Die Akte Tillman

Der Tod eines "American hero" in Afghanistan wirft Fragen auf

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Pat Tillman war ein amerikanischer Held wie aus dem Bilderbuch. Der Profi-Footballer der Arizona Cardinals lehnte 2002 eine Vertragsverlängerung für drei Jahre und 3,6 Millionen US-Dollar per anno ab, um stattdessen unter dem Eindruck der Anschläge des 11. September 2001, für knapp 1500 US-Dollar im Monat, in die US-Streitkräfte einzutreten. Obwohl er selbst jegliche Stellungnahme dazu verweigerte, wurden seine Motive, die ihn zu diesem Schritt bewegten, als „patriotisch" eingestuft, mediengerecht inszeniert und von politischen Akteuren als Vehikel zur Propagierung des „War on Terror“ und als Werbung für die Streitkräfte benutzt (vgl. Wahrheit und Täuschung im Informationskrieg).

Er und sein Bruder Kevin wurden nach der Ausbildung bei den US Army Rangers, einer Elite-Einheit der amerikanischen Landstreitkräfte, dem zweiten Bataillon des 75th Ranger Regiment bei Fort Lewis, Washington, zugeteilt.

Anfang des Jahres 2003 wurde die Einheit im Zuge der bevorstehenden Invasion des Irak in den Nahen Osten verlegt. Beide Brüder nahmen an den Kampfhandlungen teil und kehrten bereits 2003 wieder in die Vereinigten Staaten zurück, um anschließend nach Afghanistan verlegt zu werden.

Am 22. April 2004 wurde Pat Tillman, angeblich während eines Gefechtes mit Taliban-Kämpfern, getötet. Nachdem die Beerdigung landesweit übertragen wurde, nutzte Präsident Bush das Schicksal Tillmans sogar im Präsidentschaftswahlkampf 2004 und nannte ihn, in einer ins Stadion der Arizona Cardinals übertragenen Rede, „eine Inspiration auf dem Feld und darüber hinaus“.

Erst mehrere Wochen nach Tillmans Tod, als seine Einheit in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, teilte das Militär der Öffentlichkeit und den Angehörigen Tillmans mit, dass er durch „friendly fire“, also durch Beschuss von eigenen Truppen, getötet wurde. Nachdem der öffentliche Druck auf das Pentagon, u.a. durch Recherchen der Tageszeitung „San Francisco Chronicle“, und Nachfragen seitens Senator McCains, Arizona, erhöht wurde, leitete das Militär schließlich detaillierte Ermittlungen über die Hintergründe von Tillmans Tod ein. Diese ergaben das Bild eines versehentlichen Feuergefechtes zwischen US-Soldaten, zu welchem es kam, nachdem ihre Einheit in einem afghanischen Tal unter feindlichen Beschuss geraten war und sich daraufhin aufgeteilt hatte.

Lieblingsautor Noam Chomsky

Die Recherchen des „SF Chronicle“ ergaben ferner ein anderes Bild von Pat Tillman, als es bis dahin bestand. Seine Mutter und sein Bruder gaben aus Frustration und Wut über die Art und Weise, wie mit dem Tod ihres Angehörigen seitens des Pentagon und des Weißen Hauses umgegangen wurde, nähere Einblicke in den Pat Tillman, den die Öffentlichkeit bis dato nicht kannte. Seinem Bruder Kevin (einem ehemaligen Footballspieler der Anaheim Angels und Inhaber eines Master Degrees in Philosophie) zufolge las Tillman viel - von Geschichtsbüchern über Biographien bis hin zu Büchern eines seiner Lieblingsautoren: Noam Chomsky. Tillman erklärte angesichts der Bombardierung irakischer Städte gegenüber Kameraden:

Dieser Krieg ist so verdammt illegal.

Auch riet er einem anderen Soldaten, bei der Präsidentenwahl 2004 für den demokratischen Kandidaten John Kerry zu stimmen und erstellte für seine Kameraden eine provisorische Bücherei klassischer Romane. Wie Pat Tillmans Mutter erklärte, war für die Zeit nach seiner Rückkehr aus Afghanistan ein Treffen mit Noam Chomsky geplant (was von Chomsky später bestätigt wurde).

