Zarathustra-Projekt 2.0

Eine technische Deutung von Stanley Kubricks "2001" zeigt, dass auch Medienwissenschaftler geistige Höhenflüge im Blindflug zurücklegen

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Sind Computer doof?

Folgt man Bernhard Dotzler, seit zwei Jahren Inhaber des neu geschaffenen Lehrstuhls für Medienwissenschaft an der Uni Regensburg, dann muss man sagen: nicht immer oder – nicht in jedem Fall. Rechner sind von Haus aus „geistlos“, so der Medienwissenschaftler jüngst bei einem Vortrag. Sie tun nur, was ihnen ihre Erfinder vorher einprogrammiert haben. Dotzler illustriert das am wohl berühmtesten Computerhirn der Filmgeschichte, an HAL 9000 aus Stanley Kubricks Science-Fiction-Drama „2001“ aus dem Jahre 1968. Mittlerweile hat dieser laut Dotzler mutmaßlich „meistkommentierte Film der Filmgeschichte“ für die Medienwissenschaft denselben Status erlangt wie Goethes „Faust“ in der Germanistik.

Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch

Nietzsche, Zarathustra

Communication Breakdown

Das Superhirn soll eine Mission zum Jupiter leiten. Bei Ausgrabungen auf dem Mond haben Menschen einen schwarzen Monolithen gefunden, der geheimnisvolle Lichtstrahlen aussendet. Eine Gruppe von fünf Leuten, zwei Astronauten und drei Wissenschaftler im Kältetiefschlaf, bricht zum Jupiter auf, um den rätselhaften Funksignalen auf die Spur zu kommen. Da die Mission zu bedeutend ist, um sie von Menschenhand führen zu lassen, stellt man sie unter die Oberaufsicht HALs. Nur diese, dem Menschen weit überlegene Maschine kann die „Odyssee“ in die unendlichen Weiten des Raumes zum Erfolg führen. Dotzler führt aus, dass HAL trotz aller Rechenkapazität und -geschwindigkeit „grandiose Ignoranz“ verkörpert. Nochmals werde in dem Film „heillos optimistisch“ die Geschichte der KI-Forschung nacherzählt, wie sie eine Zeitlang Eingang in die Feuilletons gefunden hat. Als das eigentliche „Gehirn“ der Mission vermag die Maschine alles, was die Forscher zur Künstlichen Intelligenz sich mal erträumt haben: Sprachverstehen, künstliches Sehen und auch – die Entwicklung von Gefühlen.

Bernhard Dotzler

Publik wird ihre „abgrundtiefe Dummheit“ erst, als die Maschine ihren Auftrag preisgibt. HAL meldet irrtümlich und hinter dem Rücken der Besatzung eine Funkstörung zur Erde. Dadurch verliert er das Vertrauen der Crew. Sie beginnt, an seiner Verlässlichkeit zu zweifeln, sodass dem Astronauten David Bowman, dem einzig Überlebenden, schließlich nichts anderes übrig bleibt, als HAL abzuschalten.

Welcome To The Machine

Die „Geistlosigkeit“ kybernetischer Maschinen zeigt sich in HALs Eigenmächtigkeit. Seine Intelligenz beschränkt sich auf die Ausführung bloßer Imperative, auf zählen, rechnen und exekutieren. Kommt es aufs Urteilen an, auf Bewertung oder Kompromissfindung, auf Schmeicheln, Verführen oder Abwägen, muss die Maschine die Waffen strecken. Das Superhirn kann nur innerhalb technischer Funktionskreise operieren, nicht aber außerhalb. Für den Menschen ist das kein Grund zum Jubilieren. Gewiss beinhaltet HAL all das, was der Mensch im Jahr 1968 technologisch zu schaffen vermag. Doch Abschalten kann der Mensch die Maschine nicht. Längst ist er auf die Funktionstüchtigkeit und Zielführung der Rechner angewiesen. Sie hat sich zum allwissenden System entwickelt, das mit panoptischem Blick alles überwacht und kontrolliert, sogar den Tiefschlaf der Wissenschaftler. Weil Bowman das weiß, schaltet er auch nur HALs Gehirn-, nicht aber auch seine Steuerungsfunktionen aus, ohne die das Raumschiff manövrierunfähig im All schweben würde.

