Ein Volk von Verblödeten

Mit dem Krankheitsbild der "mild cognitive impairment" drohen ganze Bevölkerungsteile zu therapiebedürftigen Trotteln erklärt zu werden

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Jahrtausende lang lebte der Mensch im Durchschnitt 20 oder 30 Jahre lang, erst in den letzten drei Jahrhunderten hat sich die Lebenserwartung drastisch erhöht. In Deutschland bei Frauen von 44 auf heute über 80 Jahren, bei Männern von rund 40 auf 76 Jahre. Selbst relativ gesehen gab es noch nie so viele Betagte wie heute, das Phänomen wird in der Diskussion um die „überalterte Gesellschaft“ abgearbeitet. Das Statistische Bundesamt rechnet bis 2050 mit einem Rückgang der Gesamtbevölkerung von rund zehn Prozent, dabei schrumpft vor allem die Anzahl der 20- bis 60-Jährigen. Bei den über 65-Jährigen wird dagegen eine Zunahme um 54 Prozent, bei den über 80-Jährigen um sogar 174 Prozent erwartet. Die Prognose sieht für die meisten anderen Staaten der EU ähnlich aus.

Die Aussichten fürs gesunde Altern sind also blendend, gleichwohl breitet sich in der westlichen Hemisphäre eine seltsame Erregung aus. Denn obwohl frühere Generationen häufiger unter Krankheiten gelitten und früher das Zeitliche gesegnet haben, ist es an uns, ständig beunruhigt zu sein. Die häufig gestellte Frage lautet: „Bin ich fit genug?“ Und ab 40 lautet sie immer öfter: „Werde ich auch im Alter fit genug sein?“

Das Problem ist einfach: Der Alterungsprozess ist mit einer Reihe von körperlich-geistiger Einschränkungen verbunden, wobei die Unterscheidung zwischen altersbedingten Abbau und Krankheit seit jeher schwer fällt. In diese sensible Lücke haben Ärzte in den USA seit einiger Zeit ein Krankheitsbild etabliert, das die Altersvergesslichkeit zur Vorstufe zur Demenz erklärt. Der Name: MCI - Mild Cognitive Impairment.

Deutsche Mediziner haben sich an die Syndrom-Findung angehängt und beschreiben die MCI als „leichte kognitive Beeinträchtigung“ (LKB) oder, wenn es ernster klingen soll, als „leichte kognitive Störung“. Der Clou: Diese altersbedingte Regression von Aufmerksamkeit und Merkfähigkeit geht über eine nicht näher definierte, „altersentsprechende“ Leistungsabnahme hinaus, erreicht aber noch nicht den Grad einer (auch nur leichten) Demenz. In diesem schmalen Raum zwischen Dusseligkeit und einer geringfügigen Demenz will man ein weiteres Krankheitsbild entdeckt haben. Aber die Definition in Abgrenzung zu anderen Syndromen ist schwierig, das Konzept der MCI weist auf die konzeptionellen und praktischen Probleme hin Altern vom Kranksein zu unterscheiden.

Ein Viertel bis zu der Hälfte aller über 65-jährigen Frauen und Männer könnten mit MCI diagnostiziert werden. Auf die Diagnose folgt bekanntlich die Therapie. Woraus die allerdings bestehen soll, ist weithin unklar. Sie könnte allerdings in einer pillenorientierten Gesellschaft primär als Aufruf zur Medikamentenvergabe verstanden werden.

Trotz aller Mühen ist es bislang nicht gelungen, in den Hirnen der auf MCI diagnostizierten Patienten somatische Veränderungen zu entdecken. Die Verdinglichung des umstrittenen Phänomens steht auf der Agenda, man ist auf der Suche nach den neuronalen Grundlagen einer „Krankheit“, die es eventuell gar nicht gibt. Das Furchterregende ist: Natürlich wird man sie finden. Das Argument der Gegner der Diagnoseentität „MCI“, dass „sich bisher keine Biomarker gefunden haben“, wie Janice Graham von der Dalhouse University in Halifax, Kanada, anmerkt, greift zu kurz. Denn entweder wird die genaue Analyse der Gehirnflüssigkeiten oder aber die Untersuchung des Neurotransmitter-Haushalts zukünftig einen Unterschied finden, der einen Unterschied macht. So greifen Konstruktion und objektive Wahrheit ineinander.

