Second Life - Das Imperium schlägt zurück

Über den Umgang mit dem Unbekannten. Teil 2

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Offensichtlich speist sich gerade aus der Tatsache, dass SL als Simulation ziemlich dicht ans echte Leben heran reicht, der Vorwurf, es sei eben nicht das echte Leben, stillschweigend implizierend, dies sei die Aufgabe oder auch nur der Vorsatz seiner Betreiber. Als ob die Geschichte der Kultur der letzten dreihundert Jahre nicht auch die Geschichte der Ablehnung neuer Ausdrucksformen gewesen sei, und als ob die Kenntnis dieser Geschichte nicht eine Binsenweisheit ist, werden Form und Inhalt fahrlässig durcheinander geworfen. Nein, ein Gemälde ist nicht die Landschaft, die es darstellt. Es ist auch keine Pfeife. Nein, Film ist nicht die Wirklichkeit. Ein Schnitt bedeutet nicht, dass der Darsteller jetzt „weg“ ist.

Ob die Simulation realer Städte (hier München) in Second Life eine Zukunft hat, wird sich erst noch erweisen. Wahrscheinlicher ist, dass die Plattform Google Earth diese Funktion wahrnehmen wird, während Second Life eher die Heimat von kreativen Fikionen sein wird.

Nein, wenn man am Computer mit jemandem chattet, sitzt dieser nicht im gleichen Raum. Trotzdem kann man mit ihm „echt“ kommunizieren. Die Verunsicherung, die meint, Warnungen vor dem vermeintlich Irrealen auszugeben zu müssen, scheint in der Möglichkeit der Verwechslung von spielerischer Simulation und ihrem Vorbild, dem echten Leben, eine Gefahr zu sehen. Hierin gleicht die Angst vor der neuen Form in der Tat sämtlichen Ängsten, die fast jeder Innovation entgegen gebracht wurde. Als die Romane eines Jean Paul im 18. Jahrhundert besonders in der Damenwelt große Populärität erlangten, wurde von akademischer Seite die Warnung ausgesprochen, solche Elaborate seien nicht die Wirklichkeit.

Nicht immer liegen Realität und Simulation so dicht zusammen wie bei dieser Dame. In Second Life spielt das aber keine Rolle

Lesen von Romanen sei eine Beschäftigung, die ihre Opfer in eine irreale Traumwelt katapultieren würde. Insbesondere wurde die Verwerfung gebrandmarkt, dass junge Damen während der Lektüre des literarischen Truggebildes bisweilen ihre zarten Finger in die Feuchtzonen ihrer Schlüpfer gleiten liessen, um der erzählerischen Wirkung des Gelesenen manuellen Nachdruck zu verleihen. Auch in dieser Hinsicht fällt es ausgesprochen schwer, keine Parallele zu gewissen Erscheinungen im Zweiten Leben zu entdecken.

Kill Your Idols – Mode in Second Life

Heutzutage meinen die, die sich für Bessergebildete halten, das geschriebene Wort in Buchform als Hort der Bildung und Stammsitz der Bewohner zivilisatorischer Top-Lagen gegen die unübersichtlich gewordenen und dem inquisitorischen Zugriff des staatstragenden Intellekts unzugänglichen Auswüchse modernen Mediengewusels hochhalten zu müssen. So ändern sich eben die Zeiten. Von ausreichender Entfernung betrachtet, reihen sich die Entwicklungsstufen der menschlichen Kultur - und das waren immer auch mediale Weiterentwicklungen - wie die Perlen einer langen Kette aneinander, und überall sitzen kleine Geister, die die jeweils vorherige Perle gegen die nachfolgende verteidigen. „450 war gut... 451 aber ist böse. Lasst uns bei 450 bleiben und 451 verdammen!“ Reinhard Jellen schreibt

„Der Mensch tritt aber allmählich immer mehr aus diesem unmittelbaren Naturzusammenhang heraus, indem er sich im Widerstreit mit der Natur eine zweite Natur, nämlich die des Geistes erschafft. Er setzt zwischen sich und der Umwelt ein Reflexionsverhältnis, insofern er im Gegensatz zum Tier sein Verhältnis zur Umwelt reflektiert und lernt, seine Triebe temporär zu hemmen, also seine “Natürlichkeit“ negiert, aus der bewusstlosen Entzweiung eine bewusste macht, beginnt bewusst-praktisch zu handeln, seine Triebe Zwecken unterzuordnen und hierdurch zu einer größeren Selbstbestimmung gelangt.“

Bevor man die endgültige Wahl seines Tattoos getroffen hat, kann man es ja ruhig erstmal ausprobieren