2001 – Odyssee im Weltraum (Bilder: Warner)

Vierzig Jahre später sind die Maschinenrechner für die moderne Gesellschaft unverzichtbar geworden. Sie sind die Schmier- und Betriebsmittel, auf denen Wissen, Denken und Handeln beruht. Ohne „Control“ (Schalt- und Regelkreise) gäbe es weder Erinnerung noch Gedächtnis, weder Kommunikationen noch Geldtransfers und Terroristenverfolgung. Ja selbst die Prognosen zum Klimawandel oder die Strom- und Wasserversorgung von Häusern, Städten und Gemeinden ist nur mit Hilfe der Computer zu berechnen oder zu gewährleisten. Die menschliche Evolution, die Kubrick in „2001“ im Schnelldurchlauf abspulen lässt, hat sich verselbständigt. Sie katapultiert Bowman in die Nachgeschichte. In einer viertelstündigen Sequenz wird er durch ein psychedelisches Höllental aus Farben, Tönen und Zeichen gejagt, um unvermittelt in einem Schlafzimmer aufzuwachen. Dort, inmitten lauter Insignien des Rokokos, beginnt er, auch bedingt durch die Präsenz des schwarzen Monolithen rasend schnell zu altern, aber nur, um danach als Cosmic-Baby neu geboren zu werden. Fortan schwebt es, umgeben von einer Einhülle, die ihm Schutz, Sicherheit und Geborgenheit gibt, durch eine neue, ihm unbekannte Welt, auf die es ebenso fasziniert wie neugierig blickt.

The Lunatic is in my Head

Erstaunlicherweise spielen weder die religiöse Botschaft des Films noch die psychedelische Sequenz in den Überlegungen Dotzlers eine Rolle. Zumal es auch die Jahre des „Summers of Love“ sind, der gerade vom Kultursender ARTE ausführlich gefeiert und gewürdigt wird. Es ist die Zeit, als Ken Kesey und seine Merry Pranksters mit dem Bus durch die Staaten fahren und LSD an Interessierte verteilen. Und es ist die Zeit, wo eine kulturelle Avantgarde glaubt, dass durch den Konsum von Drogen eine Erweiterung des Bewusstseins und die Konstruktion einer besseren Realität möglich sind.

Ganz offensichtlich scheint Kubrick mit solchen Ideen zu spielen. Er hofft, das Paradies durch den Hintereingang wieder betreten zu können. Nur so lässt sich das fast eine Viertelstunde dauernde Farbenspektakel auf der Leinwand erklären. Und nur so bekommt die Anspielung auf die Zeit des Rokoko, wo Herren noch Herren und Sklaven noch Sklaven sind und die Aufklärung noch in den Kinderschuhen steckt, einen Sinn.

2001 – Odyssee im Weltraum

Friedrich Kittler, Lehrmeister Dotzlers, hatte dafür noch ein waches Verständnis. In der Materialität und vor allem in der mathematisch formulierbaren Technologie von Kommunikationsmedien sah er beides, die Verheißung von Wahrheit und von existenzieller Intensität. Nur dort, wo die Helden Novalis’, Tiecks und Hoffmanns das Kristalline und Mineralische der unterirdischen Höhlen, Bergschächte und Steinwüsten des Gebirges aufsuchen, wo „der Geist die Materie berührt und jegliche Intensität lebt“ (Deleuze & Guattari), wird man der „Selbstentbergung des Seins“ (Martin Heidegger) teilhaftig. Kittler hat dies an mehreren Beispielen vorgeführt, am Zusammenhang von Medien und Drogen in Thomas Pynchons Roman über WK II etwa, am Krieg gegen den Vietcong, der im Drogenrausch und begleitet vom Sound Wagners und den Doors vernichtet wird, an den Hörstürzen, die die E-Gitarre von Jimi Hendrix den Zuhörern zufügt, oder auch an den entrückten Klängen, die Pink Floyd in Grantchester Meadows komponieren, jenem Vorhof, in dem Alan Turing einst in den vergifteten Apfel biss.