Vorläufer der altersbedingten Amnesie

Ein Blick auf die historischen Vorläufer der Beschreibungsversuche für den Abbau der geistigen Kräfte im Alter erklärt den Status quo.

In der Prä-Fitness-Ära nahmen die Ärzte das altersbedingte Erstarren der Gedankengänge noch gelassen hin. Emil Kraepelin, der Doyen der wissenschaftlichen Psychiatrie, betonte schon 1913 in der 8. Auflage seines Lehrbuches, dass Altern mit der regelmäßigen Verlangsamung der Reaktionszeiten einhergeht. Er sprach zudem vom „Erlahmen der Tatkraft“ und der Ausbildung „störrischer Unlenksamkeit“. In einem nächsten Schritt prägte der Arzt Vojtech Adalbert Kral Mitte des 20. Jahrhunderts den Begriff der Benign Senescent Forgetfolness. Diese „gutartige Altersvergesslichkeit“ verbreitete sich als Klassifikation für schusselige Alte schnell.

Der Begriff war tröstlich, damit konnte man leben. Die Betroffenen hatten zwar Probleme, unwichtige Erfahrungen abzurufen, aber Alzheimer war noch kein öffentliches Thema. Ein Fortschritt von der „gutartigen Altersvergesslichkeit“ zur Alzheimer Demenz wurde zwar vermutet, konnte aber statistisch nicht erhärtet werden. Zudem wurde darauf hingewiesen und Wert gelegt, dass die Betroffenen sich ihrer leichten Beeinträchtigung bewusst waren, sie mit Eselsbrücken zu überwinden und die Gedächtnislücken zu umschreiben suchten.

Aber einmal aus der Flasche entlassen, wollte der beschränkte Geist sich ausdifferenzieren. Seither suchten verschiedenste Forschergruppen ihren Begriff für die altersbedingte Denkschwere zu etablieren1: Mal hieß es „Age-Associated Memory Impairment“, mal „Late Life Forgetfulness“. Barry Reisberg beschrieb 1982 die „mild cognitive decline“ als drittes von sieben Stadien zwischen normaler allgemeiner kognitiver Funktion und schwerster Demenz.

Als eine Expertengruppe um Raymond Levy Anfang der 90er Jahre den Begriff der „Aging-Related Cognitive Decline“ in das Spiel brachten, deutete sich ein subtiler Konzeptionswechsel an. Die Wahrnehmungsdefizite sollten zukünftig an Normen gemessen werden, die für ältere Menschen gelten, und nicht an solchen, die junge Männer oder Frauen zu leisten in der Lage sind.

Die WHO stellte Mitte des letzten Jahrhunderts in ihrer Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) auf die meist kurzfristige Beeinträchtigung kognitiver Funktionen ab, die durch psychometrische Verfahren messbar sein müssen. Aber weder die WHO noch die einflussreiche Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA) beschränkten die Diagnose auf ältere Menschen, die „leichten kognitiven Störungen“ konnten in jedem Alter auftreten. Weder WHO und APP trugen zur Evolution einer differenzierten Diagnose bei, im Gegenteil, die Verwirrung wurde durch die unterschiedlichen Klassifikation nur noch größer.

Schwere Geburt

Im Jahre 1985 kam es dann zur Geburt des Begriffs „mild cognitive impairment“ (MCI). Myrna M. Weissman und ihr Team verwenden ihn, um Patienten zu beschreiben, die in einem bekannten psychologischen Test für Demenzen, der Mini Mental State Examination (MMSE), einen Punktescore zwischen 18 und 23 von maximal 30 Punkten erreichten. Der Test war nach Meinung aller Experten zwar kein Instrument zur Früherkennung von Demenzen, gleichwohl war der Beginn der MCI-Ära eingeläutet.

Die APA nimmt 1994 die altersbedingten, leichten neurokognitiven Störungen in ihr Handbuch (DSM-IV-TR) auf. Die Bedingung für die Diagnose: Deutliche Leidensmuster und Auswirkung auf soziale und berufliche Funktionen. Klinische Kriterien oder Tests sind zunächst nicht vorgesehen, ein Versuch der Operationalisierung durch zwei Studien scheiterte.