Vielleicht handelt es sich bei den Ängsten der Vielen einfach um ein Missverständnis. Der Begriff „Zweites Leben“ scheint zu insinuieren, dass hier der Versuch unternommen wird, das erste, „echte“ Leben zu ersetzen, statt in Form einer Bereicherung dem einen Leben, dass wir nun einmal alle haben, hinzuzufügen. Dem Benutzer der virtuellen Welt wird die Naivität unterstellt, er könne diese Unterscheidung nicht treffen und gerate so womöglich zu seinem eigenen Nachteil in ein gesellschaftliches Abseits. Bei näherer Betrachtung erscheint diese Kritik – wie die Autorin eines aktuellen Second Life-Ratgebers, Annette Pohlke, schmunzelnd bemerkt – wie der während der Aufführung des Hamlets dem Hauptdarsteller aus den Reihen des Publikums entgegen geschleuderte Vorwurf „Sie sind ja garnicht der echte Hamlet! Sind Sie sich überhaupt dessen bewusst?“ Man sieht: die Mutmaßung, eine Gefahr aus den unheimlichen Weiten des Internets über den Heimcomputer in die gute Stube des kleinen Mannes gebracht (der längst nicht mehr auf der Straße ist), könne diesen seines freien Willens berauben und womöglich entmündigen, wird noch stets von der Bevormundung übertroffen, die besonders in Deutschland das gut geölte Zusammenspiel von Presse und Politik seit jeher inszeniert.

Dieses Pony bereitet sich auf seinen Auftritt als Karussellpferdchen vor

Die Angst vor dem freien Willen ungebildeter Volksmassen trat nirgends besser in Erscheinung als in der sogenannten Kindersex-Debatte, die einige Medien aus Deutschland „of all countries“ gleich im Anschluss an den zu Beginn des Jahres im Berliner Journalismus-Inzest von einer kleinen Gruppe einflussreicher Chefredakteure erzeugten sogenannten Second-Life-Hype lostraten. In einer Zeit, in der man sich gerade abgeschminkt hatte, dem Medium Internet selbst seine Verwendung als Plattform für politisch und sittlich Unkorrektes vorzuwerfen, kam Second Life gerade recht als neue Angstprojektionsfläche.

Am grossen Tag des Pferderennens treffen sich Ponies und interessierte Beobachter aus ganz Second Life. Der Spielleiter erklärt gerade die Regeln

Geprägt von geradezu erschreckender inhaltlicher Ungenauigkeit entstand vor den Augen des erstaunten Betrachters ein Medienszenario, das zwar mit der Wirklichkeit dessen, was in Second Life tatsächlich passiert war, nicht viel zu tun hatte, dafür aber von dem unbändigen Willen gesteuert war, die Freiheit, wo immer sie sich zeigt, einzudämmen. Dass der Anlass gerade Kinderporno war, erscheint im Nachhinein eher nebensächlich. Als Reizthema, das angetan ist, denjenigen der sich gegen Vorwürfe verteidigen muss, gerade deswegen in der Öffentlichkeit erst recht zu desavouieren, hätte man auch Nazi-Verdacht, Antisemitismus oder Terror-Unterstützung nehmen können, aber offensichtlich ließ sich davon in Second Life nun wirklich rein garnichts entdecken.

Gemälde die gerade bei Christie’s für sechstellige Summen versteigert wurden fünf Minuten später im eigenen Marmor-Badezimmer

Selbst die notwendige minimale Differenzierung zwischen einerseits einer realen Beteiligung von Kindern am Missbrauch, ob hinter der Computertastatur oder vor der Kamera, und andererseits Erwachsenen, die in einer nur Erwachsenen zugänglichen Plattform Phantasie-Rollenspiele mit künstlichen Avataren aufführen, wurde nicht vorgenommen. Stattdessen wurden Experten aufgefahren, die ähnlich wie in der seit Jahren schwelenden Debatte um Gewalt in Computerspielen und Filmen, die unbewiesene Behauptung verbreiteten, dass das inkriminierte Tun „Verhaltensweisen einübt“ und zur „Nachahmung“ im realen Leben verführt, wohlgemerkt nicht bei unmündigen Kindern, sondern bei Erwachsenen. Womit man unfreiwillig doch zumindest einräumte, dass im Second Life für das echte Leben relevante Dinge gelernt werden können, was die selben Redaktionen an anderer Stelle, wenn es um positive Aspekte ging, nicht für möglich hielten. Die Tatsache, dass ausnahmslos alle Beteiligten oder der den kriminellen Szenen als Voyeure Ansichtigen inklusive der sensationsgeilen „Enthüllungs“-Journalisten, freiwillig und gezielt an den Ort des Geschehens gelangt waren, spielte für die Vorreiter der Zensur keine Rolle.