There is no Dark Side on the Moon

Von solchen Biofeedback-Systemen, die das Symbolische mit dem Realen unter Umgehung des Imaginären unmittelbar verschalten, wollen die Schüler Kittlers nichts mehr wissen. Sie sind „bildersüchtig“ geworden und interessieren sich meist nur noch für das technische Know How, für die Geschichte der Rechner, ihre Speicherleistung und Rechenkraft sowie ihren medialen Schein (Benutzeroberfläche), aber nicht mehr für jenen bewusstseins- oder seinsphilosophischen Kontext, in den Natur und Technik, Produktion und Technologie eingebettet sind und aus denen sie zuallererst auch hervorgehen.

2001 – Odyssee im Weltraum

Dies gilt auch noch für die verkappte religiös-theologische Botschaft des Films, die vor allem Ehrfurcht vor der Schöpfung erzeugen will. Wer sich den an Taten und Worten armen Film nochmals zu Gemüte führt, dem wird die „kreationistische“ Message des Films nicht verborgen bleiben. Vor jedem Quantensprung, den die Evolution nimmt, greift der Monolith aktiv ins Geschehen ein. Taucht er auf, verwandelt sich Nicht-Wissen schlagartig in neues Wissen. Dotzler deutet die Szenen zunächst in Anlehnung an William Burroughs bekanntes Schlagwort als „virus from outer space“ extraterristisch, später dann mit Lacans Lehrsatz, dass die Sprache das Subjekt macht.

Den Übergang Affe-Mensch-Rechner an der „Diktatur des Signifikanten“ (Félix Guattari) festzumachen, ist aber reine Spekulation. Ebenso gut könnte man die Geschichte „kreationistisch“ deuten: Der Monolith ist der „Heilige Geist“, den Gottvater gesandt hat, um dem Menschen ein Licht (Geist) anzuzünden, das ihn aus seiner selbstverschuldeten Dummheit herausführt.

Fashionable Non-Sense

Auf solche nicht-technischen Fragen will sich der Medienwissenschaftler nicht einlassen. Ihn interessiert eher das Sternenkind, in dem er eine Parallele zur Geburt Supermans in der gleichnamigen Comic-Serie entdeckt. Vergleicht man Comic und Film, dann frappieren auf den ersten Blick die Ähnlichkeiten. Aussehen, Form und Gestalt gleichen sich wie ein Ei das andere. Nun weiß aber auch jeder exzessive Superman-Konsument, dass im Comic mehrere Varianten und Erzählungen gepflegt werden, die von der Geburt Supermans künden. Eine Gleichsetzung von Comic und Film ist daher nicht unbedingt schlagend.

Gewiss könnte man das als Petitesse abtun, zumal sich der Medienwissenschaftler um eine neue Großerzählung müht, die uns die Evolution noch einmal anders erzählen will, diesmal aus der Sicht einer extraterristischen Intelligenz, die sich „Medienwissenschaft“ nennt. Gleichwohl wirft sie ein bezeichnendes Schlaglicht auf Technik und Methodik eines Genres, das Wissenschaft und nicht Literatur sein will. Medienwissenschaft stiftet Bezüge und konstruiert Identitäten dort, wo nach genauerem Hinsehen keine zwingenden Bezüge zu ziehen oder Identitäten zu erkennen sind. Häufig bezieht sie sich auf Mythologien, Erzählungen und Adressen, ohne den ideengeschichtlichen Hintergrund und Kontext, in denen diese geboren oder verwendet werden, hinreichend zu berücksichtigen.

