Kosovo: "Zeit für einen Neubeginn"

Interview mit Jan Oberg und Aleksander Mitic von der Transnational Foundation for Peace and Future Research (TFF)

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Der Verhandlungsprozess im Kosovo-Konflikt scheint komplett blockiert zu sein. Die albanische Seite fordert einen klar definierten Zeitplan, in dem die Unabhängigkeit der unter UN-Verwaltung stehenden Provinz von Serbien erklärt werden soll. Falls es nicht dazu kommt, hat Kosovos Premierminister Agim Ceku eine unilaterale Unabhängigkeitserklärung angekündig.

Die serbische Regierung hat auf der anderen Seite klar gemacht, dass sie unter keinen Umständen eine Unabhängigkeitserklärung akzeptieren wird. Sie argumentiert dabei mit der UN-Charta, welche die territoriale Souveränität von Staaten als ein Grundprinzip der internationalen Beziehungen schützt. Experten warnen vor einem neuen Gewaltausbruch im Kosovo, falls der diplomatische Prozess scheitert.

Jan Oberg und Aleksander Mitic von der Transnational Foundation for Peace and Future Research (TFF) in Lund (Schweden) kritisieren die internationale Gemeinschaft für den bisherigen Verhandlungsprozess und schlagen eine neue Herangehensweise vor. Beide sind Experten zum Kosovo-Konflikt. Das Interview wurde von Boris Kanzleiter geführt.

Alle Versuche den Kosovo-Konflikt zu lösen, sind bisher gescheitert. Sie kritisieren die internationale Gemeinschaft für ihr bisheriges Herangehen. Was ist falsch gelaufen?

Oberg/Mitic: In den vergangenen fast zwanzig Jahren wurde der Kosovo-Konflikt von der internationalen Gemeinschaft auf der Grundlage von drei kontraproduktiven Annahmen angegangen. Erstens glaubte man, dass man den Kosovo als einen speziellen Fall abgetrennt vom Rest des ehemaligen Jugoslawiens, Europas and allgemeineren Problemen der Weltordnung behandeln könne. Zweitens wurde Kosovo als eine politische Machtfrage behandelt und nicht als ein Fall für eine professionelle Konfliktlösung. Und drittens glaubte man, dass man die mangelhafte Konfliktanalyse und der Mangel an Vermittlung durch das „Frieden schaffende“ Nato-Bombardement von 1999 überspielen könnte.

Die USA, Europäische Union, Nato, Vereinigten Nationen und Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wären gut beraten, wenn sie endlich eingestehen würden, dass sie mit diesen drei Annahmen in der Sackgasse gelandet sind, wie die gegenwärtige Blockade im UN-Sicherheitsrat zeigt. Hier werden die Vorschläge des ehemaligen finnischen Präsidenten Martti Ahtisaari für eine „überwachte Unabhängigkeit“ durch die Drohung eines Vetos Russlands blockiert (Kostunica: "Sieg für Serbien und Russland"). Und es wäre gut, wenn die genannten internationalen Organisationen ihr Scheitern auch öffentlich zugäben. Sowohl Albaner als auch Serben fühlen sich heute gedemütigt, unfair behandelt und betrogen durch das Missmanagement der internationalen Spieler. Washington ist frustriert, weil es die schnelle Erzwingung der Unabhängigkeit nicht durchsetzen konnte. Moskau ist entschlossen, diese Erzwingung als ein Bruch des Völkerrechtes zu verhindern. Brüssel verwendet mehr Zeit darauf, den inneren Zusammenhalt der EU in dieser Frage zu sichern, als kreativ zu überlegen, wie man aus der Situation heraus kommt.

Was sollte Ihrer Meinung nach jetzt getan werden?

Der Sommer 2007 ist die Zeit für einen Neuanfang im Kosovo. Sollte auf der Grundlage der genannten falschen Annahmen weiter gemacht werden, könnte es zu ernsthaften Unruhen im Kosovo und an anderen Stellen der Welt kommen. Was jetzt benötigt wird, ist eine unparteiische und professionelle Vermittlung durch Länder, die Zivilgesellschaft und Individuen, die kein anderes Mandat haben, als den Parteien dabei zu helfen, ihren Konflikt zu lösen. Ein Konflikt hat dann eine nachhaltige Lösung gefunden, wenn beide Parteien alle kreativen Optionen untersucht und dabei einen Weg zu einem Zukunftsarrangement gefunden haben, das sie freiwillig akzeptieren und daher auch entschlossen sind, es zu implementieren.

