Morden und Sterben in aller Welt

Zum Antikriegstag 2007 ein etwas anderer Zugang: Einblicke aus Heimatgeschichte und Familienalben

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Der Erste Weltkrieg hat zum Auftakt des 20. Jahrhunderts neun Millionen Tote und 21 Millionen Verwundete hinterlassen. Dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 folgten bis 1945 mehr als 55 Millionen neue Weltkriegstote und ein auch von der Wehrmacht ausgeführter Genozid, bei dessen Beschreibung jede Sprache versagen muss. Diese Erfahrungen haben Europa einmal geprägt und die Verfasser des Grundgesetzes veranlasst, nach Deutschlands mythenschwangerer Vergangenheit endlich bei Immanuel Kant und der Vernunft in die Schule zu gehen. Neben dem antiimperialistischen Versprechen in der Präambel ist Völkerrechtspazifismus das mindeste, was dem Wortlaut nach dabei herausgekommen ist. Bis 1999, also vor der Regierungsbeteiligung einer ehemals pazifistisch ambitionierten Partei, galt dieser auch noch für die Praxis der Bundesrepublik.

Mein Onkel Franz Sträter (1920-1941) als Wehrmachtssoldat an der Ostfront

Menschen, die den letzten Weltkrieg erlitten haben, werden bald nicht mehr leben. Die Täter von damals auch nicht. Nach dem stillschweigenden Abdanken der so genannten Frankfurter Schule haben wir auch keine Intellektuellen mehr, die der deutschen Republik ins Gewissen reden. Spätestens seit der „Ära Gerhard Schröder“ hören wir bis zum Überdruss, wie gut es ist, dass wir endlich „normal“ werden und lernen, unsere „nationalen Interessen“ nach den Spielregeln der herrschenden Weltordnung durchzusetzen. Wer will, kann inmitten der neuen „Normalität“ auch wieder eine braune Bewegung wahrnehmen. Von Tag zu Tag wird sie größer und gewalttätiger. Derweil geht unsere Polizei vor allem gegen Antifaschisten vor.

Mit der großen Koalition, die in Heiligendamm das Militär sogar gegen soziale Bewegungen eingesetzt hat, ist der Bürgerrechtsnotstand längst erreicht. Wer erinnert die SPD – zumindest – an Willy Brandt und wer die CDU an ihre Gründer, die einmal schwarz auf weiß drucken ließen, dass nur eine Eindämmung von Konzernmacht neue Kriege und neue Formen des Faschismus verhindern kann? Und wer wird der jetzigen Generation sagen, dass der Widerstand gegen Nationalismus, Rassismus und das Verbrechen des Krieges im gesellschaftlichen Raum zum Wichtigsten überhaupt gehört? Die massenkulturellen Produktionen wecken nämlich heute vor allem ein Interesse für genaue Waffentypen und allerlei Firlefanz aus der Zeit der Weltkriege oder betreiben offensiv Revisionismus.

Pazifisten und Antimilitaristen – wie der Autor dieses Beitrages – fallen nicht vom Himmel. Bevor sie rational analysieren und politisch tätig werden, gibt es eine Geschichte, besonders auch eine soziokulturelle Prägung und eine Familiengeschichte. Davon soll nachfolgend auf sehr persönliche Weise die Rede sein. Bei meinem – suchenden – Schreiben wider die Gleichgültigkeit komme ich zurück auf das Naheliegende. Sie mögen fragen: „Ratloses Ausweichen auf Heimatliteratur und Familiensaga?“ Da könnte was dran sein. Was sollte einem denn noch einfallen zur Inflation der Tabubrüche in diesem Land?

Heimatliche Vorgeschichte: Preußens Glorie und antipreußischer Katholizismus

Meine Heimat ist das Sauerland. Diese schöne Landschaft hat man vor 200 Jahren als unfruchtbar, rückständig, ärmlich oder sogar schmutzig bezeichnet1. Aus Trotz sind die Bewohner dann sehr lokalpatriotisch geworden (das ist die einzige Form von Patriotismus/, die wohl auch auf mich abgefärbt hat). Die Geschichte der Region beginnt somit nicht erst in jener Zeit, in der der Sauerländer Heinrich Lübke die gesamte Nation mit seinem sprühenden Geistesblitz überrascht hat.

Die – kurkölnischen – Sauerländer gehörten, obwohl sie Westfalen sind und ihr Gebiet die südlichste Grenze des norddeutschen Sprachraumes bildet, über 400 Jahre lang zum geistlichen Territorium der Kölner Kurfürsten. Die kölnischen Erzbischöfe waren nicht sehr streng, kümmerten sich aber auch nicht sonderlich um die ferner gelegenen Landeskinder. Dann kamen 1802 die Hessen, und 1816 wurde das Sauerland preußisch.