So gesehen muss sie, solange sie persönliche Vorlieben und Marotten pflegt und sich nicht jener philosophischer Bordmittel vergewissert, die sie verwendet, fürchten, nicht nur jenen „eleganten Unsinn“ zu exekutieren, den Alan Sokal und sein französischer Kollege Bricmont den Vätern der deutschen Medientheorie, Foucault, Derrida und Lacan ins Stammbuch geschrieben haben, sie läuft auch Gefahr, genau jene Dummheit und Geistlosigkeit fortzuschreiben, die sie HAL und allen von ihm lernenden Maschinen (neuronale Netze) unterstellt. Dass sie bis heute noch immer keinen rechten intellektuellen Bezug zu Netzwerken, Mitmach-Web und Kommunikation gefunden hat, nur von Master und Slave, aber nicht auch von deren Umkehrung sprechen kann, steht wiederum auf einem anderen Blatt. Davon zu sprechen, ist jetzt nicht der richtige Ort.

Set the Control for the Heart of the Sun

Das gilt auch und erst recht für die Metaerzählung selbst. Dotzler feiert den Film ganz im Sinne der zeitgenössischen Kritik als „ersten nietzscheanischen Film“. Überaus pathetisch hebt der Film mit Richard Straussens Vertonung des „Zarathustra“ an. Sie begleitet die Heraufkunft der Sonne, die „Zarathustra“ als „großes Gestirn“ feiert, und später, ebenso pompös, auch den Abspann des Films. Und nach dem berühmtesten Matchcut der Filmgeschichte, dem unvermittelten Sprung vom Menschen der Savanne ins Jahr „2001“, wiegen sich die Raumgleiter im Takt des Donauwalzers. Es hat den Anschein, als ob sie einen Befehl Nietzsches ausführten und daher gelernt hätten, im All schwerelos zu tanzen.

2001 – Odyssee im Weltraum

Die Analogienbildung ist aber aufgebraucht, wenn aus den Begleitumständen des Films auf die Sache selbst geschlossen und das Medium zur Botschaft gemacht wird. Zweifellos kommt die Evolution des homo sapiens mit der Geburt des Sternenkindes zum Abschluss. Die Frage ist nur, ob das Ende des Menschen nun seine Größe oder seine Nichtigkeit zeigt? Für den Medienwissenschaftler ist die Sache unstrittig. Mit der Turingmaschine, die alle Denk- und Rechenleistungen fortan begleitet haben wird, hat der Mensch eine Intelligenz geschaffen, die der Größe des „Gestirns“ angemessen ist. Die Sonne hat endlich einen ebenbürtigen Partner gefunden, „dem zu leuchten ihr ein Glück sein kann“.

Nietzscheanian Project

HAL ersetzt das Wissen der Menschen von sich und der Welt. Er ist nach Ansicht Dotzlers der „Übermensch“, den sich Nietzsche in seinen kühnsten Vorstellungen erträumt hat. Im System der Maschinen kommt jenes Zarathustra-Projekt zu sich, das die Moderne von Anfang an begleitet hat. Unsichtbar hinter tief gestaffelten Benutzeroberflächen absolviert es fortan als Hirn und quasi „göttliches Auge“ seine Dienste. Die „anthropologische Scham“ (Günther Anders“, die den Menschen angesichts einer dermaßen verdichteten Rechenpower befällt, versetzt ihn wieder in den voraufklärerischen Zustand des Rokoko.

Philologisch gesehen hat diese Deutung mit Nietzsches „Lehre vom Übermenschen“, sieht man von der entwendeten Metapher ab, wenig zu tun. Dass Menschen ihren Geist auf technische Datenträger ablegen, sich lernende Maschinen zu einer „Gesellschaft des Geistes“ (Marvin Minsky) auswachsen und den „Übermenschen“ repräsentieren, blieb dem Philosphen fremd. Hätte er davon erfahren, hätte er darüber allenfalls sein tolles Gelächter angestimmt. Bei Lichte besehen ist Nietzsches Zarathustra-Projekt nämlich genau das Gegenteil. Weder ist es ein „Entwilderungsprogramm“ noch verläuft es über Abstraktionen. Zwar ist es ein typisch modernes Selbstermächtigungsprogramm (Martin Heidegger), das den Menschen selbst mitsamt seiner Neigung zur metaphysischen Selbstüberhöhung und Selbsterklärung zum Problemfall erklärt. Doch bleibt es eines, das den „Verwilderungstendenzen“ des Menschen durch die Medien- und Massenkultur abschwört und auf echte Menschenbildung abzielt. Es ist mithin kein „Hirn-Werden“, sondern ein „Tier- und „Intensiv-Werden“, das ausschließlich auf die Physiologie des menschlichen Körpers bezogen bleibt. Folglich geht es darin um Biologie, um Pharmazie, Medizin und Genforschung, und gerade nicht um die „extensions of man“ (Marshall McLuhan), um Maschinen, Rechnerlogik und Digitaltechnik. Wer mit der Lehre des „Übermenschen“ kokettiert oder zündelt, muss daher am Menschen selbst ansetzen, an jenem Tier also, von dem Nietzsche sagt, dass es das erste ist, das „versprechen“ kann.

