In der Extremzone des Kinos

Wahn und Sinn: Zum 21. Mal zeigt das Fantasy-Filmfest seltene, sehenswerte Filme

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Eine bösartige Internetseite, die so heißt wie das US-Flugzeug, das einst die erste Atombombe über Hiroshima abwarf: "Enola Gay" und die von Klassenkameraden gequälten Schülern Baupläne für Bomben und Tips für Selbstmordattentate liefert. Eine Schule, der die Apokalypse unmittelbar bevorsteht, nachdem Schülerinnen von ihr auf Tokios belebtester Fußgängerkreuzung in die Luft gesprengt werden. Und eine hitzköpfige Teenie-Girl-Schwerverbrecherin im kurzen Rock, ebenso hart wie sexy, deren gefährlichste Waffe ein tödliches Jojo im Strumpfbandhalfter ist, und die, nachdem sie von der Polizei aus ihrem Hannibal-Lecter-Verließ befreit wird, genau 72 Stunden Zeit bekommen hat, um in der Schule aufzuräumen und den Countdown der Vernichtung zu stoppen - solche Filme kann man nur auf dem "Fantasy Filmfest" sehen.

"Yo-Yo Girl Cop". Bild: Rapid Eye Movies

"Yo-Yo Girl Cop" von Kenta Fukasaku ("Battle Royale II") ist eine wild-überdrehte J-Pop-Girlaction-Variation, wenn man so will, "Charlies Engel" hoch zehn und auf Japanisch. Die Vorlage bildet der auf der Insel überaus populäre Action-Manga "Sukeban deka" (der bereits zuvor Muster für drei TV-Serien, zwei Spielfilme und einen Anime war). Der Hintergrund ist dabei durchaus ernst: Mehr Schülerselbstmorde als in Japan gibt es nirgendwo auf der Welt, und der Film ist dort am besten, wo er die alltäglichen Quälereien und Demütigungen ausmalt. Das Resultat ist bizarrer Camp mit Sänger-Idol Aya Matsuura in der Titelrolle.

Auch "All the Boys love Mandy Lane" von Jonathan Levine dürfte außer hier später nur in Videotheken zu sehen sein. Der Film möchte so etwas wie das Gegenstück zu allen "Scream"-Gedankenspielen sein und gradlinig-gedankenlose Metzgerspiele zelebrieren. Auch hier bilden die Schule und ihre zahlreichen versteckten Teenager-Leiden das Zentrum. Einen Gestörten gibt es in jeder Klasse. Und da in dieser der zuckersüße titelgebende Schulschwarm Mandy Lane (gespielt von "Alpha Dog"-Heroine Amber Heard) allen Jungs und manchem Mädel jeder Alterstufe den Kopf ganz besonders verdreht, ist auch die Störung eine gar spezielle. Nicht zufällig läuft der Film in der Reihe "Flesh and Blood"…

"Los Abandonados". Bild: Filmax

Typisch-iberischen Katholik-Horror bietet dagegen "Los Abandonados" von Starregisseur Nacho Cerdà. Ein junges Yuppie-Fräulein mit dem oh-so-christlichen Namen Marie reist nach Russland. Dort wurde sie einst zur Adoption freigegeben. Ihre Reise ähnelt zunehmend Von Helsings Besuch bei Count Dracula, und Transsylvanien liegt heute doch in Putins Reich, oder? Naja, jedenfalls trifft Marie ihren Zwillingsbruder und auch die Realitätsebenen verdoppeln sich. Surrealer atmosphärischer Euro-Horror und metaphysischer Splatterfilm in einem ist "Los Abandonados" ein Film, wie man ihn zu selten zu sehen bekommt: "Pan's Labyrinth" trifft "The Mashinist".

Zweimal Shakespeare

Drei Highlights aus dem diesjährigen Programm des "Fantasy Filmfest". Das kommt zwar auch diesmal wild daher, doch könnte man alles auch ganz anders vorstellen, um an der Seriosität des Unternehmens keinen Zweifel zu lassen. So gibt es im Programm auch gleich zweimal den berühmtesten Dichter der Weltliteratur…

Eine höfische Gesellschaft und ein täglicher Überlebenskampf. Jeder falsche Schritt kann den Tod bedeuten. Zumal auch diese kühlen Machtmenschen hinter der Fassade des Zeremoniells von tiefer Leidenschaft gepeinigt werden. Etwa die junge Kaiserin Wan. Sie liebt ihren Stiefsohn Prinz Wu Luan, heiratet aber nach dem Tod des Kaisers aus politischen Gründen dessen jüngeren Bruder.