Die katholischen Kleinbauern mochten aber nicht für die Darmstädter exerzieren. Danach war es sehr lange geradezu ein Erweis von Heimattreue, auch die Preußen und deren Soldatentick nicht zu mögen (was die kölnischen Sauerländer weiterhin mit den Rheinländern verband). Es gibt eine Fülle von lokalen Geschichten und Anekdoten über das Desertieren und komische Krieger. Zu den Heldengestalten in Peter Sömers Buch „Hageröschen aus dem Herzogthum Westphalen“ von 1892 gehört z.B. der Schäfer Wilhelm aus Werl. Dieser entkommt noch zu kölnischer Zeit, also vor 1802, den preußischen Soldatenfängern und bleibt ein „freier Vogel“. Während des Kulturkampfes veröffentlichte das romfreundliche „Olper Intelligenzblatt“ am 16. Juni 1875 ein satirisches „Glaubensbekenntnis“, das sie einem preußenfreundlichen „Nationalkatholiken“ unterschob und mit der Hoffnung auf die „Walhalla“ enden ließ: „Ich glaube an den Deutschen Kaiser, den mächtigen Schöpfer des einigen Deutschen Reiches, und an den großen Kanzler, einen eingeborenen Preußen, der uns richtet mit seinem Geiste … und an … ein ewiges Soldatenleben. Amen.“

Wegen dieser „Beleidigung des Reichskanzlers Fürsten von Bismarck“ wurde Redakteur Gottfried Ruegenberg letztinstanzlich zu einer Woche Gefängnis verurteilt. Die Preußen hatten Erfahrung im Umgang mit „Pressefreiheit“ und standen in dieser Hinsicht dem katholischen Antiliberalismus durchaus sehr nahe. Auf lange Sicht hin gelang ihnen auch die ideologische Eingliederung und Patriotisierung der katholischen Neupreußen. Die einstmals recht fröhliche Religionsausübung im Sauerland wurde immer ernster und schrittweise zum nützlichen Instrument der „vaterländischen Erziehung“ von gehorsamen Untertanen. Für den Anfang des 20. Jahrhunderts berichtet dann der Sauerländer Ferdinand Tönne von folgender Ausstattung eines Klassenzimmers:

Auf dem Schild war ein großes gemaltes Schwert zu sehen, und rundherum stand der Satz:

Das höchste Heil, das letzte, liegt im Schwerte." Und das in einer christlichen, katholisch ausgerichteten Schule

Das Elternhaus meines Vaters Bernhard Bürger in Bremscheid, Foto von 1917

Nach dem ersten Weltkrieg gab es in der jungen Sauerländer Heimatbewegung aber noch immer – oder schon wieder – eine nennenswerte Fraktion, die an die preußenkritischen Traditionen der Region anknüpfte und antimilitaristisch dachte. Dazu gehörte z.B. der katholische Sozialist und Pazifist Josef Rüther2 aus Brilon, der als einer der ersten von lokalen Nazi-Schlägern bedroht wurde und nach 1933 als Lehrer Berufsverbot erhielt. Sein Kreis schrieb während der Weimarer Republik über das Heidentum in Kriegerdenkmälern, warnte sehr früh vor dem Geraune von einem „deutschen Gott“, las die Ausführungen des Dominikaners Franziskus Maria Stratmann über die explodierende Rüstungsindustrie im fortwährenden Imperialismus3 und sorgte da, wo heute der (Ex-)Wahlkreis von Friedrich Merz liegt, für eine gute Zusammenarbeit des „Friedensbundes deutscher Katholiken4“ (FDK) mit der ziemlich linken „Deutschen Friedensgesellschaft“ (DFG). Zu einer katholischen Messe auf dem Borberg luden diese Sauerländer ihre Freunde aus Frankreich ein (die Rechtsradikalen wollten dieses Ereignis stürmen, weil man dabei nach ihrer Beobachtung „sogar einen französischen Neger“ mit Friedenskuss begrüßt hatte). Auch ein Zentrumsmann wie Theodor Pröpper aus Balve polemisierte noch immer gegen den preußischen Militarismus und schmähte öffentlich „Friedrich den Großen“. „Man müsste diesem Heimatbundproleten das große M[aul] stopfen“, schrieb daraufhin die Malerin und angehende völkische Romanschriftstellerin Josefa Berens-Totenohlhttp in ihr Tagebuch. Sie und ihre Gesinnungsfreunde waren spätestens ab 1930 stark im Aufwind. Mit „Heimat“ verbanden sie vor allem „Rassenkunde“. Was dann nach 1933 kam, war vor allem eine religiös motivierte Unangepasstheit des katholischen Milieus im Nationalsozialismus. Von „katholischem Widerstand im Sauerland“ aber sollte man, von Einzelfällen abgesehen, besser nicht reden5.