Zarathustra-Project

An der Sache näher dran als der Medienwissenschaftler ist der Philosoph und Anthropologe. Wir erinnern uns. Kurz vor der Jahrtausendwende lieferte Peter Sloterdijk auf Schloss Elmau (Elmauer Rede) eine Neudeutung von Martin Heideggers „Humanismusbrief“, den dieser nach dem Krieg an seinen französischen Bewunderer Jean Beaufret gerichtet hat. Angesichts neuer gen- und biotechnologischer Möglichkeiten würden Menschen alsbald Gefahr laufen, unweigerlich „auf die aktive oder subjektive Seite der Selektion geraten, ohne dass sie sich willentlich in die Rolle des Selektors gedrängt“ hätten. Wer solchen „Züchtungsvisionen“, die nicht zufällig an Nietzsches erinnern, rechtzeitig gegensteuern wolle, der käme nicht umhin, „das Spiel aktiv aufzugreifen und einen Codex der Anthropotechniken zu formulieren, welche akzeptabel sind und welche nicht“.

Was hier als Warnung und Mahnung vor den Konsequenzen der Genforschung an die Politik und die Wissenschaft gedacht war, verwandelte sich alsbald mittels Kommentierung in sein Gegenteil (Zarathustra-Projekt). Sloterdijk wurde unterstellt, für die Selbstoptimierung des Menschen zu plädieren. Damit die Evolution nicht blindwütig abläuft, sollte ein Elitenverbund aus Philosophen, Evolutionsbiologen und Hirnforschern mittels Selektion und Züchtung die genetische Revision der menschlichen Gattungsgeschichte einleiten. Durch bewusste Ausmerzung und gezielte Förderung bestimmter Gene werde die Zarathustra-Fantasie vom Übermenschen neu bekräftigt.

Keinesfalls soll es darum gehen, diesen alten Streit neu zu befeuern. Wer sich jedoch auf Nietzsches diffusestes Geheimnis einlässt, das er der Nachwelt hinterlassen hat, muss sich vor allem vergewissern, ob Menschenbild und Menschenbildung, die er im Auge hat, nicht kleiner geraten als der gegenwärtige Mensch schon ist. Nicht die „Zähmung“, Verkleinerung und „Verhaustierung“ ist Nietzsches Thema, sondern seine Vergrößerung durch Selbstbejahung und die Freisetzung starker Kräfte. Jenseits humanistischer Harmlosigkeit geht es Nietzsche vor allem um die Abschaffung jener Tugendmoral, die „den Wolf zum Hunde macht“. Den Weg dazu findet er nicht in der Abstraktionsfähigkeit des Menschen, sondern in anthropologischen Konstanten, in seiner „biologischen Offenheit“ und „moralischen Ambivalenz“.

Kraftmeierisch, furchtlos, gefährlich

Freilich gibt es auch den postmodernen Nietzsche, den Philosophen des Pop, der Subkultur und der Inszenierung, der mit Maske, Schminke und Mimikry spielt, dabei das gute Leben predigt und zum Lustwandeln in der postmodernen Interfacekultur auffordert. Und gewiss symbolisiert der Eigenname Nietzsche die Einheit einer Differenz, die den Beobachter dazu einlädt, sich bei ihm wie in einer Werkstatt zu bedienen, sich dort je nach Geschmack, Laune oder Wertgefühl das herauszuholen, was einem gerade so gefällt.