Diese differenzierte Charakterisierung Tillmans, nämlich als patriotischer (US-)Amerikaner einerseits, doch auch als unabhängiger, politisch kritischer, Bush und den Irak-Krieg ablehnender Bürger andererseits war so gar nicht das, was das offizielle, von der Administration und den Medien gezeichnete, Bild des linientreuen „Rambo-Patrioten“, beinhaltete. Der fotogene Supermann, den die rechte Bestseller-Autorin Ann Coulter mit den Worten „ein amerikanisches Original - tugendhaft, rein und maskulin, wie es nur ein Amerikaner sein kann“ beschrieb, entpuppte sich schließlich als unberechenbarer, charakterfester Gegner des Irak-Krieges - mit dem Status/Ruf eines Kriegshelden.

Leichenbeschauer widerlegen Unfallthese

Zeit für ein kleines Gedankenspiel: Hätte Tillman sich im Jahr 2004, also dem Jahr der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten, mit Noam Chomsky getroffen, wäre er möglicherweise auch mit seinen Ansichten an die Öffentlichkeit gegangen. Es darf vermutet werden, dass dies, mit dem richtigen Timing bzgl. der Wahl im November 2004, durchaus Auswirkungen auf die Wahl hätte haben können. Aber all dies wird durch Tillmans vorzeitigen Tod Makulatur bleiben.

Nun allerdings wird ein neues Kapitel in der „Akte Tillman“ geöffnet. Leichenbeschauer des Militärs sind, laut Dokumenten, welche Associated Press vorliegen, der Ansicht, dass Schusswunden an Pat Tillmans Körper die These des „friendly fire“- Unfalls widerlegen.

Laut den offiziellen Darstellungen des US-Verteidigungsministeriums wurde Tillman von Kameraden aus größerer Entfernung getötet, weil sie ihn irrtümlich für einen Feind hielten (PDF-Datei). Nach den Aussagen von, an der Obduktion beteiligten, Medizinern hingegen seien drei Schusswunden in Tillmans Stirn so exakt und nahe bei einander liegend vorgefunden worden, dass er wohl aus höchstens zehn Metern Entfernung gezielt mit einem M-16 (dem Standard-Sturmgewehr der US-Streitkräfte) "niedergestreckt" worden sein muss. Dies aber würde darauf hindeuten, dass er praktisch exekutiert wurde.

Als der obduzierende Arzt sich diesbezüglich an seine Vorgesetzten wandte, die ihm zusagten, seine Informationen in der Militär-Hierarchie weiterzuleiten, wurde er letztendlich ignoriert; eine Bitte um Einleitung einer Untersuchung durch die Criminal Investigation Unit der US-Armee wurde abgelehnt (eine Leistung, die verantwortliche Militär-Anwälte zu gegenseitigen Glückwünschen veranlasste). Am Ort der Geschehnisse, sowie an den beteiligten Fahrzeugen, fanden sich keinerlei Spuren von „feindlichem Feuer“ - keine Geschosshülsen oder Einschüsse. Die Rolle von Scharfschützen, die - laut Zeugenaussagen - an dem Zwischenfall beteiligt waren, konnte bislang nicht geklärt werden.

Eine Befragung seiner Kameraden, im Rahmen der Untersuchung des Pentagons, bezüglich der Umstände von Tillmans Tod, ergab keine Hinweise auf Motive von Soldaten seiner Einheit, ihn zu töten.

Das Weiße Haus und das Pentagon berufen sich inzwischen auf das so genannte „executive privilege“, also eine Immunität gegenüber Untersuchungen seitens der Legislative, um Dokumente, die von einem Untersuchungsausschuss des Abgeordneten-Hauses des US-Kongress angefordert wurden, zurückzuhalten und die weiteren Untersuchungen zum Tode Pat Tillmans damit zu blockieren.

Patrick Daniel "Pat" Tillman wurde nur 27 Jahre alt.