Der Vermittlungsprozess und die Vermittler müssen von allen Seiten als unparteiisch und neutral betrachtet werden. Der Chefvermittler wird ein ziemlich großes Team von Leuten mit professionellem Fachwissen zur Region sowie in Konfliktanalyse, Vermittlung und Versöhnung benötigen. Das sind alles Kompetenzen, die viel wichtiger sind als ein Karrierediplomat zu sein - oder sagen wir ein ehemaliger Präsident. Aufgrund ihrer Charta und trotz ihrer “mission impossible” in Kosovo seit 1999 wären wohl die Vereinten Nationen der am besten geeignete Verhandlungsführer. Sie müsste eng mit der OSZE, der EU und anderen regionalen Organisationen zusammenarbeiten. Diese Organisationen sollten die Sicherheit bieten und den Verhandlungsprozess finanzieren, der gut ein oder zwei Jahre dauern könnte. Während dieser Zeit sollte keine der Parteien Lösungen mit einer Pistole in der Hand erzwingen wollen.

Eile gefährdet die Qualität des Prozesses

Sie sagen, ein neuer Verhandlungsprozess würde genug Zeit, Teilnehmer und Raum benötigen. Was meinen Sie damit konkret?

Es wird genug Zeit benötigt, weil Eile diametral zur Qualität des Prozesses steht. Bei den Gesprächen in Wien unter der Führung von Martti Ahtisaari wurden die Verhandlungsrunden in immer kürzeren Interwallen geführt, weil der Druck, den Prozess zu einem Ende zu bringen, erhöht wurde. Der Grund dafür war zu einem großen Teil der Zeitdruck, der von der US-Administration, von UNMIK Chef Joachim Rücker und von Ahtisaari selbst aufgebaut wurde.

Es werden genügend Teilnehmer benötigt, weil man den Argumenten, Notwendigkeiten und Interessen aller Seiten genügend Raum gegeben muss. Die Zukunft des Kosovo wird die ganze Region betreffen und deshalb gibt es viele Teilnehmer, die Interessen haben. Es ist nicht plausibel, dass nur Regierungen versuchen sollten, Frieden zu schaffen. Ein demokratischer Frieden wird geschaffen, wenn die Zivilgesellschaft ihre Interessen und Kreativität einbringen kann. Während die Diplomaten wieder abreisen, müssen die Bürger bleiben und mit dem Ergebnis des Prozesses leben. Es sollten Vertreter wie die der Roma, welche eine Beteiligung fordern und zurückgewiesen wurden, sowie Nichtregierungsorganisationen, Menschenrechtsorganisationen und Flüchtlingsorganisationen eingeladen werden, um ihre Interessen einzubringen.

Es gibt bestimmte Ideen aus dem Ahtisaari-Prozess, die als Grundlage für eine Lösung beibehalten werden könnten. Dazu zählen der Schutz der Minderheitenrechte sowie des religiösen und historischen Erbes. Die Vorschläge aus Belgrad sollten nicht automatisch als unterentwickelt und unrealistisch zurückgewiesen werden. Auf der anderen Seite muss Belgrad seine Vorschläge weiter operationalisieren und sie als einen wirklichen Anreiz für Pristina sowie als eine konstruktive Alternative für die internationale Gemeinschaft präsentieren. Belgrad muss vor allem erklären, wie es einen substantiellen Mehrwert für alle Bürger Kosovos bieten will, zum Beispiel in den Bereichen der Energieversorgung, der Infrastruktur und im Handel. Gleichzeitig muss Belgrad sicherstellen, dass es nicht als ein Hindernis für die Kosovo-Albaner betrachtet wird, die die Kontrolle über ihr tägliches Leben und die Zukunft übernehmen wollen.