Aber man ließ nicht locker. Dies lag sicher auch an der Angst vor dem epidemischen Ausbreiten der Alzheimer-Demenz. Wie, so ist bis heute die Frage, kann man Alzheimer schon in frühem Stadium erkennen? In der MCI hoffte man einen sicheren Prädikattor gefunden zu haben.

Der bis heute umstrittene Begriff der MCI wurde 1997 von einer Arbeitsgruppe an der Mayo-Klinik in Rochester neu geprägt, um endgültig in der medizinischen Forschung etabliert zu werden. Er wurde jedoch anders verwendet als zuvor durch Weissman. Das Konzept MCI beruhte jetzt zum einen auf subjektiven Beschwerden des Gedächtnisses, zum anderen in den nachweisbaren Mängeln in verschiedenen kognitiven Tests, ohne vorzuschreiben, welche Tests dafür genau durchgeführt werden sind. Zum ersten Mal wurde eine kognitive Störung als Vorstufe der Alzheimer-Demenz definiert. Kritiker nahmen an, dass pharmazeutische Unternehmen hinter dem MCI-Konzept standen, ein Vorwurf, der nie bewiesen werden konnte. Die Experten von der Mayo-Klinik bestehen darauf, dass er immer nur dem frühzeitigen Identifizieren von Demenz-Risikogruppen dienen sollte.

Etikett oder vernünftige Diagnose?

Seither herrscht Streit darüber, ob MCI nur ein Etikett oder tatsächlich eine vernünftige Diagnose ist. Einige Experten, wie beispielsweise John Morris von der Washington University School of Medicine in St. Louis, glauben fest daran, dass MCI eine Alzheimer Demenz im Vorstadium ist.

Aber die Studien mit MCI-Patienten erlaubten keine genaue Voraussage, Personen mit MCI können dement werden, andere erholen sich, wieder andere stagnieren. Anja Busse von der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie der Universität Leipzig will in einer Langzeitstudie nachgewiesen haben, dass mit Hilfe von neuropsychologischen Testverfahren Menschen mit einem hohen Risiko für eine Demenzerkrankung frühzeitig identifiziert werden können. Die Anteil der Patienten mit MCI, die später an Demenz erkrankten, lag über 2,6 Jahren zwischen 23% und 47%. Die Spanne dieser so genannte „Konversionsrate“ ist groß, bei einigen Untersuchungen liegt sie bei nur 8% bis 20% im Jahr, bei anderen erheblich höher.

Andere Forscher, andere Ergebnisse: Eine Forschergruppe aus den Niederlanden um Pieter Jelle Visser von der Universität Maastricht weist in einem Aufsatz darauf hin, dass „die Mehrheit der Personen mit MCI später keine Demenz entwickeln“. Zudem war das Demenzrisiko nicht nur stark vom Alter abhängig, sondern auch davon, welche der diversen Definitionen von MCI verwendet wurde. Die kognitiven Leistungen eines großen Anteils von MCI-Patienten bleiben stabil, viele erholen sich sogar wieder und schneiden in späteren Tests wieder besser ab. Eine Untersuchung am Karolinska Insitut in Stockholm zeigt die Varianz: Dort erholten sich von 43 MCI-Patienten fünf wieder (11%), rund die Hälfte (53%) blieben stabil, 42 Patienten (35%) entwickelten eine Demenz.

Auch die Angaben zur Prävalenz des Syndroms sind ungenau, sie wird auf 17% der westlichen und über 65 Jahren alten Bevölkerung geschätzt. „Bei 10-15%“, so behauptet Alexander Kurz aus der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der der TU München, „schreitet die leichte Störung innerhalb eines Jahres zur Demenz fort.“

Von enem wissenschaftlichen Konsens weit entfernt

Durch eine Konferenz der „MCI-Konsensgruppe“ wurde das Diagnosewirrwarr noch erhöht. 2001 schlug die Gruppe vor, drei Subtypen von MCI einzuführen. Neben der typischen „amnestischen MCI“, bei der die Merkfähigkeit deutlich gemindert ist und die sich meist zur Alzheimer Demenz fortentwickeln soll, wurden die Kategorien „MCI-multiple domains slightly impaired“ und „MCI-single nonmemory domain“ eingeführt.

Der Klassifikationswust wird selbst von Psychiatern und Gerontologen nicht mehr überblickt, in Deutschland fokussierte man sich derzeit auf die Subgruppe der „amnestischen MCI“, bei welcher der mögliche Gedächtnisverlust (Amnesie) im Vordergrund steht.

