"Ich hab‘s mir nicht ausgesucht"

Ergebnisbericht einer Studie zu den Auswirkungen von Hartz IV auf die Betroffenen

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Von Ende März bis Ende September 2006 hat die Sozialwissenschaftlerin Anne Ames im Auftrag des Zentrums Gesellschaftliche Verantwortung (ZGV) der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau eine Fragebogenerhebung bei Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II (ALG II) durchgeführt. Ziel der Erhebung war es, die Umsetzung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) und deren Auswirkungen aus der Sicht und dem Erleben der Betroffenen zu erkunden.

Der Ergebnisbericht liegt nun unter dem Titel „Ich hab es mir nicht ausgesucht" vor. Bereits an zweiter Stelle der am schwersten erlebten Entbehrungen der Betroffenen, so eins der zentralen Ergebnisse, „steht (…) (dabei) die Ernährung. Offenbar sparen sich viele (…) die Ausgaben für Dinge, die im Regelsatz nicht vorgesehen sind - etwa eine Monatskarte für den Stadtverkehr, das Abonnement einer Tageszeitung, Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenke - buchstäblich vom Munde ab“.

"Hartz IV wird längst wie eine Selbstverständlichkeit behanelt"

Warum haben Sie dabei ausgerechnet die subjektive Sicht der Betroffenen untersucht?

Anne Ames: Spontane Gegenfrage: Wieso sollte ausgerechnet diese Sicht nicht untersucht werden? Schließlich sind die Betroffenen die Experten ihrer eigenen Lebenslage, und sie sind durch Hartz IV nicht in dieser oder jener Hinsicht betroffen, sondern ganz umfassend und existenziell. Wirkungsforschung zu Hartz IV allgemein, in der die Betroffenen eher als die kleinen Zinnsoldaten im Sandkastenspiel der Mächtigen erscheinen, gibt es ja bereits zuhauf.

Sind also, wie manche Medien einen tagtäglich glauben machen, Arbeitslose schlichtweg faul und wollen einfach nicht arbeiten gehen?

Anne Ames: Problematisch ist sicher, dass manche Medien ihre Zuschauer oder Leser damit ergötzen, ihnen einzelne - etwas exotische - Betroffene so vorzuführen, dass sich der Medienkonsument zufrieden zurücklehnen und sich sagen kann: „Lieber Gott, ich danke Dir, dass ich nicht so bin wie jene da.“

Problematischer finde ich, dass die meisten Medien viel zu wenig und viel zu wenig kritisch über das Thema informieren und berichten. Dass sie Hartz IV, wenn überhaupt, dann längst wie eine Selbstverständlichkeit behandeln. Eigentlich müssten zum Beispiel Zeitungsredaktionen Zeter und Mordio schreien, dass im Hartz-IV-Regelsatz nicht einmal eine Tageszeitung vorgesehen ist. Stattdessen orientieren sie sich bei ihrer Themenauswahl daran, dass ALG-2-Empfänger ja ohnehin nicht zu ihrer Zielgruppe zählen können. Das weiß ich leider aus sehr berufenem Munde.

Was halten Sie von Ein-Euro-Jobs und mit diesen verbundenem Arbeitszwang?

Anne Ames: Das sind für mich mindestens zwei Fragen, nämlich die nach dem Arbeitszwang, der längst nicht nur in der Zuweisung von Ein-Euro-Jobs besteht, und die nach Ein-Euro-Jobs.

Arbeitszwang, egal in welcher Form, halte ich für ein übles Ablenkungsmanöver des Gesetzgebers von der eigenen arbeitsmarktpolitischen Hilflosigkeit bis Unwilligkeit. Die Leute brauchen keinen Arbeitszwang, sondern Arbeitsplätze, und zwar solche, mit und von denen sie anständig leben können. Die würden sie mit Handkuss nehmen.

Die wenigen Erwerbslosen, in meiner Untersuchung waren es knapp 13 Prozent, die vorübergehend oder endgültig nicht mehr am Erwerbsleben teilnehmen wollen, haben in der Regel gute Gründe hierfür: Sie versorgen kleine Kinder oder pflegebedürftige Angehörige, oder sie wollen sich aus Alters- und Gesundheitsgründen nicht mehr am Tanz ums Goldene Kalb beteiligen. Eigentlich müsste sich dieser Staat über jeden freuen, der nicht mehr arbeiten will.