"The Banquet" heißt dieses Königsdrama aus China, Feng Xiaogang, eines der jüngeren Talente dieses blühenden Filmlandes, inszenierte es mit Zhang Ziyi, dem immer noch jungen Star der letzten Filme von Ang Lee, Wong Kar-wai und Zhang Yimou in der Hauptrolle der kessen Kaiserin. Ein faszinierendes "Martial Arts"-Ballett aus der Zeit der Tang-Dynastie und mehr als ein Hauch von Shakespeare aus China.

"The Banquet". Bild: Hyayi Brothers

Die Neuinterpretation eines berühmten Shakespeare-Stoffes legt auch der Brite Geoffrey Wright mit "Macbeth" vor, den zuvor schon Kurosawa und Polanski auf ihre Weise verfilmten. Verlegt in die Unterwelt von Melbourne, erlebt man den Kampf krimineller Familienclans um die Vorherrschaft im Drogenbusiness. Eine überdrehte Pop-Version, in der elisabethanische Verse mit australischem Akzent deklamiert werden, und sich die drei Hexen der Vorlage in Discoschlampen verwandeln.

Wanze und Wahnsinn

Seit 20 Jahren gibt es nun das Fantasy-Filmfest und längst hat sich das, was 1987 als Veranstaltung für die Fans von Elfen und Rittern, Horror und Splatter, Science Ficion und harten Gangster-B-Filmen begann, zu einem der wichtigsten deutschen Filmfestivals gemausert. Mit über 100.000 Zuschauern und 86 Filmen hat das Fantasy Filmfest, das keine öffentlichen Gelder beansprucht, weit mehr Zuschauer, als die meisten subventionierten Festivals. Trotzdem laufen in diesem Jahr mehr denn je Filme aus renommierten "A-Festivals", und das Fantasy-Filmfest schließt damit auch eine kulturelle Lücke, die die Programmkinos und die Kinoverleiher offen lassen. Denn viele der Filme, die hier zu sehen sind, wären früher noch ins deutsche Kino gekommen.

In Cannes Premiere hatte etwa "Bug", das befremdend-faszinierende neue Werk von Oscargewinner William Friedkin, der mit "French Connection" und "The Exorcist" frühen Ruhm erntete. Schon diese beiden Filme waren ja vor allem Reisen ins kollektive Unbewusste Amerikas, das zur Hochzeit von Vietnamkrieg und Watergate nach Friedkins subtilen Dekonstruktionen des Polizeiapparats und der all american family lechzte.

Friedkins neuer Film, "Bug" passt genau in die Landschaft und lotet das schlüpfrig-riskante Terrain aus, dem das US-Mainstream-Kino zur Zeit auf unterschiedliche Weise ausweicht: Es beginnt mit einem Hubschraubergeräusch und dem Blick auf einen Ventilator. Erinnerungen an Anfang von "Apocalypse Now"... Aus dem Off Telefonklingeln, "Hello? Hello? Bastard". Ashley Judd spielt die Hauptrolle. Keine kann so kaputt und white-trashig aussehen, wie Judd und dabei doch attraktiv bleiben. Sie spielt Agnes, eine Frau, die Gewohnheitstrinkerin ist, in einer Bar arbeitet und in einem Motel wohnt. Ihr Mann sitzt im Knast, weil er sie fast totschlug. Ihr Kind verschwand vor neun Jahren spurlos im Supermarkt. Alle Voraussetzungen für eine satte Paranoia sind also vorhanden, und als sie auf Peter trifft, und mit ihm ein Verhältnis beginnt, ist es soweit.