Nach dem Zweiten Weltkrieg meinten übrigens auch die Alliierten, im preußischen Militarismus sei eine der historischen Wurzeln der deutschen Verbrechen gegen die Völkerwelt auszumachen. Der Alliierte Kontrollrat löste am 25. Februar 1947 Preußen auf, denn dieses sei „seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen“. Seitdem hat man allerdings viele kluge Verteidigungsschriften zugunsten der „preußischen Tugenden“ geschrieben: unbestechliche Justiz, Staatsdienersinn, Pflichtgefühl und so weiter und so fort. Peter Struck (SPD) hat als seinerzeit für das Soldatentum zuständiger Bundesminister zugunsten des militärischen Zapfenstreichritualshttp einfach angeführt, dieses sei „eine alte preußische Tradition“ (in der Tat: das Eindringen des Militärs in Räume der Zivilgesellschaft ist „eine alte preußische Tradition“).

Sein Nachfolger Franz Josef Jung (CDU) glaubt, „dass wir den Aspekt Tradition und ihre Vorbildfunktion in den Vordergrund stellen müssen“ (Verteidigung neu definierenhttp). Er hat 2006 in einer Potsdamer Rede seiner pro-preußischen Gesinnung sehr deutlich Ausdruck verliehen:

Heute besitzen viele Deutsche ein stärker ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass Militärgeschichte wichtig ist für das politische Selbstverständnis unseres Landes. Sie haben erkannt, dass sie hilft, aktuelle Fragestellungen zu beantworten. Deutschland wurde in seiner Geschichte mehr als andere Länder durch das Militär geprägt. Aufgrund seiner geostrategischen Mittellage in Europa war es immer wieder Schauplatz von Kriegen. … Für den Aufstieg Preußens im 18. Jahrhundert spielte das Militär eine zentrale Rolle – nicht nur in der Erweiterung und Verteidigung des preußischen Staatsgebiets, sondern auch für die politische und soziale Entwicklung des Landes. Preußen war ein Staat, in dem die Idee des Dienens für das Gemeinwohl geprägt und vorgelebt wurde. Noch heute werden Tugenden wie Pflichtbewusstsein, Treue, Leistungsbereitschaft, Bescheidenheit sowie Gottesfurcht bei gleichzeitiger Toleranz als preußische Tugenden bezeichnet.

Zurück zur Heimatgeschichte: Als ich 18 Jahre war, gab es im Sauerland noch einige der alten Linkskatholiken und Pazifisten, die nunmehr der internationalen Friedensbewegung „pax christi“ angehörten. Sie haben mich sehr geprägt (nachdem mir aufgrund der Kanzlerkandidatur des mit General Pinochet sehr vertrauten Franz Josef Strauß die CDU nicht mehr als das richtige Betätigungsfeld erschien). Die energischste unter ihnen, Irmgard Rode aus Meschede, hat noch im hohen Alter – halbblind und gehbehindert – Kinder aus Migrantenfamilien unterrichtet, Jugendaustauschprogramme in England organisiert und – welcher Skandal – Gäste aus der Sowjetunion eingeladen. In meiner damaligen Sturm-und-Drang-Zeit habe ich selbst in einer Pfingstnacht das alte Kriegerdenkmal meines Heimatdorfes mit rot verschmiertem Verbandsmaterial und schwarzer Farbe verziert. Erfahren hat es unter dem Siegel des Beichtgeheimnisses nur der Dorfpfarrer (ich hoffe, dass die hier erstmals öffentlich eingestandene Sachverbesserung heute als verjährtes Delikt zu betrachten ist).

Aus der Kleineleutefamilie mütterlicherseits: Wie Franz und Franziska sich ihr kleines Glück bauten und was danach kam

Der Raum, in dem sich mein hier einsetzender Gang durch alte „Familienalben“ bewegt, wäre damit ein wenig vorgestellt. Mein Opa Franz Sträter kehrte aus dem Ersten Weltkrieg mit einem steifen Arm zurück, bevor er seine Franziska heiratete. Seine drei Brüder kehrten aus dem Krieg überhaupt nicht zurück. Sie waren, wie es so schön heißt, gefallen (ihre Namen: Wilhelm, Josef, Johannes). Opa Franz hatte schon als zwölfjähriger Halbwaise bei einem Bauern arbeiten müssen. Franziska war nach dem frühen Tod ihrer Mutter bei entfernten Verwandten aufgewachsen und dann Dienstmädchen geworden. Nach ihrer Heirat 1918 haben die beiden aber doch ein bescheidenes Glück gefunden. Der Bauer, bei dem Franz als Knecht arbeitete, vermachte ihm in der Nähe seines Hofes ein kleines Grundstück. Darauf hat Franz gegen alle Ratschläge der klugen Leute 1920/21 ein kleines Haus gebaut. Die Inflation ging ihrem Höhepunkt zu. Da konnte er alle Schulden nach dem Verkauf des fetten Schweins aus seinem Keller mit einem Schlag abzahlen. Kleine Leute wollen eben auch mal Schwein haben.