Ein-Euro-Jobs an sich sind eine ziemlich zwiespältige Geschichte: Die meisten, die einen solchen Job ausüben, tun dies, ich sage mal, notgedrungen-freiwillig. Freiwillig insofern, als sie nicht von ihren Behörden dazu verpflichtet worden sind. Notgedrungen, weil der Ein-Euro-Job die einzige Möglichkeit für sie ist, die unzureichende Regelleistung wenigstens um 100 oder 150 Euro im Monat aufzubessern. Für sehr viele ist die Übernahme eines Ein-Euro-Jobs auch der letzte Strohhalm, an den sie ihre Hoffnung auf einen normalen Job klammern. Diese Hoffnung wird so gut wie immer enttäuscht: Von den 93 Ein-Euro-Jobberinnen und –Jobbern unter meinen Befragungsteilnehmern ist nur einer auf diesem Wege tatsächlich in einen Arbeitsvertrag gelangt.

Neben der weiteren schweren Enttäuschung, die die Ein-Euro-Jobs für ihre Inhaber bereithalten, erleben viele natürlich auch, dass sie Arbeiten verrichten, die bis vor Kurzem normale bezahlte Arbeit darstellten oder die es jedenfalls sein müssten. Ein-Euro-Jobs vernichten Arbeitsplätze.

Gerade unter Studierenden höre ich immer wieder das Argument: Ach, ich komme doch auch mit 500 Euro aus, den Hartz-IV-Empfängern wird sogar noch die Miete gezahlt, die sollen sich mal nicht so haben, das ist doch viel Geld! Was erwidern Sie hierauf?

Anne Ames: Erstens macht es einen Riesenunterschied, ob ich in einer Lebensphase, die ich als vorübergehend betrachte und in der ich hoffnungsfroh etwas tun kann, was der Gestaltung meiner Zukunft dient, mit wenig Geld auskommen muss, oder ob ich die Armut als einen sich ständig verschärfender Dauerzustand erleben muss und keinerlei Perspektiven sehe, da wieder raus zu kommen. Und das trifft Unzählige nach etlichen Jahrzehnten Berufstätigkeit.

Zweitens haben Studierende in der Regel noch deutlich mehr Absicherungen und weniger Verpflichtungen als ALG-II-Bezieher. Kleines Beispiel: Als Student sind Sie in der Regel noch über die Privathaftplichtversicherung von Mama oder Papa abgesichert, als ALG-IIer nicht mehr.

Drittens ist bei ALG-IIern die Armut mit einer ungeheuren alltäglichen Unfreiheit und Gängelei kombiniert: Studierende, die in den Semesterferien den Rucksack packen und wohin auch immer reisen wollen, müssen nicht vorher aufs Amt, um sich die Genehmigung zum Verlassen ihres Wohnortes zu holen. ALG-IIer müssen das, und sie bekommen die Genehmigung - wenn es gut geht - für höchstens zwei Wochen.

Anderes Beispiel: Wenn Sie BAföG beziehen, kommt kein Schnüffler vom Amt zu Ihnen, um zu überprüfen, ob Sie mit Ihrer Freundin vielleicht Tisch und Bett teilen.

„Verarmt, verunsichert, ausgegrenzt und ohne Perspektive"

Was haben Sie während Ihrer Untersuchung erlebt?

Nichts, womit ich als in der Durchführung empirischer Erhebungen erfahrene Sozialwissenschaftlerin nicht gerechnet hätte.

Weh getan hat es, wenn in Fragebögen Probleme geschildert wurden, die offensichtlich darauf beruhten, dass die Betroffenen von ihrer Behörde eine grob falsche Auskunft bekommen hatten. Da hab ich die Anonymität der Befragung bedauert, denn ich hätte den Leuten gerne geschrieben, dass sie eine falsche Auskunft bekommen haben und sich dagegen wehren müssen.

Was sind die bezeichnendsten Befunde Ihrer Untersuchung? Wie fühlen sich die Betroffenen?

Anne Ames: Dem letzten, resümierenden Kapitel meiner Untersuchung musste ich die Überschrift „Verarmt, verunsichert, ausgegrenzt und ohne Perspektive“ geben. Ein anderes Fazit lassen die Angaben und die Erläuterungen der überwältigenden Mehrheit der Befragungsteilnehmerinnen und -teilnehmer kaum zu.

Ich denke, sehr bezeichnend für die Situation, in der wie uns befinden, ist die Riesenkluft zwischen den durchaus vernünftigen Wünschen einer sehr großen Zahl von ALG-II-Betroffenen nach beruflicher Förderung, nach Weiterbildung oder Umschulung und der Realität der beruflichen Förderung, die kaum mehr stattfindet.

