Virtuelle und reelle Taten

Der Prozess gegen den "Cyber-Terroristen" Redouane El-H.

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Am Mittwoch begann vor dem Oberlandesgericht in Schleswig der Prozess geben einen Marokkaner. Die Anklage der Bundesanwaltschaft lautet auf "Unterstützung" der al-Qaida und Gründung einer terroristischen Vereinigung. Für Oberstaatsanwalt Matthias Krauß hat das Verfahren "Pilotcharakter". Redouane El-H. soll nämlich fast alles, was ihm vorgeworfen wird, im Internet begangen haben.

Bei dem Prozess soll nicht nur eine halbe Million Dateien von der bei einer nicht-virtuellen Hausdurchsuchung beschlagnahmten Festplatte des Angeklagten als potentielles Beweismaterial dienen, sondern auch zahlreiche Chat-Protokolle, die aus der Überwachung seines Internetanschlusses stammen. Außerdem seine mitgeschnittenen VoIP-Telefonate.

Redouane el-H., der mit einem Studentenvisum einreiste, sich dann aber, wie viele seiner Landsleute, als "sexuelle Müllabfuhr" betätigte und eine Deutsche heiratete, um an ein Aufenthaltsrecht zu gelangen, soll die Terrororganisation zusammen mit einem anderen Marokkaner und einem Jordanier (die beide in Schweden festgenommen und nach Deutschland ausgeliefert wurden) via Internet gegründet haben. Ziel sollte der "Dschihad" im Sudan sein. Gegen wen man dort genau "Dschihad" führen wollte, bleibt eine interessante Frage: Im Darfur-Konflikt kämpfen Islamisten von der Regierung gegen Islamisten vom JEM.

Dass ihm auch finanzielle Unterstützung der al-Qadia vorgeworfen wird, deutet darauf hin, dass er seine Aktivitäten möglicherweise nicht ganz als eine Art spannendere World-of-Warcraft-Alternative sah, bei der man sich 13 Euro im Monat sparen kann. Auch seine Ausreisevorbereitungen in Richtung Sudan überschreiten – sofern die Vorwürfe zutreffen – die Schwelle vom Virtuellen zum Reellen. Gegen Redouane El-H. spricht auch sein Konversionserlebnis 2003, sein plötzlicher Bruch im Lebenswandel, nach dem er keinen Alkohol mehr trank, selbst geschriebene Gedichte verbrannte und regelmäßig in einer Moschee betete. Erst danach gründete er eine Kombination aus Internetcafé und Callshop. Eines der stärksten Indizien ist, wie die Fahnder auf ihn aufmerksam wurden: Er nahm Kontakt zur Frau des 9/11-Terroristen Ramsi Binalshibh auf, die er im Auftrag Binalshibhs zur Ausreise bewegen sollte.

Bedenklich stimmt allerdings, wie sehr das Virtuelle von der Staatsanwaltschaft in der Anklage mit dem Reellen vermengt, ja, selbst zum Reellen erklärt wird: Etwa, wenn dem Marokkaner vorgeworfen wird, Osama bin Laden über das Internet einen "Treueschwur" geleistet zu haben. Als vor vielen Jahren die erste Website für Online-Beichten aufkam, wurde es ein beliebter Sport, dort die abstrusesten Verbrechen vorzubringen – ohne Ironietags, versteht sich; aber trotzdem ohne diese Taten wirklich begangen zu haben. Und auch ohne an irgendeine spirituelle Wirkung dieser Beichte zu glauben.

Von einem Teil der von der Bundesanwaltschaft vorgebrachten Vorwürfe ist es nur ein kleiner Schritt bis hin zum reinen "Informationsdelikt" – bisher wurden solche Informationsdelikte nur in wenigen Ausnahmefällen umgesetzt: in den 1990er Jahren bei der Kinderpornographie und vor vier Jahren mit der "Urheberrechtsreform". Derzeit ist eine Tendenz beobachtbar, die in Richtung einer radikalen Ausweitung dieser Informationsdelikte geht: So soll etwa der Abruf von "Bombenbauanleitungen" im Internet strafbar gemacht werden.