Von der Neuroethik zum Neurorecht?

Resümee

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Was auch immer man von Wortneuschöpfungen wie „Neurorecht“ halten mag, zeigt sich insoweit ein ähnliches Bild wie für die „Neuroethik“. Ganz gleich, ob man sich dafür einsetzen möchte, derartige (Teil-) Disziplinen an den Hochschulen einzuführen, sind doch die Themen, die man unter diesen Begriffen zusammenfasst, von enormer gesellschaftlicher Bedeutung. Dabei konnte unsere Tagung „Von der Neuroethik zum Neurorecht?“ zwar nicht die schwierigen Fragen, die im Wechselspiel von Neurowissenschaft, Psychologie und Psychiatrie, Philosophie und Rechtswissenschaft entstehen, endgültig lösen. Sie hat aber einerseits das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer interdisziplinären Zusammenarbeit geschärft und andererseits gezeigt, dass Vertreter aus der Philosophie, der Psychologie und der Rechtswissenschaft die Arbeiten der jeweils anderen für sich selbst fruchtbar machen können. Schließlich sollten diese Diskussionen nicht fernab der öffentlichen Aufmerksamkeit im Elfenbeinturm diskutiert werden. Es ist wichtig, die neuen empirischen Ergebnisse sowie die philosophischen und juristischen Resultate, die sich in den nächsten Jahren wohl noch vermehren werden, nicht aus den Augen zu verlieren.

Nachdem die vermuteten Auswirkungen der Hirnforschung für die Willensfreiheit schon seit mehreren Jahren diskutiert wurden, wird es in Zukunft von größerer Bedeutung sein, sich mit der Frage auseinander zu setzen, welche neurowissenschaftlichen Funde wirklich für unser menschliches Selbstverständnis von Relevanz sind. Zu der oft prophezeiten Revolution wird es wohl nicht kommen; vielmehr wird vieles nahtlos an das anknüpfen, was wir schon aus anderen Forschungsbereichen wissen.

Vielleicht lautet die Konsequenz einfach, dass man mit dem neuen Wissen über den Menschen bestehende Meinungen leicht revidiert und modifiziert. Es könnte sich etwa herausstellen, dass wir viel seltener aus den Gründen handeln, die wir selbst für handlungswirksam halten. Damit wären wir nicht gleich willenlose Automaten, wohl aber seltener frei, als es bislang den Anschein hat. Dann wäre auch die von manchen Protagonisten geforderte Abschaffung des strafrechtlichen Schuldbegriffs unnötig.

Werden bildgebende Verfahren in der Zukunft nicht mehr aus den Gerichtssälen wegzudenken sein? Werden die neuen Methoden zuverlässiger sein als das, was die forensische Psychologie in Sachen Lügendetektion entwickelt hat? Wenn ja, werden die Verfahren dann vielleicht so gut sein, dass sie aufgrund ihres Vordringens in den Kern der menschlichen Persönlichkeit die Menschenwürde verletzen und damit als verfassungswidrig einzustufen sind? Welche Einsatzmöglichkeiten eröffnen sich für das Zivilrecht, das in zahlreichen Kontexten vor dem Problem steht, Erklärungen vermeintlich Erklärungsunfähiger zu rekonstruieren (so etwa bei der Sterbehilfe)? Und wie ist die Patentierbarkeit von Gehirnaktivierungen zu bewerten? Die rechtlichen Facetten der neurowissenschaftlichen Forschung sind somit denkbar vielgestaltig. Zur Diskussion dieser Themen im Telepolis-Forum sind Sie jedenfalls herzlich eingeladen.