Das konkrete Beschwerdebild ist auch hier schwer zu fassen. Patienten müssen dafür zunächst einmal an sich selbst eine schleichende Verschlechterung ihrer Gedächtnisleistung feststellen, die sich beispielsweise im Verlegen von Gegenständen, Vergessen von Telefonnummern und Konzentrationsstörungen zeigt. Diese Erfahrungen sollten von einem Angehörigen oder Freund bestätigt werden.

Trotz unterschiedlicher psychologischer Testbatterien ist immer noch umstritten, ob es sich bei MCI um ein Etikett, ein Syndrom oder tatsächlich um eine Krankheit handelt. Der Neurologe und Experte für Demenzen, Peter J. Whitehouse, ist sicher: „MCI ist zu unbestimmt und subjektiv, ein Ausdruck mit unsicherem Effekt auf Menschen, er sollte klinisch nicht benutzt werden.“ Auch der Alzheimer-Experte Hans Förstl möchte den Zusammenhang von MCI und Alzheimer nicht konstruiert wissen. „Der oft verwendete Begriff ist windelweich und kein eindeutig definiertes Vorstadium der Demenz“, sagt der Münchner Psychiater und Neurologe.

Existiert sie überhaupt noch, die „normale“ Altersvergesslichkeit? Die Unlust oder Unfähigkeit mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, die Probleme beim Erinnern von Namen und Telefonnummern, das Verlegen der Pillendose, das Vergessen zurückliegender Erlebnisse: all das gilt bislang als typisches Merkmal des natürlichen Alterungsprozesses, bei dem Geist und Körper langsam abbauen.

Krankhaft wird es nach Expertenmeinung erst dann, wenn selbst Merkhilfen nichts mehr nützen, der Betroffene Mühe hat, verlegte Dinge wiederzufinden, weil sie sich an gänzlich unüblichen Plätzen befinden und dauerhaft Probleme auftreten, eigentlich bekannte Dinge zu benennen.

Anfang der 90er Jahren sprach der alternde Timothy Leary in einem Interview mit Sandra Maischberger von seiner „Entdeckung einer neuen Droge“, die ihn begeistere, weil sie ihn außerhalb der Konventionen agieren lasse: „Senilität“. Von solchen Scherzen ist man heute weit entfernt.

Das soziale Umfeld und der kulturelle Kontext sind wichtige Faktoren

Vielleicht sind die individuellen Faktoren zu komplex: Bildung, Humor, Intelligenz, aber vor allem die Fähigkeit zur Selbstkritik sowie die Einbindung in die soziale Gemeinschaft lassen die Diagnose MCI zum Glücksspiel werden. Wenn das Umfeld die Vergesslichkeit eines Nahestehenden als störend empfindet, wird sich auch dessen Selbstbild auf Dauer ändern. Wenn dann bei einem Test schlechtes Seh- oder Hörvermögen, Müdigkeit, der Einfluss von Medikamenten, die Nervosität oder einfach nur schlechte Tagesform dazukommen, wird das Ergebnis schlecht sein. Der Vorschlag der Experten daher: Wiederholte Untersuchungen. Aber auch hier besteht die Gefahr, ein nur latent vorhandenes Handicap psychisch zu manifestieren.

Andere Kulturen haben die langsame Modifikation der geistigen Kapazität seltener problematisiert und eher als normal empfunden. So ist in Japan der Abbau der geistigen Fähigkeiten im Alter weniger ein individuelles, als ein soziales Problem. Der familiäre Umkreis ist gehalten, den beeinträchtigten Verwandten Rückhalt zu geben und sie anzuregen, weiter am Leben teilzuhaben. Das Stigma des Gedächtnisschwunds wird hier nicht der Einzelperson, sondern der gesamten Familie zugeschrieben. Yu Nakamura von der medizinischen Universität in Nara behauptet: „Das Konzept von MCI ist kaum akzeptiert in Japan. Als klinische Diagnoseeinheit findet es keine Verwendung.“

Dies ist nur vor dem Hintergrund einer Kultur zu verstehen, die dem autonomen Subjekt viel weniger Spielraum lässt, als es dies im Westen der Fall ist. So erwächst auch in China aus der althergebrachten Ethik und dem Konzept des Selbst eine hohe Toleranz gegenüber einem leichten geistigen Handicap. Lawrence Cohen von der Universität von Berkeley weist darauf hin, dass auch in Indien für den kognitiven Abbau in erster Linie pathologische Familienstrukturen verantwortlich gemacht werden.

