"Gentrification" und "Prekarisierung"

Im Zusammenhang mit der Internetrecherche des BKA, die zur Festnahme des Berliner Soziologen Andrej H. geführt haben soll, gibt es noch viele offene Fragen, die auch von der Anwältin des H., Christina Clemm, nicht beantwortet werden.

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Clemm hatte an die taz die Information lanciert, dass aus den Ermittlungsakten, die sie am Dienstag erstmals einsehen durfte, hervorgehe, dass das Verfahren gegen den Berliner Soziologen auf eine "Internetrecherche des Bundeskriminalamtes mit Hilfe des Suchportals Google" zurückgehe. Danach suchte das BKA "nach bestimmten Stichworten, die auch die 'militante gruppe' in ihren Bekennerschreiben benutzt." Nach Angaben der Anwältin befinden sich auch "Begriffe wie 'Gentrification' oder 'Prekarisierung' darunter. Die Verwendung dieser soziologischen Standardbegriffe, die bereits ihren Weg in die Alltagssprache fanden, löste eine Welle der Empörung unter Sozialwissenschaftlern aus.

Auf der Jahrestagung der American Sociology Association verabschiedeten 60 namhafte Soziologen, darunter Mike Davis, einen an die Bundesanwaltschaft gerichteten offenen Brief, in dem sie sich "gegen den unglaublichen Vorwurf [wenden], die wissenschaftliche Tätigkeit und das politische Engagement sei als intellektuelle Mittäterschaft in einer angeblichen terroristischen Vereinigung zu bewerten." Es sei, so die Professoren, "unerhört" und beruhe auf "abenteuerlichen Analogieschlüssen", aus wissenschaftlicher Arbeit eine Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe zu konstruieren. Aus diesen Gründen forderten sie die sofortige Freilassung des Berliner Soziologen.

Zwei der weltweit bedeutendsten Soziologen, Saskia Sassen von der Columbia University und Richard Sennett von der London School of Economics veröffentlichen zusätzlich einen Kommentar, in dem sie in einem für Wissenschaftler bemerkenswert deutlichen Tonfall darauf hinweisen, dass sich das BKA mit den Ermittlungen gegen H. in der Sphäre "vager Verdächtigungen und irrationaler Reaktionen" befinde. "Natürlich", so Sassen und Sennett, "kann es sein, dass die Polizei über handfeste und nachvollziehbare Beweise verfügt, die sie bislang zurückhält", doch, so die beiden Soziologen, "ihre öffentlichen Verlautbarungen deuten eher auf eine Farce hin":

"Die Gesetze, die gegen echte Gefahren gedacht waren, werden nun ausgelegt, um amorphen Ängsten zu begegnen. Anstelle echter Polizeiarbeit wollen die Autoritäten der Gefahr, die sie fürchten, einen Namen geben - irgendeinen Namen. Der Ausnahmezustand untergräbt die Legitimität von Staaten. Wenn Fälle so verfolgt werden wie dieser, dann läuft eine Regierung Gefahr, ihre Autorität zu verlieren, und beraubt sich damit der Möglichkeiten, wirkungsvoll gegen echte Terroristen vorzugehen.

Beredtes Schweigen

Was allerdings auf ein mögliches Vorliegen von handfesten und nachvollziehbaren Beweisen hindeutet, sind weniger die Stellungnahmen des BKA und der Justiz als die der Anwältin Christina Clemm, die Andrej H. vertritt und für weitere Auskünfte zu der von ihr ins Spiel gebrachten Internetrecherche des BKA auch auf mehrfache Nachfrage hin nicht zur Verfügung stand: Dabei wäre es für eine adäquate Beurteilung des Sachverhalts durchaus notwendig zu wissen, mit wie vielen Begriffen und Kombinationsvarianten die Suchen durchgeführt wurden, ob auch mit größeren Textbrocken gegoogelt wurde - und welche Zuordenbarkeiten sich dadurch ergaben. Ebenfalls unbeantwortet ließ Clemm die Frage nach einer Auflistung der Begriffe, mit denen das BKA suchte und ob aus den Akten ersichtlich ist, nach welchen Kriterien diese ausgewählt wurden; außerdem, an welcher Platzierung die Texte des Stadtsoziologen zum Zeitpunkt der Abfrage bei Google standen.

Den Ermittlungsbehörden wurden nach ihrer Google-Suche sowohl eine (fast ein Jahr lang dauernde) Beobachtung des Stadtsoziologen als auch eine Videoüberwachung der Hauseingänge und ein stehender Lauschangriff genehmigt. Aber auch auf die Frage, ob und welche anderen Ermittlungsergebnisse zur Internetrecherche hinzukamen, schwieg Rechtsanwältin Clemm bis jetzt - Gleiches gilt für die Anfrage, ob und in welcher Form auch eine Telefon- und/oder Internetüberwachung stattfand.

