Betrug am Bürger

Von der EU-Verfassung zum Reformvertrag

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Schnell soll es gehen. Bis zum Treffen der EU-Regierungschefs im Oktober soll der Reformvertrag unter Dach und Fach sein, fertig zur Ratifizierung in den Parlamenten, ganz nach den Vorgaben des Abschlussgipfels der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Juni. Nur in Irland dürfen die Bürger abstimmen, vielleicht auch in Dänemark, wo die Regierung die Entscheidung über ein Referendum noch bis zum Oktober hinauszögern will.

In den Niederlanden fordert die Sozialistische Partei eine Volksabstimmung. Sie hatte 2005 für ein „Nee“ zum Verfassungsvertrag mobilisiert, verbuchte im Jahr darauf beachtliche Wahlerfolge und sitzt seitdem als drittstärkste Kraft im Parlament. Das Verfassungsgericht in den Niederlanden wird darüber entscheiden. In Frankreich wird es mit dem im Mai gewählten Präsidenten Nicolas Sarkozy keine Volksabstimmung mehr geben. Damit geht eine Hoffnung in Erfüllung, die der Vizepräsident der EU-Kommission, Günter Verheugen, schon am Abend des gescheiterten französischen Referendums im Mai 2005 hegte: Ein Machtwechsel sollte die Grande Nation wieder auf Kurs bringen.

Der Name „EU-Verfassung“ ist seit einem Monat Geschichte, eine gemeinsame Hymne und Fahne sind es auch. Grundlage für den Reformvertrag ist nicht mehr der Verfassungsvertrag, sondern sind die bestehenden Verträge über die Europäische Union und die Europäische Gemeinschaft. Dennoch enthält der Reformvertrag die Kernelemente des gescheiterten Verfassungsvertrages, die von Franzosen, Niederländern und vielen anderen, die nicht abstimmen durften, kritisiert wurden: Er sieht keine Sozialunion vor und hält stattdessen an der einseitigen, wirtschaftsliberalen Ausrichtung der alten Verfassung fest. Auch die ambitionierten Bestimmungen zur Militarisierung der Europäischen Union, wie zum Beispiel die berüchtigte Aufrüstungsverpflichtung, sollen übernommen werden. Gewaltenteilung, die Grundlage jedes demokratischen Gemeinwesens, soll es nach wie vor nicht geben. Von der groß angekündigten Beteiligung der Bürger an der Reform der EU-Verfassung kann auch keine Rede sein. Die Regierungen der Mitgliedsstaaten haben sie ausgehandelt – ohne Beteiligung der Öffentlichkeit und der Parlamente. Im Wesentlichen bleibt mit dem ersten Entwurf des Reformvertrages alles beim Alten.

Der Betrug an den Bürgern, die ja nicht wegen der Flagge mit den gelben Sternen und Beethovens Neunter „Non“ und „Nee“ zum Verfassungsvertrag gesagt haben, soll mit einigen Taschenspielertricks kaschiert werden. So ließ sich Nicolas Sarkozy als Sieger in Paris feiern, weil es ihm gelungen sei, den „freien und unverfälschten Wettbewerb“ als Ziel der Union aus dem Vertrag zu streichen. Damit wollte er den Vorbehalten französischer Verfassungsgegner Rechnung tragen. Doch den freien Wettbewerb – und damit eine neoliberale wirtschaftliche Grundordnung - haben die Regierungschefs auf dem deutschen Abschlussgipfel im Juni noch in einem Zusatzprotokoll festgeschrieben. Darin heißt es, „dass zum Binnenmarkt ein System gehört, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“. Ohnehin sei der freie und unverfälschte Wettbewerb schon in zahlreichen Paragraphen des EG-Vertrages und durch Urteile des Europäischen Gerichtshofes de facto als Ziel verankert, beruhigten deutsche Politiker ihre Freunde aus der Wirtschaft in einschlägigen Zeitungen.

Eine öffentliche Debatte über den Reformvertrag ist offensichtlich nicht erwünscht. Deshalb soll er nicht nur schnell zur Abstimmung gebracht werden, sondern er soll auch bewusst „unlesbar“ gehalten werden. Das jedenfalls behauptet Guiliano Amato, der italienische Innenminister. Der Europapolitiker und frühere italienische Premierminister muss es wissen: Er führte während der sogenannten Nachdenkphase seit den gescheiterten Referenden eine Gruppe von sechszehn Politikern an, die den Auftrag hatte, eine vereinfachte Version des Verfassungsvertrages zu erarbeiten.

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