Literatur als Lebenslüge

Unternehmer, die schreiben oder sagen, was ein bisschen Kohle bringt

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Mittlerweile ist die Grass-Geschichte soweit abgegrast. Selbst die dämlichsten TV-"Kabarettisten" haben uns gesteckt, dass sein Name mit Doppel-S geschrieben wird. Ungeklärt blieb dagegen bisher die Frage, ob die Lebenslüge nicht vielleicht nur bei Grass, sondern ganz allgemein als Prinzip der deutschen Literatur anzusehen wäre.

Timoty Garton Ash, der sich erst jetzt, relativ verspätet, im New York Review of Books zur Grass Kontroverse äußert, merkt an, der Regisseur Volker Schlöndorff hätte bei den Filmarbeiten zur "Blechtrommel" gesagt, ihm sei aufgefallen, dass "nichts an den Romanen [von Grass] erfunden sei". Es ist ein Satz, der geradezu zum Widerspruch herausfordert. Michael Hofmann wies im britischen Guardian denn auch schon Anfang Juli recht detailliert nach, dass Grass in seinen allzuspäten Memoiren weniger "die Zwiebel geschält" (soll heißen: die Wahrheit ans Licht gefördert) als "den Lack aufgetragen" (also umgekehrt: die Wahrheit verpfriemelt) hätte.

Ich bin überzeugt, auch schon die "Blechtrommel" (und dann "Katz und Maus" und "Hundejahre") waren, in ihrer symbolbefrachteten, inhaltsschwer-sein-wollenden Sprache, zutiefst verlogene Texte. Ich bin persönlich überzeugt, dass die "Blechtrommel" (das Buch erschien 1959) weniger einem Drang entsprang, die Kriegserlebnisse des Autors endlich in eine gültige literarische Form zu pressen, sondern eher dem Impuls, den vakant gewordenen Thron des Literaturkönigs Thomas Mann zu erobern. Thomas Mann hatte gegen Schluss seines Lebens (er starb 1955) den "Felix Krull" - ein Romanfragment aus dem Jahr 1913 - zu Ende geschrieben. (Der Roman erschien dann 1954. Er ist "abgeschlossen", "komplett", auch wenn Thomas Mann selbst wohl noch einen Teil Zwei zu schreiben beabsichtigte.)

Der Film dazu, mit Horst Buchholz und Liselotte Pulver unter der Regie von Kurt Hoffmann, erscheint mir als eine zum Schreien unlustige Komödie, hat aber zu seiner Zeit (1957) mehrere "Gold"-Preise abgesahnt. Hört man sich heute die auf vier CDs versammelten mehr als vier Stunden Lesungen aus dem "Felix Krull" an, die der greise Thomas Mann zwischen 1953 und 55 vor deutschem und Schweizer Publikum gehalten hat, hört man vor allem, wie die Menschen danach lechzten, lachen zu können.

Und Thomas Mann ist natürlich bestenfalls einmal ein wenig schelmisch, aber niemals wirklich lustig. Und außerdem war er damals schon längst jenseits von gut & böse, außer Konkurrenz. Sein Roman über den Hochstapler Felix Krull gerierte sich als Schelmenroman, blieb aber letztlich doch nur ein irgendwie an die Wand gefahrenes Manuskript aus der Retorte.

Es scheint mir offensichtlich, dass ein junger, aufstrebender Literateur wie Grass hier meinen konnte, DAS müsste doch zu schaffen sein - einen "richtigen" Schelmenroman zu schreiben. Nur dass der einzig "richtige" Schelmenroman auf Deutsch eben Grimmelshausens "Simplicissimus" ist. Ein damals rund 300 Jahre alter Roman über den Dreißigjährigen Krieg. So kam Günter Grass wohl in mehreren Schritten zu seinem Thema - und die "Blechtrommel" wieder weg vom Humor.

Das Thema "Hochstaplerroman" fiel unterdessen an Johannes Mario Simmel. (Auch Robert Neumann hatte mit seiner "Insel der Circe" schon den Illustriertenroman vorgelegt, der als eine Art verarschende Fortsetzung von Thomas Manns ursprünglichem, nie fertig geschriebenem - aber veröffentlichtem - Fragment des "Felix Krull" anzusehen ist.) Simmel schrieb "Es muss nicht immer Kaviar sein" (1960, der Film dazu, in zwei Teilen, 1961/2, mit O. W. Fischer in der Hauptrolle.) Man kann diese Bücher und Filme heute nicht mehr lesen oder ansehen, ohne eine magenumstülpende Übelkeit zu empfinden. Es ist nicht einmal die bemühte Lustigkeit bei Simmel - und im Film bei diesem oberbeknackten O. W. Fischer. (Und Robert Neumann, wenn er nicht als Parodist schreibt, wenn er nicht die Verlogenheit anderer aufdeckt, produziert selber auch nur einen Roman - wie ein Kind ohne Kopf. Wer möchte da noch diagnostizieren, was ihm fehlt, verschreiben, was es braucht?)

Grass und Walser - Stichwortlieferanten auf Lesereise

Was ins Auge sticht, ist hier die Verlogenheit in jedem Wort, in jedem Satz. Man fragt sich nur: WAS wollt ihr verbergen? Ihr Simmels, Neumanns, Grass? Und die Antwort muss wohl lauten: Nichts besonderes, der falsche Zungenschlag, die verlogenen Signifikanzen sind uns einfach angeboren, wir lügen immer, wenn wir sprechen, das ist einfach der Tonfall unserer Zeit.

Sprung ins nächste Jahrhundert, Grass und Walser, beides mittlerweile alte [Zensiert], beide 80, beim Zeit-Interview mit Iris Radisch und Christof Siemes. (Oops! Fast hätte ich "Siemens" geschrieben.) Jetzt sind auch diese beiden ungefähr da angekommen, wo einst Thomas Mann stand, auf dürren Greisenbeinen & auf Lesereise. Aber es gibt kein Publikum, das darauf giert, von ihnen zum Lachen gebracht zu werden. Es gibt nur die besorgten journalistischen Mundschenke oder Stichwortlieferanten, und die absolut nichts-zu-sagen-habenden Dichterfuzzis, der eine so gestrickt, der andere so, aber beide doch wieder so.

Aus ihren Mündern rinnt der Seim, aber es ist keine Wahrheit, keine Substanz. Und mein Verdacht ist, dass weder Grass noch Walser "wirklich" irgendetwas wirklich & ernsthaft meinen, was sie da sagen. Sie sind einfach nur Literatur-Unternehmer. Sie schreiben oder sagen, was eben jetzt ein bisschen Kohle bringt.

"Ich war bei der SS" - ein Statement kurz vor Publikation des dazu gehörigen Buches. Das bringt 10.000 mehr Auflage in der Ex-DDR, gerade auch bei jüngeren Lesern. "Ich bin gegen den jüdischen Literatur-Papst." Auch das bringt erhöhte Auflage, bis tief in die Schweiz. Lüge, alles Lüge. Dabei wäre ich gar nicht einmal überrascht, wenn das Prinzip durchgängig für den ganzen Literaturbetrieb in Deutschland gilt.