Der Betrüger, der die „schönen Trugbilder“ herbeiruft, die Welt verschönern, verzaubern und wieder zur Fabel machen will, ist aber nur der „weiche“ Nietzsche. Der Hardcore- Nietzsche hält für Demokratie, Zukunft und Kultur eine Reihe höchst unangenehmer Wahrheiten bereit. Weswegen er auch als ein genuiner Vordenker des räuberischen Kapitalismus gelten kann. Da ist zum einen der „Kraftmeier“, der freien Wettbewerb, dynamische Konkurrenz und Ellbogenmentalität bejaht, der den Rückzug des Wohlfahrtsstaates begrüßt und der statt einer Ökonomie von Selbstbewahrung und Selbsterhalt (Luhmann) eine Maximal-Ökonomie des Verzehrs oder Verbrauchs (Bataille) lehrt. Da ist sodann der „Furchtlose“, der die Werte der Demokratie, des Gemeinsinns und Gemeinwohls verabscheut, im Gleichmachen, Gleichstellen und Mitmenschlichen nicht bloß „die größte aller Lügen“, sondern auch eine Verkleinerung, Erniedrigung und Demütigung des Menschen sieht. Erst im „Herr- und Stärker-werden-wollen“, „im Verletzen, im Vergewaltigen, im Ausbeuten und im Vernichten“ erblickt er das Wohl und die Zukunft der Kultur. Und schließlich ist da noch der „Gefährliche“, der Biopolitiker und Eugeniker, der am liebsten alles Kranke, Missratene und Lebensuntaugliche ausmerzen und eine neue „Rangordnung der Individuen“ installieren will, die auf gesunden und lebensfördernden Werten gründet.

Sound of Transhuman

„Lernt mich gut lesen!“, diese Regieanweisung, die der Philosoph seinen Texten mitgibt, scheint bei Biotechnologen, Pharmakologen und Schönheitschirurgen angekommen zu sein. Obwohl nur die wenigsten die Schriften über „die Starken der Zukunft“ gelesen haben dürften, kommen ihnen Lehre und Idee vom Übermenschen zupass. Nicht nur, weil die rasanten Fortschritte in Biologie, Medizin und Medientechnik die Fantasien von Robotikern, Programmierern und Bio-Designern anregen. Sondern auch, weil sie den Metabolismus von Lebenspolitik, Selektion in vivo und gentechnischer Daseinsvorsorge beflügeln. Längst fummeln diese neuen „Techniker der Macht“ an der Erbsubstanz des Menschen herum, sie pumpen Brüste und Penisse mit Silikon auf oder sorgen mit Medikamenten dafür, dass er über Gebühr leistungsfähig wird (Eine Line zum Menschenpark). Das hohe Lied, das dabei auf den freien Unternehmer, einen anarchischen Markt und den Kampf ums Dasein gesungen wird, ist aber nichts anderes als der passende Begleitsound zum transhumanen Zeitalter. Wo Alteuropäer noch immer kryptofaschistische Gesinnungen vermuten, predigen libertäre Geister schon das Laufen- und Wachsenlassen der Evolution in und außerhalb der Maschinen. Genomics, Bioinformatik und Neo-Eugenik bereiten die Experimentier- und Spielfelder, um Körper und Geist upzudaten und der sozialen Evolution chirurgisch-technisch auf die Sprünge zu helfen.

Überschüssige maskuline Kräfte

Auf den Freigeist Nietzsche berufen können sie sich dabei allerdings kaum. Für Ärzte, Priester und Wunderheiler hatte der Solitär bekanntlich nur Spott und Hohn übrig, denselben, den er auch über Robotiker, Schönheitschirurgen oder Biotechnologen ausgießen würde, wenn er sie noch erlebt hätte.

