu und bemisst so die Schwere der Schuld, die der Straftäter dann durch seinen Haftaufenthalt sühnt. Als Strafe ohne Maß - und ohne Tat - löst die Sicherungsverwahrung diese Beziehung auf. Ihre Befürworter halten dem entgegen, bei dieser Art des Freiheitsentzuges handele es sich gar nicht um eine Strafe, sondern - wie im Falle von schuldunfähigen Kriminellen - um eine Maßregel, die keinem anderen Gebot als dem Schutz der Allgemeinheit vor Verbrechern folgt. Das Bundesverfassungsgericht schloss sich dieser Argumentation an und erklärte die Sicherungsverwahrung für verfassungskonform. „Die Menschenwürde wird auch bei langdauernder Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht verletzt, wenn diese wegen fortdauernder Gefährlichkeit des Untergebrachten notwendig ist“, urteilte es.

Praktische Einwände

Neben diesen theoretischen Vorbehalten gibt es eine Reihe praktischer Einwände. So liegen die Gutachter mit ihren Gefährlichkeitsprognosen oft daneben. 40 bis 66 Prozent der Experten beurteilen die Täter falsch, wie Kontrolluntersuchungen ergaben. Nach Ansicht des Psychiaters Dr. Norbert Leygraf täuschen sich die Fachleute sogar in acht von zehn Fällen. Der baden-württembergische Justizminister Ulrich Goll kann mit den Fehlentscheidungen leben. „Dieses Risiko gehe ich eigentlich lieber in einem Einzelfall ein, als das Risiko, jemanden vor die Mauer zu stellen, von dem ich eigentlich weiß, da passiert wieder was Schlimmes“, sagte er in einem Hörfunk-Interview.

Ein solches Wissen lässt sich aber Leygraf zufolge aus dem Verhalten eines Menschen während der Haft aber gar nicht ableiten, eine Bereitschaft zur Therapie etwa sagt nichts über die Zwanghaftigkeit eines Kriminalitätstypus‘ aus. Seiner Meinung nach führt das über den Gefangenen schwebende Damoklesschwert der nachträglichen Sicherungsverwahrung vielmehr zu Scheinanpassungen, die ihm und seinen Kollegen die Arbeit erschweren. „So kommen viele Leute in die Therapie, die es gar nicht wollen. Das wenige, was wir therapeutisch leisten können, wird somit auch noch zunichte gemacht“ .

Why Therapy?

Hardliner wie Goll suggerieren, die Gesellschaft mit dem Wegsperren von Sexualstraftätern am wirksamsten schützen zu können. Dabei zeichnen sie ein Täterprofil des absolut Bösen, das nicht der Wirklichkeit entspricht und daher die eigentliche Problematik verfehlt. Der „böse Onkel“ wird viel seltener aktenkundig als der vermeintlich unbescholtene Familienvater oder eine andere Person aus dem Nahbereich, auch bei „Mord und Totschlag“ handelt es sich zumeist um Beziehungstaten.

Eine größere Wachsamkeit das Dunkelfeld „Familie“ betreffend dürfte mehr Straftaten verhindern als alle juristischen Amokläufe der letzten Zeit zusammen. Auch ein schnelleres Reagieren bei ersten harmlosen, noch unspezifischen Anzeichen für ein gestörtes Sexualverhalten vermögen präventiv zu wirken. So beginnen viele Sexualstraftäter ihre kriminelle Karriere mit Tierquälereien, kleinen Übergriffen oder auch „ganz normalen“ Delikten, ehe sie eine Vergewaltigung begehen oder eine ähnlich schwere Tat verüben. Verfestigter als bei anderen Verbrechern ist ihr Verhalten nicht. Ihre Rückfallquote bewegt sich mit 15 bis 20 Prozent sogar leicht unter der anderer Delinquenten. Dabei variiert die Zahl von Deliktform zu Deliktform erheblich. Bei „Missbrauch innerhalb der Familie“ beträgt sie 10 Prozent. Bei „Missbrauch außerhalb der Familie“ liegt das Risiko für eine erneute Tat höher, weist jedoch in Abhängigkeit von der sexuellen Ausrichtung des Täters noch einmal erhebliche Schwankungsbreiten auf: Heterosexuelle Pädophile mit Mädchen als Opfern landen wenig häufig wieder vor Gericht als homosexuelle Pädophile mit Jungen als Opfern. Die meisten Wiederholungstäter bei Sexualdelikten finden sich mit 50 Prozent unter den Exhibitionisten. Allerdings stellen die Kriminalstatistiken leider keine verlässliche Quelle dar. Es kursieren einfach zu viele unterschiedliche Untersuchungen mit zu vielen divergierenden Angaben, die dann nur dazu einladen, das sich für seine rechtspolitischen Absichten Vorteilhafteste herauszupicken.