Meine Großeltern Franziska und Franz Sträter vor ihrem Haus in Baldeborn

Bargeld war eigentlich nur im Haus, wenn die Familie Schwarzbeeren oder Himbeeren gesammelt und in der Obstverwertungsfiliale des Kirchdorfes verkauft hatte. Nach dem Kauf von Zucker für das eigene Einmachen war es schon wieder weg. Aber nie hat jemand im kleinen Haus Hunger gelitten. Die Sträters waren – wie die meisten Menschen in ihrer Umgebung – erfinderische Selbstversorger. Leckere Bratkartoffeln gab es immer, „Schinkenbütters“ aus der eigenen Räucherkammer und Himbeersaft an allen besonderen Tagen. Als Kinder haben mein Zwillingsbruder und ich in Sträters kleinem Haus schöne Tage erlebt (meine Mutter sagt noch heute, sie hätten es sich zuhause immer sehr schön und lustig gemacht). Als wir dann schon Grundschüler waren, stand Opa Franz am offenen Sarg seiner Franziska. Er sprach laut mit ihr, weil er gar nicht verstand, dass sie tot war. Im Jahr darauf ist Franz auch gestorben. Franz und Franziska sind immer unzertrennlich gewesen.

Die beiden hatten neun Kinder, was für katholische Kleineleutefamilien damals überhaupt nicht sehr ungewöhnlich war. Es waren fünf Mädchen und vier Jungen. Nur eines ihrer Kinder, der viereinhalbjährige Erich, ist zu ihren Lebzeiten eines natürlichen Todes gestorben; es gab nämlich 1937 noch kein Penicillin gegen Diphtherie. Obwohl Opa Landarbeiter war, wählte er das Zentrum, denn er war ja katholisch. 1933 kamen aber die Nazis an die Macht. Die katholische Obrigkeit am weiter gelegenen Kirch- und Schulort der Sträters fand das offenbar nicht so schlimm. Der Pfarrer soll als einer der ersten in Remblinghausen die Hakenkreuzfahne gehisst haben, was anderswo im Sauerland Priester noch nach Beginn des Krieges verweigerten.

Franz jun. auf Heimaturlaub, mit seinen Schwestern Gertrud und Maria (meiner Mutter)

Der sehr katholische Dorfschullehrer vermittelte meinem Onkel Franz Sträter junior, geboren 1920, sogar eine Bürolehre bei der NSDAP-Kreisstelle, weil dieser 1935 zu den besten Volksschulabgängern gehörte. Franz und Franziska waren durchaus zufrieden damit, dass eines ihrer Kinder so „gut“ unterkommen konnte. Als Franz junior 1938 die Lehre aus hatte, reichte ihn die Parteikreisgeschäftsstelle aber an den Reichsarbeitsdienst weiter. Von da aus kam er 1940 für Kriegszwecke an die Wehrmacht (und das fanden die Eltern nicht mehr gut). Weil Franz durch seine Arbeit im Parteibüro etwas „geschult“ war, konnte er sich beim Heimaturlaub manchmal komisch ereifern und voller Optimismus vom deutschen Sieg reden. Als er 21 Jahre alt war, konnte er gar nicht mehr reden, denn da lag er in Russland totgeschossen. Es gibt sogar ein Grabfoto mit Schnee, dem Todesdatum „16.9.1941“ und einem Kranz von „Großdeutschland“. Wenn man es genauer betrachtet, kommt einem der Verdacht, dass die Utensilien für viele ähnliche Fotos herhalten mussten.

Kriegsgrab von Franz Sträter jun. in Russland, September 1941

Nach Franz jun. wurde auch der älteste Sohn Johannes, geboren 1924, eingezogen. Eineinhalb Jahre hat die Familie zum Kriegsende hin nichts mehr vom ihm gehört und um sein Leben gebangt. Dann kam die gute Nachricht, dass er in französischer Kriegsgefangenschaft war. 1946 ist er zurück nach Baldeborn ins kleine Haus gekommen.

Kennkarte meines Onkels Josef Sträter (1926-1945?), ausgestellt 1943 zur Zeit seiner Einberufung

Nach Johannes wurde auch der jüngste Sohn der Familie für das Reich verpflichtet: Josef, geboren am 12.12.1926, hatte gerade seine Schreinerlehre beendet, da konnte er 1943 als Siebzehnjähriger seinen Mantel an den Hacken hängen und – angeblich zum „Arbeitsdienst“ – für ein Jahr nach Dänemark gehen. Von da aus kam noch eine Postkarte. Sie würden am nächsten Tag verschifft, stand darin. Danach hat nie mehr jemand etwas von ihm gehört. So kam es, dass Franziska und Franz nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch einen Sohn hatten.

Aus der Kleineleutefamilie väterlicherseits: „Von da an war die Musik aus dem Haus verschwunden“

Die Eltern meines Vaters, Wilhelm und Maria Bürger, wohnten – nicht weit von meinem eigenen Geburtsdorf Eslohe – in Bremscheid. In direkter Nachbarschaft gab es nur vier andere Häuser. Das alte Fachwerkhaus von Bürgers hatte noch Lehmwände und war etwas größer als das von Opa Franz gebaute. Es hatte unmittelbar neben der Küche sogar einen Stall mit vier Milchkühen. Die Vorfahren, Leineweber beim Baron von der Wenne, hatten das kleine Anwesen 1828 nach der Parzellenteilung der Adelssitze erworben. Das Land war nicht gut zu bewirtschaften und erst 1893 abgezahlt. In zwei Schüben mussten Mitglieder der Familie aus wirtschaftlichen Gründen in die Vereinigten Staaten auswandern. Das Kostbarste auf dem Grundstück war eine kleine Kapelle, dem Pilgerheiligen Jakobus geweiht.