Der Übermensch lauert, wenn man Nietzsche folgt, eher an anderer Stelle, dort, wo sein „Tier-Werden“ niemand erwartet, möglicherweise in den schwarzen Löchern der vernetzten Weltgesellschaft. In den Exklaven und Favelas der Global Cities sammeln sich jene marginalisierten Körper, die die wissenschaftlich-technische Zivilisation und der räuberische Kapitalismus ins Sein wirft, jene Kräfte also, die mit dem Tempo, das Vernetzung und Digitalisierung vorgeben, nicht mehr mithalten wollen oder können und die keinen Bock mehr haben, als Konsumkrüppel, Lohnknechte und digitale Arbeitssklaven zu enden.

Nietzsches ebenso schlichte wie riskante Utopie ist, dass der selektive Prozess der Evolution bald inkommensurable, nicht-verwertbare und nicht-kommunizierbare Kräfte, Affekte und Intensitäten ausscheidet, aus denen alsbald „eine Rasse mit eigener Lebenssphäre, mit einem Überschuss von Kraft für Schönheit, Tapferkeit, Cultur“ empor steigt, die „stark genug“ ist, der „Tyrannei des Tugend-Imperativs“ zu entsagen und eine andere, höhere Kultur einzuleiten.

Fight Club, der Film von David Fincher (Die Suche nach dem Nullpunkt) nach der Vorlage von Chuck Palahniuk, gibt einen Vorschein darauf, wie man sich den Aufstand der Affekte, die Heraufkunft dieser unproduktiven Kaste vorstellen könnte, die Nietzsche weissagt. Der Club ist bekanntlich ein Treibhaus für Namenlose, für blutende Körper und für Werte und Regeln, die sich qualitativ von denen der multikulturellen Global Business Class unterscheiden. Spiegel, Bildschirme und mediale Oberflächen sind zerschlagen, nur Schmerz, Wundmale und die Höhen und Tiefen der Intensität zählen. Im gewalttätigen Kampf Mann gegen Mann und im Überwältigen- und Verletzen-Wollen werden die Starken und Furchtlosen geboren, jener „Kraft-Überschuss“ also, der „zur Bildung eines anderen menschlichen Typus“ führt und die „Umwertung der Werte“ erzwingt.

Monströse Subjektivitäten

Diese „Gegen-Selektion“ (Pierre Klossowski), die der entfesselte Kapitalismus schafft und von den „Philosophen der Zukunft“ aktiv beschleunigt werden soll, hat herzlich wenig mit den Vorstellungen von Biopolitikern gemein. Die Zukunft gehört laut Nietzsche nicht der Maschinenintelligenz, sondern monströsen Subjektivitäten: Blade-Runnern, Kriegern und Menschenmaschinen.

Was man sich darunter vorstellen muss, kann man bisweilen im Radsport, beim Skilanglauf oder im Leichtathletikstadion beobachten. Was uns diese Körper-Boliden im Gegensatz zu ausdruckslosen Maschinenintelligenzen wie HAL oder TERMINATOR II so sympathisch machen, ist weniger die Konstanz, Präzision und Zielführung, mit der sie Siege, Titel und Rekorde einfahren. Vielmehr sind es ihr Blut und Schweiß, ihre Tränen der Freude, der Wut oder der Enttäuschung, die uns faszinieren und zum Mitfiebern animieren.

Wir wollen die blutenden Schürfwunden am Gesäß von Alexander Winokurow durch die Radlerhose blitzen sehen, am besten in Großaufnahme. Und wir wollen sehen, wie er sich inmitten der ASTANA-Mannschaft bei seiner Aufholjagd am Berg quält, wie er dabei flucht, schwitzt und schimpft. Moderatoren wie Marietta Slomka, deren Gesicht bis ins Detail gescreent ist und jede Gefühlsregung tunlichst vermeiden will; „Kannibalen-Sportler“ wie Lance Armstrong oder Michael Schuhmacher, die ihre Gegner emotionslos verzehren, werden zwar ob der Kühle ihrer ausgefeilten Strategie oder Schönheit bewundert, aber von uns nicht geliebt. Allein schon wegen dieses „Gefühlsmatsches“ wird die Zukunft eher den Menschenmaschinen gehören als den Maschinenmenschen.