"Bug". Bild: Paramount

Der ist überzeugt Opfer eines Experiments des Geheimdienstes zu sein, und eine "Wanze" in sich zu tragen. Die Dinge eskalieren schnell. "Bug" bietet Innenansichten der Paranoia: Ununterbrochenes Blablabla: "Its the way things are…, the rich get richer, the poor poorer. … Ich wurde verwanzt. Man macht Experimente mit mir. … Wir werden nie mehr sicher sein. … chips implanted on every new born baby since 1982…." Irgendwann zieht Peter sich selbst auch mit einer Klempnerzange die Zähne und schneidet sich vermeintliche Bugs aus dem Leib. Die Wohnung verlassen beide nicht, legen sie mit Silberpapier aus. Und am Ende, als Agnes sicher ist: "I am the super mother bug." - was man Ashley Judd wirklich so sehr gerne sagen hört - tun beide, was paranoide Menschen irgendwann tun und zünden a la Waco das Haus über ihrem Kopf an. Weil er schwer erträglich ist, ist Friedkins Film auch ein treffender Kommentar zum ganzen Komplex der Conspiracy Theory und Paranoia, zur Signatur der US-Gegenwartsgesellschaft.

Genretrash und Zeitreisen

Noch weitere Filme aus den A-Wettbewerben von der Berlinale - "Hallam Foe", "I am a cyborg" von "Old Boy"-Regisseur Park Chan-wook - und aus Venedig - "Paprika", ein Anime-Mindfuck von Satoshi Kon, "Tales from the Earthsea" - runden das Hauptprogramm ab. Seit jeher aber glänzt das Fantasy-Filmfest vor allem durch Schwerpunkte mit Filmen aus Frankreich, Spanien und Asien. "Fair Play" vom jungen Franzosen Lionel Bailliu erzählt in höchst origineller Weise - man erlebt die Figuren ausschließlich beim Sport - aus dem Innenleben einer typischen Firma der New Economy. Der Höhepunkt ist ein gemeinsamer Kanu-Ausflug der Belegschaft, bei dem alles eskaliert - und natürlich wird dabei alles andere, als fair gespielt.

Aus Asien kommen unter anderem "Das Mädchen, dass durch die Zeit sprang" (The Girl who leapt through time") von Mamoru Hosoda, ein Zeitreise-Film im japanischen - genau! - Schulhof-Milieu mit einem Tomboy im Zentrum, der alle Fehlschläge seines Daseins Stück für Stück korrigiert. Dann "Dhoom 2" von Sanjay Gadhvi, ein Bollywood-Action-Gangsterfilm mit Superstar und Ex-Miss World Aishwarya Rai in der weiblichen Hauptrolle, bei dem sich die Handlung aus Indien nach Brasilien bewegt, wo der Showdown in Rio de Janeiro stattfindet. Bollywood meets Samba! Dann "Exte" ein absurder Genretrash über - kein Witz! - mörderische Haarteile. Ein Friseursalon heißt hier "Gilles de Rais" nach dem mittelalterlichen Serienkiller, Vorbild von Ritter Blaubart und Freund von Jeanne d'Arc.

"Confessions of Pain". Bild: Media Asia Films

Im Schauspielensemble findet sich unter anderem Chiaki Kuriyama, bekannt als die Gogo Yubari in Quentin Tarantinos "Kill Bill". Dann "Confession of Pain" aus Hongkong. Der neue Film von Andrew Lau und Alan Mak, den Machern der "Infernal Affairs"-Trilogie, aus der dann "Departed" wurde, konfrontiert wieder zwei ungleiche Männer: Takeshi Kaneshiro und Tony Leung spielen die Hauptrolle in diesem düsteren Nerven-Noir im Mafia-Cop-Milieu. Schließlich der erste Animationsfilm von Goro Miyazaki, der mit dem Märchen "Tales from the Earthsea" in die Fußstapfen seines berühmten Vaters tritt.

Auch in Deutschland gibt es Fantasy-Filme: "Kaltmiete" von Gregor Buchkremer hat schon mal einen schönen Titel für einen Thriller; "Nimmermeer" von Toke Constantin Hebbeln hat gerade den Sudentenoscar gewonnen: die gewagte Kreuzung aus Motiven von Bergman und Fellini. Interessanter ist Mennan Yapos Film "Premonition". Der Deutsche, der nach "Lautlos" in Deutschland kein Geld für einen Triller bekam, durfte in den USA gleich mit Sandra Bullock drehen. Auch Peter Stormare und Supermodel Amber Valletta sind mit dabei in diesem Thriller, der nicht nur das Talent dieses Regisseurs belegt, sondern auch die Grenzen der gern gelobten deutschen Filmförderung.

Das Fantasy-Filmfest läuft bis einschließlich 22. August, zunächst in Frankfurt und Nürnberg, dann in Köln und Bochum, schließlich in Berlin und Hamburg. Detaillierte Programm-Infos unter www.fantasyfilmfest.com.