Opa Wilhelm war nicht nur Kleinbauer, sondern auch Schneider – vielleicht wegen der bis hin zu seinem Vater in vier Generationen ausgeübten Leineweberei. Besonders gut konnte er Anzüge für Leute mit einem körperlichen Gebrechen schneidern und dabei z.B. einen „Buckel“ ganz unsichtbar machen.

Maria und Wilhelm Bürger mit ihren elf Kindern im Jahr 1939. – In der hintersten Reihe, von rechts, die späteren Soldaten Anton (1924-1944) und Franz (1922-1945?)

Wilhelm und Maria hatten elf Kinder, und das galt sogar für eine katholische Kleineleutefamilie schon als stattlich. Beide waren genauso fromm wie Opa Franz und Oma Franziska in Baldeborn, aber in Sachen Kirchentreue und Sittenstrenge waren sie doch viel resoluter bzw. ideologischer (die Kapelle stand ja auch direkt am Haus). Als die Hakenkreuzfahnen wehten, verbot Opa Wilhelm allen seinen Kindern, braune Uniformen zu tragen. Als ein HJ-Führer in sein Haus kam und dagegen protestierte, sagte er, es wäre leider kein Geld da für Stoff (was nicht unbedingt gelogen war). Seine Kinder, meine Onkel und Tanten, fanden das gar nicht gut. Wenn draußen die schönen Aufzüge in Uniform waren, musste Klara z.B. mit Hannah Simon, der letzten jüdischen Schülerin, in der Klasse sitzen bleiben. In der Oberstufe gehörten Franz und Anna mit nur acht anderen Esloher Rektoratsschülern zum Kreis der „schwarzen Schafe“, die keiner NS-Organisation angehörten und zur „Belohnung“ samstags Sonderunterricht erhielten.

Im Kirchspielzentrum Eslohe dachten aber auch die Geistlichen wohl etwas anders als in Remblinghausen. Einmal predigte der Rektor über das „Zeichen der Feinde Christi“ an der Kleidung, und da saß eine Frau mit Hakenkreuz-Brosche am Hut ganz vorne in der Bank. Einige junge Leute trafen sich zu einem Kreis, in dem man nur Christus – und nicht den Führer Adolf Hitler – als König anerkennen wollte. Als der schulische Religionsunterricht verboten wurde, stellte Opa Wilhelm dafür seine kleine Hofkapelle zur Verfügung, Wintertags auch seine Schneiderstube. Die örtliche Parteileitung der NSDAP hat ihn als Querulanten betrachtet. Einmal hat ihm ein katholischer Nazi nach einer Parteiversammlung sogar heimlich geraten, doch vorsichtiger zu sein. Dennoch glaube ich, dass er einfach nur „streng katholisch“ und gar nicht politisch dachte. Wenn es um den „Hiärguatt“ ging, verstanden er und seine Frau keinen Spaß. Die Nazis hielten es aber gar nicht mit dem „Hiärrguatt“ und planten ihrer Ansicht nach langfristig auch die Abschaffung der freien Religionsausübung.

Weil ich Opa Wilhelm, der 1945 gestorben ist, selbst nicht mehr kennen lernen konnte, habe ich meinen Vater oft nach ihm gefragt. Einige seiner Züge sind für das Verständnis des Nachfolgenden wichtig. Von der „katholischen Strenge“ im Haus zeugt z.B. seine Kleiderordnung für die Kinder. Bei kurzer Hose waren bis oben hin lange Strümpfe zu tragen, auch im Sommer! Wenn aber eines der Kinder etwas verloren hatte und unglücklich war, ging er selbst auf den Hof, um zu suchen. Wenn ein Küken sich das Bein gebrochen hatte, wurde es von ihm mit einer Hölzchenkonstruktion geschient und am Brotbackofen warm gehalten. Ein Schwalbennest im Bereich der Schlafkammern hat er mit einem Brett „stubenrein“ gemacht und dann für ein stets offenes Fenster gesorgt. Wenn alle Kinder im Bett waren, wurde auch den Kühen noch einmal über die Blesse gestrichen. Kurzum, es waltete wohl so etwas wie „patriarchale Güte“ und eine Sorge um alles Leben auf dem kleinen Hof. Tabakgenuss für 50 Pfennig in der Woche war so ziemlich der einzige Luxus, den Opa Wilhelm sich gönnen konnte. Von seiner Heiterkeit zeugte ein ständiges Singen und Flöten am Schneidertisch, an dem er wegen der großen Familie aber oft bis spät in die Nacht saß.