Es muss schließlich genügend Raum für den Verhandlungsprozess vorhanden sein, weil die Lösung in einem machbaren Rahmen erzielt werden muss. Die große Mehrheit der internationalen Akteure insistiert auf die Legalität und Legitimität einer Resolution des UN-Sicherheitsrats und der Normen der UN-Charta. Kosovo sollte keine Ausnahme von ähnlich gelagerten Fällen sein. Es wurde sehr klar gemacht, dass der UN-Sicherheitsrat die territoriale Integrität Serbiens nicht ignorieren kann. Es sollte daher als ein Ausgangspunkt akzeptiert werden, dass das Völkerrecht respektiert werden muss und der Raum für eine Lösung zwischen der territorialen Integrität eines Staates und dem Recht der Mehrheit auf Selbstregierung zu suchen ist. Wenn die Parteien allerdings einen friedlichen Weg zu einem unabhängigen Kosovo finden können, der für Serbien, seine Bürger und die Bürger Kosovos akzeptabel ist, sollte das niemand ablehnen.

Der formale Status der Provinz ist viel weniger wichtig als die Qualität des Alltagslebens der Menschen

Sie haben bereits erwähnt, dass die USA und EU im Juli unter dem Druck der russischen Position eine Resolution aus dem UN-Sicherheitsrat wieder zurückgezogen haben, welche zur Unabhängigkeit Kosovos geführt hätte. Stattdessen hat sich der UN-Sicherheitsrat darauf verständigt, eine neue Runde von Verhandlungen unter der Leitung der informellen Balkan-Kontaktgruppe einzuleiten, die aus den USA, Russland und wichtigen EU-Ländern besteht. Am vergangenen Wochenende haben die drei neuen Vermittler, der deutsche Diplomat Wolfgang Ischinger als Repräsentant der EU, Frank Wisner (USA) und Alexander Bozan-Chartschenko (Russland) eine erste Reise nach Belgrad und Pristina unternommen. Am 30. August sollen die neuen Verhandlungen in Wien starten. Am 10. Dezember soll dem UN-Sicherheitsrat berichtet werden. Wie sehen Sie die Erfolgsaussichten dieser neuen Mission, welche den von Ahtisaari geleiteten Prozess endgültig beendet?

Oberg/Mitic: Der Erfolg dieses Prozesses wird hauptsächlich von der Ernsthaftigkeit und Ausgewogenheit der internationalen Akteure abhängen, die in den Vermittlungsprozess einbezogen sind. Wenn es in dem Prozess nur darum geht, Zeit zu gewinnen und alternative Wege zu suchen, um eine einseitige Lösung durchzusetzen, wird er mit Sicherheit scheitern. Leider deuten einige Stellungnahmen aus Washington genau auf diesen Weg hin, wenn erklärt wird, Kosovo würde "auf diesem oder einem anderen Weg" oder "auf einem kontrollierten oder unkontrollierten Weg" in jedem Fall unabhängig. Solche Erklärungen führen sicherlich nicht zu richtigen Gesprächen.

Außerdem haben sowohl US-Repräsentanten als auch Führer der kosovo-albanischen Bevölkerung in Pristina schon vor langer Zeit erklärt, das "Spiel" sei zu Ende und sie hätten die Unabhängigkeit gewonnen. Jetzt ist die USA mit einem neuen Vermittlungsprozess konfrontiert und sie ist nur einer von drei Akteuren neben der EU und Russland während die kosovo-albanischen Politiker sich bereits im Wahlkampf für die Wahlen im November befinden. Dies könnte ihre ohnehin geringe Bereitschaft zu einem Kompromiss weiter verkleinern.

Sie kritisieren die fast ausschließliche Konzentration auf die Frage des völkerrechtlichen Status des Kosovo im laufenden Verhandlungsprozess. Wie könnte eine andere Herangehensweise aussehen?

Oberg/Mitic: Tatsächlich ist die Opposition Unabhängigkeit des Kosovo gegen Integration der Provinz in Serbien eine typische Machtfrage. Um eine Perspektive auf eine Konfliktlösung zu entwickeln, sollten zwei neue Schwerpunkte gesetzt werden. Erstens sollte die Frage gestellt werden, um was es im Konflikt wirklich geht, und zweitens, wie Kosovo, Serbien und die benachbarten Länder sich so entwickeln können, dass ein künftiges Leben in Kosovo gut für alle sein wird, die dort leben.