Schönheit ist eine Frage der persönlichen Defintion, nicht des biologischen Schicksals

Ebensowenig die Tatsache, dass es für sexuelle Straftatbestände gerade in Deutschland bereits strenge Gesetze gibt und deren Anrufung eigentlich überhaupt nichts mit ihrem Auftauchen ausgerechnet in Second Life zu tun hat. Dennoch manifestierte sich in Teilen der schlecht informierten Öffentlichkeit im Nachinein der schwer wieder auszurottende Verdacht, die Kinderschänder seien im Zweiten Leben bereits unterwegs. Wer vor solchen Nachstellungen verschont bleiben will, muss halt im ersten Leben fernsehen: In der Sendung „Puppenstube“ des Home-Shopping-Kanals HSE24, kann man unbeanstandet beobachten, wie erwachsene Frauen an lebensecht gestalteten, teils heftig aufgebrezelten Kinderpuppen vom Knuddeln und Abknutschen über das Befummeln, bis hin zum nackich ausziehen und Finger reinstecken alles durchexerzieren, was ihnen die irrlichternden erotischen Phantasien einflüstern. Per Telefon zugeschaltete Zuschauerinnen verlesen dazu selbstverfasste Liebesgedichte.

Malerisch posiert diese zufällige Gruppe in perfekten Bildproportionen

Dass die unzensierte Manifestation menschlicher Phantasien erschreckende Züge aufweisen kann, ist nicht neu und wurde erneut sichtbar in den schockierten Kommentaren der für den Skandal-Report vor die Kamera gezerrten Spezialisten. So äusserte der für schwulen Underground zuständige Fachmann sein Entsetzen über das was er in Second Life an simulierten Sexualpraktiken unter als „männlich“ gerenderten Avataren vorfand. So etwas habe selbst er noch nicht erlebt.

Unfreiwillig Kronzeuge der von seinen Kollegen aus der schreibenden Zunft ansonsten bestrittenen hohen Erlebnisfähigkeit des Mediums Second Life, implizierte sein Urteil, wie auch das aller in der Sendung zu Wort kommenden Wissenschaftler, dass die Menschheit unter allen Umständen vor solchen Erfahrungen bewahrt werden muss. Sexualkundler, die das Gegenteil zu Gehör gebracht hätten, etwa, dass es wunderbar sei, dass Menschen auf ungefährliche Weise ihre eigenen Wünsche und Phantasien ausleben und reflektieren können, kamen nicht zu Wort. Wer glaubt, 40 Jahre sexueller Befreiung hätten ein Fundament des Vertrauens in die Eigenverantwortung des Einzelnen und die Abkehr von staatlicher Gängelung bewirkt, sieht sich getäuscht. Jedenfalls in Deutschland.

Gutbürgerliche Wohnkultur im 21. Jahrhundert. Von allem das Beste, aber nicht zuviel.

Auch andere positive Aspekte wurden in den Darstellungen von Second Life in der Öffentlichkeit konsequent ausgeklammert. Die Hingebung, mit der Fans der virtuellen Welt stundenlang vor dem Bildschirm verbringen, wird tatsächlich von einer drastisch gesunken TV-Konsumzeit gespeist. Während letztere bekanntlich messbare Verdummungseffekte produziert, scheint die viel aktivere Beschäftigung auf den Linden-Sims eher Lernbereitschaft und soziales Engagement zu erzeugen. Eine aktive weltweite gesellschaftliche Gruppe wird in den Feuilleton-Kommentaren komplett ausgeklammert: die Menschen, die aufgrund einer körperlichen Behinderung an einigen der Tätigkeiten, die das erste Leben bereit stellt, einfach nicht teilnehmen können. In Second Life können Gehörlose sprechen, Gelähmte gehen oder sogar fliegen, und Kranke von ihrem Bett aus am Leben der Gesunden teilnehmen. Menschen, die sich wegen ihrer äusseren Erscheinung an den Rand gedrängt fühlen, können diese korrigieren. Wer solche Chancen einer Internetplattform als lächerlichen Tand abtut, macht sich des Zynismus schuldig. Letztlich sind auch auch die so genannten Gesunden zumeist nicht so weit von Selbstzweifeln entfernt, dass sie nicht Nachbesserungsbedarf verspüren.

Geschmack hat man nicht, Geschmack findet man. An allem was Spass macht. Selber Erschaffen macht Spass. Geteilte Freude ist doppelte Freude.

Darüber die Nase zu rümpfen ist reine Angeberei. Das gilt auch für die Überheblichkeit, mit der man auf Menschen hinabblickt, die sich mangels realer Reichtümer in Second Life endlich mal den Aston Martin leisten, von dem sie schon immer geträumt haben, oder den von Frank Lloyd Wright gestalteten Bungalow direkt am Strand bewohnen wollen. Nicht Second Life ist hässlich, sondern das reale Leben. Wem diejenigen suspekt erscheinen, die dort aussteigen wollen, der soll bitte ein Konzept vorlegen, wie er im ersten Leben die mit seiner stillschweigenden Zustimmung erzeugten Bedürfnisse der Millionen befriedigen will, denen er diese im Zweiten Leben verächtlich macht. Oder anders ausgedrückt: Die Kritik an Second Life scheint in Wirklichkeit eine Flucht aus der Kritik der realen Welt zu sein.