716 Jahre Rütlischwur

Warum der Gründungsmythos der Schweiz gerade in Zeiten einer immer absolutistischer werdenden EU von bemerkenswerter Aktualität ist

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1291 trafen sich der Legende nach Vertreter der drei Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden auf der Rütli-Wiese am Vierwaldstättersee, um den Eid abzulegen, mit dem ihre angestammten Rechte wiederhergestellt und das Joch der Landvogte abgeschüttelt werden sollte. Am 1. August feiern die Schweizer ihren Nationalfeiertag auf diesem Gelände.

Besonders eindrucksvoll schilderte den Mythos der früher in einem Atemzug mit Goethe genannte Friedrich Schiller in seinem Drama Wilhelm Tell. Doch in den letzten Jahren wurden er und sein Meisterwerk nicht nur von den Bühnen, sondern auch aus den Lehrplänen weitgehend getilgt. Selbst im "Schillerjahr" 2005 brachte das deutschsprachige Feuilleton eher Schmähschriften als Lobreden.

Ein Grund dafür könnte darin liegen, dass jeder Deutschlehrer, der heute den Tell lesen ließe, große Schwierigkeiten hätte, die sich aufdrängenden Bezüge zur EU zu leugnen. Und damit kann man im neo-mccarthyistischen Klima der nuller Jahre potentiell die Karriere gefährden – spätestens seit der italienische Präsident Giorgio Napolitano Euroskeptiker als "psychologische Terroristen" bezeichnete.

2007 ist die Schweiz wieder in einer ähnlichen Situation wie vor Jahrhunderten. Die politische Elite propagiert einen Anschluss an ein größeres Gebilde, was beim Volk durchaus auf Unmut stößt:

"Die Freiheit wollt Ihr aus dem letzten Schloss,

Das ihr noch auf der Erde blieb, verjagen.

Das Volk versteht sich besser auf sein Glück,

Kein Schein verführt sein sicheres Gefühl,

Euch haben sie das Netz ums Haupt geworfen"

Die im Tell vorgebrachten, eher modischen als sachlichen Argumente für einen Anschluss an Österreich (vor allem, dass er auf lange Sicht sowieso unvermeidlich sei und man den Schutz des Stärkeren suchen müsse) sind denen eines Beitritts zur EU bemerkenswert ähnlich:

" Vergeblich widerstreben wir dem König,

Die Welt gehört ihm, wollen wir allein

Uns eigensinnig steifen und verstocken,

Die Länderkette ihm zu unterbrechen,

Die er gewaltig rings um uns gezogen?

Sein sind die Märkte, die Gerichte,

[...]

Von seinen Ländern wie mit einem Netz

Sind wir umgarnet rings und eingeschlossen.

Wohltat ist's und weise Vorsicht,

In diesen schweren Zeiten der Parteiung,

Sich anzuschließen an ein mächtig Haupt."

Auch Schillers Argumente (bzw. die seiner Figur Attinghausen) gegen einen freiwilligen Anschluss an Österreich respektive an die EU sind dergestalt, dass ein Deutschlehrer, der Ärger mit dem Rektorat und dem Ministerium vermeiden will, in Argumentationsnöte kommen könnte:

"Sie werden kommen, unsre Schaf und Rinder

Zu zählen, unsre Alpen abzumessen,

[...]

Mit unsrer Armut ihre Länderkäufe,

Mit unserm Blute ihre Kriege zahlen

Nein, wenn wir unser Blut dransetzen sollen,

So sei's für uns - wohlfeiler kaufen wir

Die Freiheit als die Knechtschaft ein!"

Tatsächlich ist die Entwicklung der EU nicht nur eine Entwicklung in Richtung Feudalismus, sondern sogar in Richtung einer Art ministerialem Absolutismus. Mit jeder EU-Richtlinie und mit jedem neuen Vertrag sinkt die demokratische Kontrolle langsam aber stetig zu Gunsten der Macht von Eliten. Die nationalen Institutionen wie Parlamente und Gerichte existieren zwar noch, werden aber in einem langsamen Prozess entmachtet - ein "Staatsstreich in Zeitlupe".

Mittlerweile basiert eine deutliche Mehrheit der in den EU-Staaten verabschiedeten Gesetze auf Vorgaben aus Brüssel: Das hat zur Folge, dass eine Elite mit weitaus weniger Kontrolle Regelungen durchsetzen kann als früher, als sich ein Minister nicht nur im Kabinett durchsetzen musste, sondern auch dem Parlament Rechenschaft schuldete, das bis zu einem gewissen Grade an die Vorstellungen der Wähler gekoppelt war.

Über den Umweg des EU-Ministerrates kann ein Kabinettsmitglied jedoch Gesetze erlassen, die das Europäische Parlament zum größten Teil nur mehr kommentieren kann. Unter anderem hat dies zur Folge, dass praktisch keine Haushaltskontrolle mehr stattfindet. Seit über einem Jahrzehnt sind die EU-Haushaltsberichte fehlerhaft. Doch eine Verweigerung der Abnahme durch den europäischen Rechnungshof blieb nicht nur ohne Folgen, sondern auch ohne mediales Echo.

Auch die nationalen Parlamente haben keine Möglichkeit der Kontrolle, sondern dürfen die EU-Richtlinien nur noch "umsetzen". Das ist nicht nur eine sehr günstige Situation für Lobbyisten, die sich statt um viele tausend Politiker nur um gut zwei dutzend kümmern müssen, sondern auch ein erheblicher Machtzuwachs für die Politikerelite selbst.

Die Schweiz übernimmt schon jetzt viele EU-Richtlinien - auch ihre Regierung spielt "über Bande", wenn sie Wünsche hat, die sie auf direktem Wege nicht durchbringen würde. Aber im Gegensatz zu anderen EU-Ländern bleibt den Schweizern immer noch das Korrektiv der Volksabstimmung. Dies würde sich bei einem Beitritt radikal ändern. Das System der Rechtssetzung in der EU ist mit dem eidgenössischen Plebiszitrecht vollkommen inkompatibel. Würde das helvetische Volk einer EU-Richtlinie widersprechen, dann hätte es im besten Falle Strafen, im schlechtesten Falle die Durchsetzung der "unmittelbaren Geltung" der Richtlinie zu erwarten.