Letztlich ist der formale Status der Provinz viel weniger wichtig als die Qualität des Alltagslebens der Menschen. Weder Unabhängigkeit noch Re-Integration können für sich betrachtet ein gutes Leben für alle garantieren. Für beide Seiten waren die Positionen Unabhängigkeit bzw. Re-Integration für eine viel zu lange Zeit das Mantra. Was dagegen alle Menschen in der Region wollen, benötigen und mit Recht verdienen, sind Dinge wie Schulen, Gesundheitsfürsorge, Bewegungsfreiheit, Geschlechtergleichberechtigung, gute wirtschaftliche Möglichkeiten, Beschäftigung und soziale Sicherheit. Vor allem müssen sie Frieden schließen, aufhören sich zu hassen und eine Versöhnung mit ihren Nachbarn beginnen. Ohne das wird keine Status Lösung für lange Zeit halten.

Wir denken, man sollte mit diesen Dingen anfangen und am Schluss die Frage des Status stellen. Welcher Status sollte Kosovo haben, um am besten diese wünschenswerten Dinge für alle in der Region zu erreichen? Ein solches Herangehen, das auf Substanz und menschliche Bedürfnisse zielt und nicht auf Formalität würde die Bürger in einer neuen demokratischen Weise einbeziehen. Die Lösungen, welche gefunden werden, um diese Ziele der Verbesserung der Lebensqualität zu erreichen, könnten die Konfliktparteien dazu bringen, einem freiwilligen umfassenden Abkommen zu zustimmen. Auf diese Weise würde auch eine ernsthafte Absicht entstehen, dieses Abkommen umzusetzen. Das wäre sicher nicht einfach. Aber im Gegensatz zur gescheiterten Machtpolitik und Konflikt-Missmanagement würde eine solche prinzipielle Art und Weise mit dem Konflikt umzugehen, die Hoffung für Frieden, Konfliktlösung und wirkliche menschlicher Aussöhnung bedeuten.

Ihre Vorschläge hören sich vernünftig an. Aber sind sie auch realistisch? Wir sollten nicht vergessen, dass die politischen Eliten sowohl in Pristina als auch in Belgrad ihr politisches Überleben an den formellen Status geknüpft haben. UCK Veteranen drohen mit einem neuen bewaffneten Aufstand, falls die Unabhängigkeit bis zum Ende diesen Jahres nicht erreicht ist. Was könnte die internationale Gemeinschaft tun, um die Akteure zu überzeugen, sich auf einen neuen Verhandlungsprozess einzulassen, der nicht hauptsächlich um die Status-Frage kreist?

Oberg/Mitic: Es ist in der Tat schwierig, von den beiden Seiten eine Änderung ihrer Positionen zur Statusfrage zu erwarten, zumindest im Moment. Aber eine mögliche und realistische Änderung der Perspektive kann von den internationalen Akteuren erwartet werden. Diese neue Perspektive könnte auch darin bestehen, die Warnungen an diejenigen zu erhöhen, die gerne die Frustrationen ausnutzen wollen. Vor allem einige US-Repräsentanten sollte die Line "Unabhängigkeit auf die eine oder andere Weise" zurückweisen. Die EU-Repräsentanten sollten das Argument für die Integration Kosovos in die Strukturen der Europäischen Union "mit einem Status oder einem anderen" verstärken. Sowohl Washington als auch Brüssel sollten versuchen, die Bedeutung des formalen Status zu relativieren, vor allem im Kosovo selbst, wo es extrem hohe Erwartungen an den Status gibt. Dies hat dort zu einer Obsession über die Staatlichkeit geführt anstatt sich auf die Frage des "Tages nach dem Status" zu konzentrieren.

Welche Perspektiven für Kosovo und die Region sehen Sie für den Fall, dass die Verhandlungen scheitern?

Oberg/Mitic: Keine Seite kann erwarten, dass sie das Maximum ihrer Ziele erreicht. Jede Lösung, die von einer der beiden Seiten komplett zurückgewiesen wird, wird zu Instabilität in der Region führen. Anstatt einer Lösung werden wir möglicherweise einen "eingefrorenen Konflikt" mit einer de facto Spaltung der Provinz bekommen. Das schlechteste Szenario beinhaltet Gewalt. Dies wäre eine Katastrophe, mit der beide Seiten und die ganze Region verlieren würden. Das beste Szenario würde dagegen einen Kompromiss beinhalten, in dem beide Seiten gewinnen. Er würde auf dem Rahmen aufbauen, den wir skizziert haben, und der EU eine zentrale Rolle bei der Bereitstellung der Anreize zuweisen.