Opa Wilhelm ist wegen eines Herzfehlers nie Soldat geworden. Er hatte aber im Ersten Weltkrieg zwei seiner Brüder als Soldaten verloren: Anton und Franz. Im Andenken an diese beiden irgendwo in Frankreich begrabenen Brüder hießen zwei seiner Söhne wieder Franz und Anton. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden beide eingezogen und kamen nach der Grundausbildung zum Krieger schließlich an die Ostfront, nach Russland. Ab jetzt waren die Eltern Wilhelm und Maria in ständiger Sorge. Opa Wilhelm soll öfter gesagt haben, dass „die da oben“ sich immer die Söhne der kleinen Leute für ihre Kriege holen. Er glaubte der Propaganda vom „kurzen Krieg“ nicht, denn so was hätten sie schon einmal 1914 vorgelogen. Dass von einem „deutschen Sieg“ gar keine Rede sein konnte, war ihm übrigens ziemlich früh bekannt. Sein zweitjüngster Sohn, mein Vater, hatte ihm ein zerlegbares Spulenradio mit Ohrmuschel gebaut. Damit konnte man den „Feindsender“ der Tommys hören.

Im Februar 1944 kam ein Bote ins Haus und überbrachte die Nachricht, dass Anton als Melder am 19. Januar bei Newel, südlich von Leningrad, durch Granatsplitter getötet worden wäre. Der vorgesetzte Hauptfeldwebel schrieb: „… er hat nicht mehr gelitten. … Möge Ihnen die Gewißheit, daß Ihr Junge sein Leben für den Bestand von Führer, Volk und Vaterland hingab, ein Trost sein“. Der Junge war gerade mal 19 Jahre alt geworden. Oma, eine sonst sehr nervenstarke Frau, verlor das Bewusstsein. Von Opa ist der Kommentar überliefert: „Dat hett se us inbrocket!“6 Von da an konnte man vom Schneidertisch her kein Flöten und Singen mehr hören. Die Musik war aus dem Haus verschwunden.

Mein Onkel Anton Bürger (1924-1944) als Wehrmachtssoldat

Franz und Anton (1914-1918) und Anton und Franz (1939-1945)

Franz, geboren 1922 und der zweite Soldat in der Familie, hatte als gelernter Landwirt in den ersten Kriegsjahren einen – aus Kriegsgründen verwaisten – Hof in der Nähe bewirtschaften müssen. Aber auch er wurde 1942 eingezogen. Nach dem Tod von Anton sorgten sich die Eltern noch mehr um ihn. Der Esloher Lehrer hätte ihn im zarten Alter von etwa Zwölf übrigens beinahe auf eine angeforderte Vorschlagsliste für die „arischen Ordensburgen“ der Nationalsozialisten gesetzt. Zum Glück lehnte er das, vom Lehrer befragt, aus Angst vor Heimweh sofort heftig ab. So hat er seinen Vater, der eine Zustimmung nie gegeben hätte, vor einer Darlegung von – in diesem Fall religiösen – Ablehnungsgründen bewahrt.

Was meine Verwandten im Krieg alles gemacht haben und wie viele Menschen sie vielleicht getötet haben, weiß ich nicht. Zumindest einen Ausschnitt zum verbrecherischen Treiben der deutschen Wehrmacht an der Ostfront muss Franz zuhause berichtet haben. Meine Tante Anna schreibt darüber in ihrer Familienchronik:

Während eines Urlaubs erzählte er einmal ein schlimmes Erlebnis: seine Einheit hatte aus irgendeinem mir entfallenen Grunde als Strafexpedition in einem russischen Ort Menschen deportieren sollen. „Ik konn’t nit“, sagte er, „wann de Luie emme dann met Tränen in diän Augen ankucket, op diän Knaien liät un de Hänne bittend hauge hiewwet, ik konn’t nit – ik sin wiäggohn un hewwe mick im Gebüsk verstiäken.“ […] Zum Glück für ihn war seine Befehlsverweigerung nicht bemerkt worden!

Ob es hier wirklich „nur“ um eine Deportation ging, und wenn ja, um was für eine Deportation? Auch nach 1945 erhielt man hierzulande ja kaum die nötigen Informationen, um Ostfrontberichte dieser Art richtig einordnen zu können. Passend zur Wiederbewaffnung gab es ab den 1950er Jahren schon wieder Filme über frische und tapfere deutsche Soldaten, die alle keine Nazis waren und ihre „Pflicht“ erfüllten – auch aus England und den USA. Konservative und Rechtsradikale liefen noch in den 1990er Jahren Sturm gegen ein Aufklärungsprojekt über das Völkermordhandwerk der deutschen Wehrmacht.