Ein anderer Befund, von dem ich mir sehr wünschte, dass er zur Kenntnis genommen würde, ist die erschreckend hohe Zahl von Betroffenen, die ihre Beziehungen zu ihren Kindern, ihren Partnern und Partnerinnen, zu anderen Angehörigen und zu ihren Freunden als schwer belastet und gestört erleben.

Im Übrigen muss ich aber alle, die sich für die Befunde interessieren bitten, im Ergebnisbericht zu lesen. Er ist für acht - für Normalverdiener - beziehungsweise vier Euro - für Arme - beim Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung zu haben.

Eine ganz andere Arbeitszeitpolitik wäre erforderlich

Was schließen Sie aus Ihren Befunden? Ist ein Einschreiten der Politik gefragt?

Ach Gott, was heißt „Einschreiten“? Meines Erachtens sollten Politiker nicht schreiten, weder ein noch aus, sondern die Fakten zur Kenntnis nehmen, nachdenken und Politik machen. Und Politik machen ist eben etwas anderes, als partikulare Wirtschaftsinteressen zu bedienen.

Was genau wäre notwendig, um diesen Missständen abzuhelfen?

Anne Ames: Erstens eine deutliche Erhöhung der Regelleistung, insbesondere auch für Kinder und Jugendliche, damit es den Menschen möglich ist, am gesellschaftlichen Leben, an Bildung und Kultur teilzunehmen.

Zweitens eine von Eltern und Partnern oder Partnerinnen unabhängige Einkommenssicherung für alle erwachsenen, das heißt alle über 17-jährigen Erwerbslosen.

Drittens eine Arbeitsmarktpolitik, die diesen Namen verdient. Das heißt eine Politik, die sich an der Schaffung und Erhaltung sinnvoller Arbeitsplätze maßgeblich beteiligt, und nicht an deren Abbau. Hierzu gehörte meines Erachtens vor allem die entschiedene Zusammenarbeit von Gesetzgeber und Gewerkschaften für eine ganz andere Arbeitszeitpolitik. Bei einer Regelarbeitszeit von 30 Wochenstunden würden alle bezahlte Arbeit finden, die ihren Lebensunterhalt liebend gern aus eigenen Kräften bestreiten würden.

Freilich müsste eine solche Arbeitszeitpolitik auch flankiert sein von einer Aus- und Fortbildungspolitik, die es den Arbeitssuchenden ermöglicht, ihre berufliche Qualifikation den Anforderungen des Arbeitsmarktes anzupassen, anstatt sie in sinnlosen so genannten Trainingsmaßnahmen zu verschleißen.

Viertens - aber das würde sich dann von allein ergeben - die ersatzlose Streichung des existenzbedrohenden und herabwürdigenden Sanktionsparagrafen 31 SGB II. Wenn es genug existenzsichernde Arbeitsplätze gäbe, müsste Papa Staat die Leute keineswegs unter Androhung von Gewalt zu ihrem vermeintlichen Glücke zwingen.

Weshalb die Anspielung im Titel "Ich habe es mir nicht ausgesucht"?

Anne Ames: Mit diesem Titel haben wir eine Befragungsteilnehmerin zitiert. Sie schrieb am Ende des Fragebogens: „Mir ist wichtig, dass die Öffentlichkeit endlich begreift, dass es jedem passieren kann. Ich habe zwei prekäre Arbeitsverhältnisse und komme trotzdem nicht aus der Hartz-IV-Geschichte heraus. Ich wünsche mir, dass wir nicht als Sozialschmarotzer hingestellt werden. Ich war selbst vor zwei Jahren noch Leistungsträgerin der Gesellschaft, und ich habe es mir nicht ausgesucht, arbeitslos zu werden. Ich möchte, dass das in der Gesellschaft verstanden wird.“

Wie werden Sie persönlich nun weitermachen; bleiben Sie am Thema dran?

Anne Ames: Freilich bleib ich dran. Wobei ich gegenwärtig hauptsächlich an einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Untersuchung arbeite, in der es um die Arbeitssituation und das Rollenverständnis der so genannten persönlichen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner sowie Fallmanagerinnen und Fallmanager in den ALG-II-Behörden geht. Diese Leute hat der Gesetzgeber ja sozusagen in die Rolle des Prellbocks zwischen sich und die ALG-II-Bezieher gestellt. Ich beneide sie nicht. Aber auch da interessiert mich als Empirikerin eben, wie die Arbeitenden selbst ihre Situation erleben und bewältigen. Davon hängt ja auch viel für die ALG-II-Betroffenen ab.