Zwischen Kat und Katjuschas

Human Rights Watch veröffentlicht Bericht zu Kriegsverbrechen in Somalia

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Human Rights Watch veröffentlichte in der letzten Woche den 113 Seiten starken Bericht "Shell-Shocked: Civillians Under Siege in Mogadishu", in dem die Kämpfe um Mogadischu im März und April dieses Jahres aufgearbeitet werden. Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass sich beide Seiten schwere Menschenrechtsverletzungen zuschulden kommen ließen.

Im Dezember 2006 vertrieben äthiopische Truppen in einer Blitzoffensive mit amerikanischer Unterstützung die Union Islamischer Gerichte aus Mogadischu und den meisten anderen Gebieten in Südsomalia. Seit Januar 2007 führt ein Bündnis, dem unter anterem die al-Shabaab-Miliz der Islamischen Gerichte angehört, fast täglich Angriffe auf äthiopische Truppen und auf die Streitkräfte der Übergangsregierung durch. Dabei griffen die Aufständischen mehrfach auf Selbstmordattentäter zurück und töteten auch Zivilisten. Außerdem feuerten sie Mörser aus dicht besiedelten Gebieten ab.

Am 21. und 22. März versuchten Truppen der Übergangsregierung eine Entwaffnungsoperation, bei der sie gefangen genommen und getötet wurden. Ihre Leichen verstümmelt man und schleppte sie wie die der amerikanischen Soldaten im Oktober 1993 durch die Straßen. Am 29. März reagierten die äthiopischen Truppen mit dem Beschuss von Hochburgen der Aufständischen mit Katjuscha-Raketen, Mörser und Artillerie.

Laut Human-Rights-Watch-Bericht machten sie dabei keine sichtbaren Anstrengungen, zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten zu unterscheiden. Daraufhin flüchteten Zehntausende aus der Stadt. Nach vier Tagen vereinbarten die Äthiopier mit Clanältesten des Hawiye-Clans, in dessen Reihen die Union der Islamischen Gerichte die meisten Unterstützer hat, einen Waffenstillstand, der bis zu 18. April hielt. An diesem Tag begannen die äthiopischen Truppen eine bis zum 26. April dauernde Offensive, die Gebiete im Norden Mogadischus unter ihre Kontrolle bringen sollte und bei der laut Human Rights Watch ähnlich vorgegangen wurde. Die Organisation schätzt die zivilen Todesopfer aus den beiden Offensiven auf 400 bis 1.300.

Clans

Die Somalis führen ihre Abstammung auf Einwanderer von der Arabischen Halbinsel zurück. Linguistisch und genetisch deutet jedoch einiges auf eine Herkunft aus Äthiopien hin. Alle Somalis sprechen dieselbe Sprache. Lediglich in einigen wenigen Flecken an der Küste und im südlichen Landesinneren leben Nachfahren ehemaliger Sklaven und Händler, die Kiswahili oder andere Bantusprachen sprechen. Der Islam ist in dem Land praktisch die einzige Religion. Trotzdem ist Somalia alles andere als von einer einheitlichen Identität geprägt: Die wichtigste soziale Einheit in Somalia ist nämlich der patrilineare Clan ("Tol").

Die Mitglieder eines Clans glauben an eine gemeinsame Abstammung. Besonders sichtbar wird die Künstlichkeit dieser Abstammungsvorstellungen wenn Clans militärische Bündnisse eingehen, und dabei die Vorfahren des stärkeren Clans als ihre eigenen annehmen. Trotzdem sind solche Bündnisse nicht sehr haltbar und werden ohne größere Anlässe wieder gebrochen.

Die bedeutendsten Clans sind die Hawiye mit etwa 25 % Bevölkerungsanteil, die Isaaq mit etwa 22 %, die Darod und die Rahanweyn mit jeweils ungefähr 20 % sowie die Dir mit etwa 7 %. Die Rahanweyn gliedern sich in Digil und Mirifle, die beide ein sehr stark ausgeprägtes eigenes Identitätsprofil haben.

Aber auch die anderen Clans gliedern sich in zahlreiche Lineages ("Reer"). Diese Einheit ist rechtlich zuständig für den Schutz von Leben und Eigentum, nimmt "Diyya" (Blutgeld) und zahlt es aus. Verbunden mit Streit um Vieh, Wasser, Weiderechte, Posten, Subventionen und Hilfslieferungen führt dies zu Blutfehden, die über Generationen hinweg andauern.