So gesehen würde MCI nur zur weiteren Medizinalisierung eines Phänomens beitragen, das eher sozial gelöst werden sollte. Sicher ist der Rückgang kognitiver Fertigkeiten nur zu einem Teil ein individuelles Phänomen, denn die Zuschreibung MCI führt, wie bei anderen Krankheiten auch (siehe z. B. Wie Ritalin & Co. im Gehirn und der hyperaktiven Gesellschaft wirken), oft zu einer Stigmatisierung, die für die Angehörigen vielleicht Aufatmen, für die Betroffenen aber wahrlich keine Initialzündung für den Gesundungsprozess mit sich bringt. Praktisch werden durch das Label „MCI“ eine steigende Anzahl von älteren Menschen als „leicht gestört“ klassifiziert, ohne dass der Nutzen der Diagnose klar ist, denn die nachfolgende therapeutische Bandbreite ist gering. Von der Tendenz aller Menschen, sich der an ihnen vorgenommenen Klassifikation anzupassen, mal ganz abgesehen.

Aus dieser Sicht ist es sicher ein Fehler, MCI als rein biologischen Prozess anzusehen, der eine Degeneration eines wie auch immer definierten Normalzustandes darstellt. Dieser orientiert sich ohnehin zu selten an der alltäglichen Leben der Betroffenen. Forscher wie Janice E. Graham fordern daher das Einbeziehen alltäglicher Ereignisse des jeweiligen „Patienten“ in die Messung einer möglichen leichten Demenz; oder, wie Graham es nennt, „Sozioneurodegeneration“.

Von der Diagnose zur Behandlung mit Medikamenten

Gesellschaftlich steht hinter MCI der Wunsch, das Altern an sich behandelbar zu machen und vorbeugend eingreifen zu können. Und heutzutage bedeutet Behandlung zumeist Pharmakotherapie. Bislang steht kein spezifisches Medikament bereit, um die steigenden Anzahl von MCI-Patienten zu behandeln. Man setzt auf die üblichen Verdächtigen, die schon bei der Behandlung von Demenzerkrankung mehr oder minder erfolgreich eingesetzt werden.

Dabei könnte die Behandlung von MCI-Patienten mit den bekannten Alzheimer-Enzymhemmern wie Donezepil oder Rivastigmin völlig verfehlt sein. Schon bei AD-Patienten helfen diese Medikamente nur bedingt, sie werden oft als letzter Ausweg in einer Situation gewählt, die sehr wenig Alternativen hat. Donezepil zeigte in einer – von den Herstellern Pfizer und Eisai finanzierten – Studie kaum positive Wirkung auf MCI-Patienten. Eine spätere Cochrane-Review bügelte den Effekt von Donezepil noch weiter ab: „Der vermeintliche Nutzen ist gering, kurzlebig und mit signifikanten Nebenwirkungen verbunden.“

Die erste Studie mit einem weiteren Anti-Demenzmittel, Galantamin, zeigte kein erfreuliches Ergebnis: Die Sterberate lag unter Galantamin (13/1026) im Vergleich zu Placebo (1/1022) signifikant höher. Der Hersteller Janssen-Cilag verschickte Warnhinweise an Ärzte, die Gesundheitsbehörden der Länder setzen den Hinweis auf ihre Webseiten.

Gerade Gerontologen und Gerontopsychologen sind sich den Tendenzen zu Polypharmakologie und Überbehandlung in den letzten Jahren bewusst geworden. Die Hoffnungen und Ängste der alten Menschen sind leicht beeinflussbar, sie sind für die Versprechen der Medizin besonders empfänglich. Sollte sich die Diagnose MCI weiter ausbreiten wird ein riesiger Markt entstehen. Die üblichen Verdächtigen warten auf Eintritt: Nootropika, Gingko Biloba, Piracetam und andere.

Anti-Aging

An dieser Stelle ist die Diskussion mit dem bekannten Wunsch der Menschen nach längerem und gesunden Leben verbunden. In der Schulmedizin ist es das Konzept der „compression of morbidity“ von James Fries, das den Nachteilen des Alterns weiter zu Leibe rücken will. Fries möchte die pathologischen Begleiterscheinungen des Alters mittels medizinischer Manipulationen auf eine letzte kurze Spanne verdichten.

