Verlorene Preisillusionen

Planeten verhalten sich nicht so, wie die katholische Kirche im Mittelalter glaubte - und Menschen verhalten sich anders, als Ökonomen im 20. Jahrhundert glaubten

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Bisher ging der wirtschaftswissenschaftliche Mainstream davon aus, dass Menschen ihre Entscheidungen am "realen" Wert von Gütern orientieren und dabei Änderungen bei Preisen nicht nur erkennen, sondern auch in ihre Kaufentscheidungen einbeziehen. Neuere Experimente widerlegen diese Annahme ebenso wie die Vorgänge auf dem amerikanischen Immobilienmarkt.

Auch diese theoretische Grundlage der Wirtschaftswissenschaften bröckelt nach neueren Experimenten von Jean-Robert Tyran von der Universität Kopenhagen. In dem in der Zeitschrift Science veröffentlichten Aufsatz "Money Illusion and the Market" und in dem zusammen mit Ernst Fehr vom Institut für Empirische Wirtschafsforschung an der Universität Zürich verfassten Aufsatz "Money Illusion and Coordination Failure", der in der Zeitschrift Games and Economic Behavior erschien, legt Tyran die Ergebnisse von Experimenten vor, in denen die Probanden entweder "reale" oder "nominelle" Informationen zu Profiten unter sonst identischen Bedingungen bekamen. Dabei stellte sich heraus, dass die "nominellen" Informationen sich wesentliche stärker auswirken als bisher geglaubt.

Erst seit relativ kurzer Zeit beginnen Wirtschaftswissenschaftler langsam zu akzeptieren, dass "Preisillusionen" das Funktionieren von Märkten (und deren Ergebnis) maßgeblich mitbestimmen. Konnte James Boyle in seinem 1996 erschienenen "Shamans, Software and Spleens" die Ignoranz der Wirtschaftswissenschaftler gegenüber dem von ihm entdeckten Paradoxon, dass die Kommodifizierung von Information dem Funktionsmodell eines idealen Marktes die theoretischen Grundlagen entzieht, noch mit der süffisanten Bemerkung kommentieren, Ökonomen seien offenbar Leute, die glauben, dass Information durch Werbung verbreitet wird, so geben nun immer mehr Wirtschaftswissenschaftler der Realität den Vorzug gegenüber den in ihrer Disziplin vorherrschenden Glaubensvorstellungen.

Preisillusionen und die Hypothekenkrise

In besonderer Weise manifestierten sich die Ergebnisse der Experimente im amerikanischen Grundstücksmarkt, der Auslöser der derzeitigen Bankenkrise war. Liegt die Inflation niedrig, dann scheinen auch die monatlichen Hypothekenzinsen für viele Menschen niedrig - verglichen mit den Mieten für vergleichbare Wohnungen. Sinkt die Inflationsrate aber, dann steigen die nominell niedrigen Zinsen real an - selbst wenn sie nominell gleich bleiben. Zu diesen unabsichtlichen "Geldillusionen" kommen jedoch noch jene weitaus stärker wirksamen hinzu, die von Akteuren auf den Märkten absichtlich produziert werden.

Um die "Illusion" für den Kunden perfekt zu machen, werden Gebühren ebenso verschwiegen, wie die "Möglichkeit" von Verlusten und erheblichen Zinssteigerungen. In Deutschland sind es neben Banken vor allem Telekommunikationsfirmen, die mit "Null-Euro-Angeboten" in der Fernsehwerbung das etwas irrationalere Verbrauchersegment ausnutzen.

Erst jetzt wurde bekannt, dass viele amerikanische Bauträger ihren Kunden Kredite aufschwatzten, von denen sie genau wussten, dass diese sie nie zurückzahlen konnten. Die Kunden wiederum ließen sich auf die Kredite unter anderen deshalb ein, weil sie vor lauter "Preisillusionen" die realen Preise nicht mehr sahen. Gewinner dieser Geschäfte waren die Banken, die nicht nur hohe Provisionen, Gebühren und Zinsen kassierten, sondern teilweise auch noch zu einem Spottpreis an enteignete Grundstücke kamen.

In den letzten fünf Jahren stiegen in den USA die Fälle von mutmaßlichem Hypothekenbetrug um mehr als 500 %. Dabei bedienten sich bei weitem nicht nur schmierige kleine Betrüger illegaler Geschäftspraktiken, sondern auch große "renommierte" Bauträger wie Beazer. Mittlerweile haben in den USA erste Schuldner Sammelklagen eingereicht, mit denen sie ihren Schaden erstattet bekommen wollen. Aktionäre klagen inzwischen ebenfalls gegen Beazer, weil sich die Bilanzen als so kreativ entpuppten, dass der Chefbuchhalter gefeuert werden musste.

Auch das FBI, die Börsenaufsicht SEC, die Steuerbehörde IRS, und die Städtebaubehörde konnten ihre Augen aufgrund der öffentlichen Berichterstattung nicht mehr vor den Geschäftspraktiken des Unternehmens verschließen und ermitteln mittlerweile. Ob dabei etwas herauskommt, ist allerdings fraglich. Dagegen spricht, dass die Bundespolizei sofort dankend die "Hilfe" der Vereinigung der amerikanischen Hypothekenbanken MBA annahm und ihre Task Force nun mit dem Verband "zusammenarbeitet."