Somalische Clans

Somalia wurde relativ spät kolonisiert. Dabei wurde das Siedlungsgebiet aufgeteilt zwischen England (Kenia und Somaliland im Norden), Frankreich (Djibuti, das im Süden von Somalis und im Norden von Afar besiedelt ist), Italien, das das Kernstück kolonisierte und Äthiopiens Kaiser Menelik II, der sich nach einem Sieg über Italien in Adowa den Ogaden sichern konnte. Vor allem die Dhulbahante-Darod widersetzten sich der Kolonialisierung. Ihr Führer Mohammed Abdullah Hassan, der "Mad Mullah" leistete von 1899–1920 Widerstand.

Die relativ kurze Kolonialzeit hinterließ, außer einer gewissen Verstädterung, wenig Spuren. 1960 wurden das italienische und das nördliche britische Kolonialgebiet gemeinsam als ein Staat unabhängig, der südliche britische Teil wurde Kenia zugeschlagen. Von 1960 bis 1964 versuchte eine somalische Guerilla in Kenia erfolglos einen Anschluss zu erzwingen. Djibuti wurde 1977 formell unabhängig – allerdings ist es als Staat wirtschaftlich kaum existenzfähig und lebt derzeit hauptsächlich von Zahlungen für die Stationierung unter anderem deutscher und französischer Truppen.

Siad Barre

1969 putschte sich Siad Barre, ein Marehan-Darod, an die Macht. Solange Äthiopien eine vom Westen gestützte Monarchie war, suchte Barre die Nähe zur Sowjetunion - nach einem Umsturz in Addis Abeba versuchte er sich 1976 bis 1978 an einer Eroberung des Ogaden. Schon 1964 hatte Somalia dies versucht und war gescheitert. Auch der zweite Ogadenkrieg brachte dem Land keine dauerhaften Gebietsgewinne, kostete ihm aber eine Menge Ressourcen und schwemmte zwischen 650.000 und 1,5 Millionen Flüchtlinge ins Land. Ursache dafür war neben dem Krieg auch eine Dürre im Ogaden.

Wenn Militärdiktatoren Kriege verlieren, dann wittern häufig andere ihre Chance: So kam es auch 1978 in Somalia, wo Majerteen-Darod-Offiziere einen Putschversuch wagten, der jedoch scheiterte. Nach der Niederlage wandte sich Barre den USA zu, die ihn im folgenden Jahrzehnt militärisch unterstützten. Im Gegenzug überließ der Diktator den USA Flugplätze und Hafenanlagen und richtete seine Wirtschaftspolitik an den Vorgaben des Internationalen Währungsfonds aus.

Der Majerteen-Darod Abdullahi Yusuf Ahmed, einer der Putschisten, gründete die Somali Salvation Democratic Front (SSDF) mit der er von Äthiopien aus nach Mudug, Galguduud und Hiiraan eindrang. Angehörige des Isaaq-Clans verbanden sich gegen Barre zum Somali National Movement (SNM), worauf dieser 1988 Burao und Hargeysa bombardieren ließ. 1989 verlor der Diktator auch noch die Unterstützung des Hawiye-Clans, aus dem der United Somali Congress (USC) hervorging, der die Macht übernahm, als Barre im Januar 1991 aus Somalia floh. Die Hawiye spalteten sich jedoch bald in Anhänger Ali Mahdi Mohammeds, der sich zum Präsidenten erklärte, und Mohammed Farah Aidids, der eine Oberhoheit Ali Mahdi Mohammeds nicht anerkennen wollte.

Im Norden riefen die Isaaq die Unabhängigkeit des ehemals britischen Teils von Somalia aus, der in großen Teilen mit ihrem Siedlungsgebiet übereinstimmte. In Anlehnung an die alten britische Bezeichnung nannten sie den neuen Staat "Somaliland".

Im Süden schuf sich derweil Siad Barres Schwiegersohn Siad Hersi einen eigenen Machtbereich. Krieg und Dürre führten vor allem in diesen Gebieten zu einer Hungersnot. Multinationale Truppen sollten daraufhin in der "Operation Restore Hope" die Verteilung von Lebensmitteln sichern (was gelang) und in der "Operation Continue Hope" das Land befrieden und staatliche Strukturen aufbauen (was damit endete, dass Somalis verstümmelte amerikanische Soldaten durch die Straßen schleiften).

