Die zweite Welt ist noch eine Geisterstadt

Das Metaversum Second Life ist bestenfalls eine dörfliche Idylle, aber keine globale Megacity

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Die zweite Welt ist zwar interessant, aber sie lädt offenbar noch nicht wirklich zum weiteren Aufenthalt ein. Zwar haben sich schon viele Unternehmen in Second Life angesiedelt, selbst Botschaften gibt es dort und die Liverpooler Philharmoniker geben Konzerte, für Unterhaltung sorgen Terroristen und Rüpel, Sex und Crime, aber auch Pleiten, wie dies gerade bei der Bank Ginko Financial der Fall war (Virtuelle Banken-Pleite macht Avatare mittellos. Trotz Medienhype wird das lange angekündigte Metaversum, das sich als Second Life im Web 2.0-Hype realisierte, schon wieder als Wüste bezeichnet.

Allerdings war Second Life vielleicht schon immer mehr Hype als Wirklichkeit, schon immer mehr virtuell als reale Spielwiese. Schon vor längerer Zeit ging der Witz herum, dass man in Second Life vor allem Journalisten auf der Suche nach dem wirklichen Leben im Metaversum antraf. Die mediale Aufmerksamkeit hatte ihre Folgen. Stetig und explosiv stieg die Zahl derjenigen an, die sich anmeldeten, sich einen Avatar besorgten und sich einmal, mühsam sich orientierend, schön parodiert hier, in der bunten Welt umsahen – um in aller Regel nicht mehr wiederzukommen.

Weil die Nutzer angeblich exponentiell zunahmen und manche angeblich wirkliches Geld oder wenigstens globale Aufmerksamkeit verdienten, zog es immer mehr Neugierige in die schöne, neue Welt im Internet. Allerdings fand kein Exodus statt. Wie jeder selbst bemerken konnte, bot die zweite Welt mit ihrem Inselarchipel meist keine urbane Kultur. Man streifte durch Architektur, aber oft ziemlich einsam. Angeblich sollen jetzt 40.000 Menschen online sein. Fast 9 Millionen "Einwohner" verzeichnet man, in den letzten zwei Monaten sollen sich 1,6 Millionen, in den letzten sieben Tagen 450.000 Bewohner eingeloggt haben.

Im Prinzip und theoretisch könnte die zweite Welt tatsächlich verführerisch sein, in der vieles möglich wäre, was in der ersten Welt nicht funktioniert. Mit einer neuen Identität und einem Wunschkörper taucht man in einer Welt auf, in der man einen Neustart hinlegen und all die verrückten Erfahrungen machen kann, die man im ersten Leben nur in der Fantasie erlebt. Aber wenn es langsam, mühsam, uninspiriert und einfach zu künstlich zugeht, wenn jeder Comic oder jedes Buch mehr bietet, dann scheut man die Arbeit, ein Leben als Avatar zu führen, wenn dieselben Ergebnisse im Internet oder auch anderswo einfacher und schneller zu haben sind. Ein Avatar ist halt nur ein Bild, wenn er mit seinem Besitzer nicht wirklich fühlbar verbunden ist.

Die virtuelle Stadt scheint eine Geisterstadt zu sein. Die fast neun Millionen Einwohner sind in der Mehrzahl Geister, die nur in der Statistik herumspuken. Übrigbleiben weltweit einige Zehntausend Pioniere der digitalen Urbanität oder des digitalen Archipels, bestenfalls also eine Kleinstadt, im Verhältnis zur möglichen digitalen Metropole ein Kaff. Wirklich von Massen bevölkerte Orte sind auch schon technisch unmöglich, weil jeder der Server nur 70 Avatare in einer Region gleichzeitig verarbeiten kann. Damit ist man auf der Ebene der Horde in vorgeschichtlicher Zeit. Und oft geht trotzdem alles in der technisch bedingten Inselwelt unendlich langsam.

Kein Wunder, dass sich Unternehmen schon wieder zurückgezogen haben oder ihre Niederlassungen verwaist sind. Was wollen die Besucher? Sie wollen kostenlos die virtuelle Währung einheimsen und gehen zu Sex-Angebote. Beides ist in Second Life nicht sonderlich befriedigend. In die Coca Cola-Niederlassung verirren sich hingegen nur ein paar Avatare. Wired berichtet denn auch, dass 85 Prozent der Avatare nur noch digitale Leichen sind. Und zieht das Fazit:

"Companies say, 'It's an experiment' — but what are they learning?" Tobaccowala asks. "Basically, they're learning how to create an avatar and walk around in Second Life." Which is fine if that's what you want to do. Just don't expect to sell a lot of Coke.

Zukunftsträchtig? Obgleich Neal Stephenson in Snow Crash ein dicht bevölkertes Metaversum imaginierte, zog man für das Buch eine Darstellung vor, die einen einsamen Avatar vor einer Stadt zeigt.

Immerhin, in Bilds The Ava-Star Ausgabe 34 - ist noch alles in Ordnung. Es geht um das Verbot von Glücksspielen und natürlich wie im wirklichen Leben der Bild-Zeitung um die erfreulichen Ansichten der weiblichen Avatare, also um Bikini-Moden, nordische Aussichten oder viel Haut.

Bleibt die zweite Welt, die im Unterschied zu den gut besuchten virtuellen Spielewelten, keine vorgebenene Dramaturgie hat, eine ausgestorbene Stadt, wird sie gar zu einer shrinking city? Second Life ist sicherlich nur ein Anfang, aber es gleicht einer Goldgräberstadt, die schnell wieder verlassen wird. Doch die Goldgräberstädte im Real Life sind kein Exempel für das explodierende Wachstum der Städte, das gleichzeitig stattgefunden hat. Für eine virtuelle Reproduktion des wirklichen urbanen Lebens ist noch mehr an technischer Leistung notwendig, schließlich muss zum Exodus auch mehr als nur ein Aavatar-Bild mitgenommen werden. Inzwischen umhüllt die virtuelle Welt das urbane Leben wie eine Blase und schafft allmählich die Grundlage für einen Übertritt. Snow Crash mit dem utopischen Bild des Metaversums ist gerade einmal 15 Jahre alt.