Wenn die Lebensspanne des Menschen determiniert sei, so Fries, seine biologische Uhr also mit 80–85 Jahren ablaufe, müsse man das Auftreten von Krankheiten nur verschieben, um Kosten einzusparen. Allerdings ist entgegen der Annahme von Fries die Lebensspanne nicht determiniert, sondern ausdehnbar, quer durch alle Gesellschaften steigt die Lebenserwartung heute an.

Die klassische Schulmedizin ist vorsichtig, man will sich nicht mit den Vertretern der Anti-Aging-Medizin Schulter an Schulter wissen. Diese will Enhancement-Techniken mit anderen Präventionsmaßnahmen auf eine Ebene stellen. Dann wäre der chemische Eingriff ähnlich wie Weiterbildung an der Volkshochschule, Sport, Meditation oder der Gang des Jugendlichen zum Kieferorthopäden, ein Instrument der erwünschten Volksfürsorge; weniger eine Bewusstseins-Droge als vielmehr eine Art Tonikum zur Stärkung der geistigen Immunabwehr. Es dürfte interessant zu beobachten sein, ob im Rahmen eines solchen möglichen Prozesses der Abstand zur Medizinalisierung überhaupt gewahrt bleiben kann.

Die Anti-Aging-Bewegung ficht die Abgründe der sozialen Auswirkungen ihrer Mühen nicht an. Sie propagieren das „better-living-through-chemistry“ und geben offen zu, den Druck auf Ärzte hoch halten zu wollen. So ist es der American Academy of Anti-Aging Medicine wichtig, die „lebensverlängernden Informationen über die vielen Vorteile der Anti-Aging-Therapeutik für praktizierende Ärzte verfügbar“ zu halten. Neben Vitamin, -Mineral und Aminosäuretherapien werden Hormone verschrieben und fötale Nabelschnurstammzellen therapeutisch eingesetzt.

Alle paar Jahre taucht zudem ein neuer Wissenschaftler auf, der die baldige Eröffnung des Jungbrunnen verkündet. Zuletzt war dies Aubrey de Grey, der versprach, dass unbeschränkt langes menschliches Leben in rund 25 Jahren erreichbar sei.

Was wächst, muss auch wieder vergehen

Schon Cato der Ältere (234-149 v. Chr.) beschrieb die Paradoxie:

Wer freilich in sich selbst keine Mittel zu einem sittlich guten und glücklichen Leben findet, für den ist jedes Lebensalter beschwerlich; wer aber alle Güter in sich selbst findet, dem kann nichts als ein Übel erscheinen, was das notwendige Gesetz der Natur herbeiführt. Dahin gehört vorzugsweise das Greisenalter. Jedermann wünscht es zu erreichen; und hat man es erreicht, so klagt man doch darüber. So groß ist die Unbeständigkeit und Verkehrtheit der Toren!

Der Biogerontologe Leonard Hayflick geht so weit zu behaupten: „Die Suche nach Heilung für das Altern ist gleichbedeutend mit einer Suche nach der Heilung für embryonale oder die frühkindliche Entwicklung.“ Seiner Meinung nach sollte jeder verantwortungsvolle Arzt solche Vorsätze ablehnen.

Sollte kognitiver Abtrag als nicht-pathologischer Teil des Alterns angesehen werden? Sicher ist bislang: Was wächst, muss auch wieder vergehen. Es stellt sich die Frage, wie eng das Ausweiten der Denkzone und materialistisch getarnte Ewigkeitsvorstellungen verwandt sind.

Vielleicht existieren nachhaltigere Methoden, um ein erquickliches Altersdasein zu führen. Auch aus gesundheitspolitischer Sicht hilft dauerhaft nur, möglichst früh ein gesundes, ausgeglichenes Leben zu führen und dabei soziale Kontakte und körpereigenen Abwehrkräfte zu pflegen. Ein Appell, der bei der bestehenden Fixierung auf extensive Erwerbstätigkeit, deren Entlohnung meist für den Kauf mannigfaltiger Konsumgüter dient, leicht verhallt. Aber wer will schon offen dazu auffordern, sich den ausufernden Anforderungen des Kapitalismus zu verweigern?