Den letzten Brief nach Hause hat Franz am 22. Juni 1944 geschrieben, während der „Rückzugskämpfe um Witebsk im Mittelabschnitt der Ostfront“. Danach kam bis Kriegsende kein Lebenszeichen mehr. Er blieb „verschollen“ und wurde erst im Jahre 1955 amtlich für tot erklärt. Und so ist es gekommen, dass auf dem ersten Weltkriegsdenkmal meines Heimatdorfes die Namen „Franz Bürger (1891-1914)“ und „Anton Bürger (1886-1918)“ stehen und auf dem zweiten Weltkriegsdenkmal wieder die Namen „Anton Bürger (1924-1944)“ und „Franz Bürger (1922-1945)“.

Denkmal für die Weltkrieger 1914-1918 in meinem Heimatdorf Eslohe (seitdem ich es als 18Jähriger verziert habe, ist es zumindest vom zentralen Platz an der Kirche verlegt worden). Oben auf der Banderole steht: „Seid getreu bis in den Tod und ich werde euch die Krone des Lebens geben.“ Zur Einweihung 1924 ertönte der Vers „65 Helden schauen heut herab aus der Walhall …“

Den anderen Familien im kleinen Bremscheid erging es im Zweiten Weltkrieg übrigens ähnlich oder noch trauriger. Aus Sorge um ihren Sohn soll eine Frau aus Bürgers weiterer Nachbarschaft bei der Sonntagsmesse heimlich den Leib Christi wieder aus dem Mund herausgenommen und dann mit der Feldpost nach Russland geschickt haben. Bei Familien mit Vermissten verdienten sich umherziehende Wahrsagerinnen bei Kriegsende viele Eier und viel Butter. Von Erves stehen Anton und Fritz auf den Totentafel, von Vollmers Johannes und Josef und von Melchers die drei Brüder Franz, Josef und Paul. Damit ist die Liste der toten Soldaten aus den dreißig Häusern von Ober- und Niederbremscheid aber noch nicht zu Ende.

Zeitsprung: Ein arbeitsloser Sauerländer bei der Bundeswehr

Für meinen eigenen Vater (Jahrgang 1927) hatten die Eltern gottlob ein auffälliges Röntgenbild von der Lunge gut aufbewahrt. Auch deshalb konnte er – statt beim Militär das Totschießen einzuüben – das Schlosserhandwerk lernen. Als er dann kurz vor Kriegsende doch noch zum „Volkssturm“ marschieren sollte, hat er sich mit anderen klugen Altersgenossen rechtzeitig in die Berge verdrückt. Einige Tage später gab es Schokolade von durchfahrenden US-Soldaten. Meine vier Brüder und ich sind nicht bei der Bundeswehr gewesen. Den acht Neffen der Familie wird Kriegskraftzersetzende Propaganda nicht vorenthalten, wobei sich – bislang jedenfalls – auch der Rückgriff auf die Familiengeschichte als erfolgreiches Aufklärungsmittel bewährt hat. Meine Eltern waren immer sehr zufrieden damit, keine Soldaten mehr in der Familie zu haben. Bevor mein Vater vor zwei Jahren gestorben ist, hat er sich aber darum gesorgt, dass bald wieder noch mehr Soldaten in Kriege geschickt werden könnten. Er hatte dazu auch eine ziemlich eindeutige Meinung: „Es geht nur um Gier und Mammon, sonst nichts!“

Ausschnitt aus dem Infofaltblatt zum „KarriereTreff Bundeswehr“ am 16.-17.8.2007 auf dem Marktplatz in Mönchengladbach (Hrsg. Personalamt der Bundeswehr, Köln)

Für Nachwuchsanwerbung gibt es seit letztem Jahr unter anderem eine „Zentrale Messe- und Eventmarketing der Bundeswehr“. Zu den vielfältigen Reklamemaßnahmen des Militärs sind in letzter Zeit verstärkt Veranstaltungen in Außenstellen der „Bundesagentur für Arbeit“ hinzugetreten. Für arbeitslose Hartz-IV-Empfänger liegen Faltblätter mit jungen Gesichtern von Soldatinnen und Soldaten aus. Ein Infoblatt zum „KarriereTreff der Bundeswehr“ am 16.-17.8.2007 in Mönchengladbach lockte z.B. mit „über 20.000 interessante(n) und herausfordernde(n) Arbeitsplätze(n)“, „KarriereTruck“, Kletterwand und „Karriere-Parcours“. Versprochen wurde es auch, „mit "Exponaten" aus verschiedenen Bereichen der Bundeswehr … einen Einblick in die moderne Technik und Ausrüstung“ erlangen zu können.

Ich frage mich, ob nicht schon bald wieder vor allem die kleinen Leute ihren Kriegstribut leisten müssen. Im letzten Jahr saß ich mit einem sehr jungen Soldaten im gleichen Zugabteil. Er kam aus dem Teil meiner Heimat, der eine für die heute eher wohlhabende Region ungewöhnlich hohe Arbeitslosenzahl aufweist. Der Soldat war vor seiner Verpflichtung beim Bund auch arbeitslos gewesen, und jetzt war er geknickt, weil ein Vorgesetzter ihn mit dem Stiefel am Hals „zurechtgewiesen“ hatte. Obwohl er schon dem Druck in der Kaserne kaum standhalten konnte, war er bereit, nach Afghanistan oder auf andere Kriegsschauplätze zu gehen. Er sagte mir, auf die hohen Auslandszulagen würde er auf keinen Fall verzichten, denn er wolle bald heiraten. Ein mir bekannter evangelischer Militärseelsorger meint, so ähnlich würden die meisten Soldaten denken. Über politische Kontexte machten sie sich wenig Gedanken.