Den Isaaq in Somaliland gelang es 1996 aufständische Dir und Darod zu unterwerfen und in ihrem Staat eine Währung einzuführen und Pässe auszustellen. Der Darod Abdullahi Yusuf Ahmed, der das Puntland beherrschte, versuchte die von Darod besiedelten Gebiete des Isaaq-Staates zu erobern. 2004 ließ er sich zum Präsidenten der bis zum Einmarsch Äthiopiens relativ machtlosen Übergangsregierung von Somalia wählen.

Im übrigen Teil lieferten sich der Marehan-Darod Hussein Mohammed Farah, ein Sohn Aidids, die Rahanweyn Resistance Army (RRA), die Juba Valley Alliance (eine Bündnis aus Habre-Gedir-Hawiye und Ogadeni-Darod), sowie andere Gruppen fast ständige Auseinandersetzungen. Am schlimmsten betroffen war Mogadischu, wo einzelne Clans mit ihren Milizen einzelne Viertel beherrschten. Auch innerhalb der Clans gab es schwere Auseinandersetzungen, etwa zwischen Abgal- und Habre-Gedir-Hawiye.

Die Union Islamischer Gerichte

In dieses Kriegschaos stieß 2006 die Union islamischer Gerichte ("Midowga Maxkamadaha Islaamiga"), die in einem Feldzug, der dem der Taliban ähnlich war, große Teile des Landes inklusive der Hauptstadt eroberte. Ihre Macht hatten die einzelnen Scharia-Gerichte bereits seit Mitte der 1990er langsam vergrößert, als sie begannen, mit ihren bewaffneten Gerichtsdienern Teile der Hauptstadt zu kontrollieren. 2000 schmiedeten sie ein Bündnis, das clanübergreifend sein sollte, obwohl es seine stärkste Basis bei den Hawiye hatte.

Die Rolle, die Pakistan für die Taliban spielte, nahmen für die Scharia-Truppe gleich mehrere Länder ein, die man offiziell selten in einer Reihe sieht: Neben dem mit Äthiopien in einen Kleinkrieg verwickelten Eritrea, lieferten auch Djibuti, Ägypten, Saudi-Arabien und der Iran Waffen und Logistik. Als Gegner der Union formierte sich ein Warlord-Bündnis mit dem etwas irreführenden Namen „Allianz für die Wiederherstellung des Friedens und gegen den Terrorismus“, das jedoch trotz Unterstützung durch die USA militärisch versagte. Nach ihrem Sieg im Sommer 2006 öffnete die Union der Islamischen Gerichte Hafen und Flughafen der Hauptstadt, die über 10 Jahre lang außer Betrieb waren.

Die USA warfen der Union Verbindungen zur von Saudis finanzierten al-Itihaad al-Islamiya, Terroranschlägen auf die US-Botschaften in Nairobi und Dar es Salaam sowie zu al-Qaida vor. Wie weit der Islamismus der Union Islamischer Gerichte tatsächlich ging, ist nicht ganz klar: einerseits verboten die Gerichte die Volksdroge Kat und ließen Kinos, Videotheken und Tanzhallen schließen, andererseits betonte die Union auch immer wieder die Unabhängigkeit der einzelnen Richter, die die Scharia angeblich von gemäßigt-traditionell bis radikal salafistisch auslegten. Aushängeschild der Moderaten war Sharif Sheikh Ahmed, das der Radikalen der von den USA als Terrorist gesuchte Hassan Dahir Aweis. Inwieweit Unterschiede in der Rechtsauslegung nach der Schaffung einer obersten Instanz im Oktober 2006 noch aufrecht erhalten hätten werden können ist allerdings fraglich.

So schnell die Herrschaft für die Union gewonnen war, so schnell war sie auch zerronnen: Truppen der vorher relativ bedeutungslosen Übergangsregierung drangen mit erst noch dezenter äthiopischer Unterstützung in die von der Union der Islamischen Gerichte eroberten Gebiete vor. Als daraufhin Hassan Dahir Aweys den Dschihad aus- und zur Eroberung des Ogaden aufrief, marschierte Äthiopien in die von der Union beherrschten Gebiete ein und zerschlug ihre Herrschaft. Nach der Niederlage stellten sich die ehemaligen Milizen der Union allerdings schnell auf einen Guerillakrieg um.