Sollte das BKA die Maßnahmen tatsächlich auf eine Google-Suche mit wenigen und allgemein verbreiteten Begriffe genehmigt bekommen haben, dann wäre hier ein mehr als gefährliches Feld aus technischer Inkompetenz und politischer Willkür betreten worden: immerhin lässt sich auch Wolfgang Schäuble mit einer Kombination weniger schlagkräftiger Terrorbegriffe leicht nach oben googeln.

Das auffällige Schweigen der Anwältin deutet allerdings darauf hin, dass die Suche nicht nur mit den Begriffen "Gentrification" und "Prekarisierung" durchgeführt wurde. Allerdings wäre auch bei Vorliegen einer Ähnlichkeit ganzer Passagen kein Beweis für eine Zusammenarbeit oder Zugehörigkeit zu dem ominösen Verein namens 'militante gruppe' erbracht - ebenso gut möglich wäre ein Vorbildcharakter der Texte des festgenommenen Soziologen. Sogar, wenn die Bekennerschreiben älter als dessen Texte wären, könnte es sich ebenso gut um einen Fall von akademischem Plagiarismus handeln, wie um ein Formulieren für die "militante gruppe". Hinzu kommt, dass sich identische Formulierungen oder sogar ganze Texte im Web in den verschiedensten Zusammenhängen finden lassen - häufig weder mit Wissen noch mit Zustimmung des Autors.

Treffen ohne Mobiltelefon und Zugang zu Bibliotheken

Der Soziologe Andrej H. war am 1. August wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung inhaftiert wurden. Am Tag davor waren in Brandenburg drei Männer festgenommen worden, die angeblich einen Brandsatz unter ein Bundeswehrfahrzeug legen wollten. Das BKA schrieb diese versuchte Brandstiftung einem ominösen Verein namens "militante gruppe" zu, dem es insgesamt mehr als zwei Dutzend Brandstiftungen vorwirft. Mit den Ermittlungen gegen diesen Verein wurde bereits vor sechs Jahren begonnen. Weil sich im Vereinsregister anscheinend nichts fand, machten sich die Fahnder auf die Suche mit Google und entdeckten schließlich Texte des Soziologen.

Gestern ordnete der Ermittlungsrichter im Fall H. Haftverschonung gegen Auflagen an, worauf der in einer Einzelzelle einsitzende Soziologe aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Seitdem wird er von seiner Anwältin vor der Presse abgeschirmt.

Nach Aktenlage soll H. einen der Männer, denen die Brandstiftung vorgeworfen wird, zweimal getroffen haben. Allerdings geht aus den Dokumenten offenbar nicht hervor, was bei dem Treffen gesprochen wurde. Nach dem alten Gemeinplatz, dass jeder Mensch jeden anderen über höchstens sechs Ecken kennt, ist ein bloßes Treffen jedoch ein sehr vager Verdacht. Bundespräsident Horst Köhler z.B. traf vor wenigen Monaten den Ex-Terroristen Christian Klar, Gerüchten zufolge sollen die beiden sogar über Terror gesprochen haben. Trotzdem ist Köhler immer noch auf freiem Fuß.

Aufsehen erregte hatte auch eine Formulierung im Haftbefehl, nach der H. als Wissenschaftler über die intellektuellen Fähigkeiten verfüge, um die Bekennerschreiben zu verfassen, die den BKA-Fahndern offenbar reichlich kompliziert erschienen. Tatsächlich wurde anderen Ländern schon für Inhaftierungen aufgrund weit weniger vager Vorwürfe der Rechtsstaatscharakter abgesprochen.

Zwei weitere Wissenschaftler und ein Journalist wurden laut Frankfurter Rundschau ebenfalls aufgrund ihrer Veröffentlichungen überwacht, die angeblich eine "Nähe" zu den Texten des Vereins aufwiesen. Dass sie zu vorgeworfenen Treffen ihre Mobiltelefone nicht mitnahmen, wurde vom BKA als Zeichen "konspirativen Verhaltens" gewertet - da ist es nur mehr ein kleiner Schritt (bzw. gar keiner mehr) bis auch das Verwenden von GnuPG oder TOR als Futter für Ermittlungen dienen kann. Doch nicht nur Verschlüsselungs- oder Anonymisierungssoftware, auch das Benutzen einer ganz normalen Institutsbibliothek wurde von den BKA-Leuten offenbar ernsthaft zur Begründung eines Tatverdachts angeführt.