Wie aber sollten Soldaten über ökonomische Zielsetzungen in westlichen Militärdoktrinen Bescheid wissen, wenn die Gesellschaft kaum darüber debattiert? Ein Unteroffizier aus einer Schulungsabteilung, mit dem ich nach dem diesjährigen Soldatengottesdienst im Kölner Dom eine längere Unterhaltung hatte, wusste noch nicht einmal, dass es ein neues Weißbuch der Bundesregierung gibt.

Denkmäler für Deserteure oder ein neues Kriegerehrenmal?

Aus Afghanistan haben wir im letzten Jahr Fotos zu sehen bekommen, auf denen Bundeswehrsoldaten mit Hilfe eines Totenschädels ihre „Männlichkeit“ unterstreichen. Viel früher schon hatte – laut „Welt“ – General-Leutnant Hans Otto Budde, heute Inspektor des Heeres, den veränderten Personalbedarf der Bundeswehr so beschrieben: „Wir brauchen den archaischen Kämpfer und den, der den High-Tech-Krieg führen kann.“ Der Berichterstatter ergänzte dazu: „Diesen Typus müssen wir uns wohl vorstellen als einen Kolonialkrieger …“.

Flugblattillustration von 1980 aus meiner pazifistischen Sturm-und-Drangzeit (nach der Vorlage des älteren Weltkriegerdenkmals im Heimatdorf)

Der Rückgriff auf Wehrmachtstraditionen war und ist in Deutschland kein Tabu. Während der zuständige österreichische Minister, ein ehemaliger Zivildienstleistender, in diesem Jahr eine offizielle Teilnahme von Soldaten am traditionellen Gebirgsjägertreffen im bayrischen Mittenwald aus nahe liegenden Gründen untersagte, gewährte die deutsche Bundeswehr offenbar offizielle Unterstützung für die berüchtigte Veranstaltung von Wehrmachtsveteranen und Altfaschisten.

Die Macher der öffentlichen „Gedenkkultur“ haben längst einen neuen Schwerpunkt auf „deutsche Opfer“ gesetzt. Dass noch in diesem Jahr ein der NSDAP und SA angehörender Marinerichter, der Kriegsverweigerer zum Tode verurteilt hat, postum von einem seiner Nachfolger im Ministerpräsidentenamt verteidigt und belobigt werden konnte, wirft kein gutes Licht auf das bürgerliche Geschichtsbewusstsein im Land. Die deutsche Marine hat soeben neue Kriegsschiffe bekommen, mit denen man zwei Jahre lang ohne Pause auf See bleiben und, erstmals seit 1945, wieder Ziele an Land beschießen kann. Und gleich, wie viele Betroffene klagen und wie viele Gerichtsurteile noch ergehen werden, der Bundesminister für das Militärressort will partout festhalten am geplanten Bombodrom zur Einübung von künftigen Bombenabwürfen der Bundeswehr. Er will auch ein Ehrendenkmal für die vergangenen und zukünftigen Toten der Bundeswehr an seinem Amtssitz in Berlin aufstellen. Bereits sein Vorgänger Peter Struck hatte vorsorglich in der Öffentlichkeit betont, man müsse zukünftig wieder mit mehr toten deutschen Soldaten rechnen.

Nun haben wir aber schon in jedem entlegenen Nest der Republik Kriegerdenkmäler, und nicht selten heißen sie sogar noch immer „Heldendenkmäler“. Und wer wünschte sich schon neue Tafeln mit weiteren Namen von Toten? Die Bundesregierung hätte eine gute Möglichkeit, den im Grundgesetz zuvorderst genannten „Dienst am Frieden der Welt“ zu unterstreichen. Sie könnte an zentraler Stelle ein Ehrendenkmal für alle Deserteure, Befehlsverweigerer und „Verräter“ in der Wehrmacht errichten (Vergleichbares gibt es erst in sehr wenigen Städten, und es würde auch gut zur baldigen Seligsprechung des österreichischen Kriegsdienstverweigerers Franz Jägerstätter passen). Sodann wäre ein Gesetz zur Rehabilitierung aller wegen „Kriegsverrats" Verurteilten noch vor der Denkmalenthüllung zu verabschieden. Mehr als sechs Jahrzehnte nach der Befreiung vom deutschen Faschismus gibt es ein solches nämlich immer noch nicht.

Der Autor (Jahrgang 1961, Theologe & Publizist) ist einer der Initiatoren der „Ökumenischen Erklärung von Christinnen & Christen aller Konfessionen zu Militärdoktrinen im Dienste nationaler Wirtschaftsinteressen“.