Wie hoch die Rückfallquote im Einzelnen auch immer sein mag, sie ist keine unbeinflussbare Größe. In den Niederlanden gelang es, die Zahl durch eine Ausweitung des Therapie-Angebots auf fünf Prozent zu senken. Aber die Bundesrepublik geht diesen Weg nicht. Sie entwickelt sich stattdessen immer mehr zu einer Strafgesellschaft, die Verweise auf die „schwierige Kindheit“ von Angeklagten mit höhnischen Kommentaren bedenkt und die Idee der Resozialisierung für ein Märchen aus uralter sozialliberaler Zeit hält.

Am Fall „Maik S.“, den die Zeit-Journalistin Sabine Rückert ausführlich schildert, wird das besonders deutlich. Wegen Vergewaltigung zu sieben Jahren Haft verurteilt, bemüht sich der Häftling immer wieder händeringend um psychologische Betreuung, wie sie die Richter in ihrem Urteil auch angeordnet haben. „Meiner Meinung nach ist genug Zeit für eine Therapie gewesen. Man spricht immer von Resozialisierung, nur dieses in die Tat umzusetzen, ist doch ganz besonders in meinem Fall wohl versäumt worden. Da frage ich mich, wie soll ich meine Straftat aufarbeiten?“, schreibt er an das Landgericht Rostock. Erst kurz vor Ende seiner Gefängniszeit zahlt sich die Hartnäckigkeit des Sexualstraftäters aus: Er erhält einen Platz in einer neu eröffneten sozial-therapeutischen Einrichtung. Die zuständige Psychologin attestiert Maik S. umgehend „Gefährlichkeit“, aber für eine Behandlung ist es zu spät. Nach sieben Jahren reinen Verwahrvollzugs kommt er frei und tötet wenig später eine 16-Jährige. Hier nun tritt Brigitte Zypries auf den Plan. „Der Fall Carolin darf sich nicht wiederholen“, mahnt die Rechtspopulistin und wirbt für eine Verschärfung der Sicherungsverwahrung. So produziert der Staat die „nicht therapierbaren“ Bestien, die er zur Legitimation seiner Strafwut braucht.

Und Maik S. ist kein Einzelfall. Obwohl seit 1998 ein Rechtsanspruch auf fachgerechte psychologische Betreuung besteht, gibt es im Strafvollzug noch längst nicht genug Häuser mit einem sozial-therapeutischen Angebot. Nicht zuletzt deshalb liegt die Rückfallquote von Strafgefangenen um ein Vielfaches über der von Vorbestraften aus dem Maßregelvollzug. Baden-Württemberg etwa hält nur 110 Plätze für 150 Bedürftige vor. Um die staatlichen Auflagen dennoch zu erfüllen, trickst das Justizministerium und versucht den Durchlauf durch eine Therapie light - Verhaltenstherapie statt Tiefenpsychologie - zu beschleunigen.

Auch was sich sonst noch so Therapie nennt, verdient oft den Namen nicht. Einmal die Woche ein einstündiges Gespräch mit einem von außen ins Gefängnis kommenden Psychologen - das reicht zur Behandlung eines Vergewaltigers kaum aus. Zudem hat sich nach Einschätzung von Norbert Leygraf ein boomender Markt für Alternativ-Verfahren entwickelt, die kaum wissenschaftlichen Kriterien entsprechen. In der Bundestagsanhörung zur Sicherungsverwahrung mahnte er qualitätssichernde Maßnahmen an, ansonsten könnten die zweifelhaften Methoden den Kurzschluss „Nothing works“ befördern.

Warum soviel Wind um eine Maßnahme, die bisher „lediglich“ 400 Personen trifft?, könnten Kritiker vielleicht einwenden. In Sachen „Todesstrafe“ würden sie nicht so argumentieren, weil die Unmenschlichkeit dieser Sanktionsform an sich, unabhängig von der Zahl ihrer Opfer, klarer zu Tage tritt, während die sukzessiven „Nachbesserungen“ der Sicherungsverwahrung ihren Charakter als kalte Wiedereinführung von lebenslänglicher Haft verschleiern. Ebenso wenig wie die Todesstrafe hat sie aber als ultima ratio des Justizwesens ein Alleinstellungsmerkmal. In der Sicherungsverwahrung drückt sie die ganze neue Philosophie des Strafens aus, und das ist es, was den heutigen Kabinettsbeschluss so beunruhigend macht.