Feindstrafrecht

Ein Gespräch mit Professor Roland Hefendehl über die gefährlichen Tendenzen des Rechtsstaatsumbaus

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Hintergrund sehr vieler derzeit laufender Veränderungen – von der Vorratsdatenspeicherung bis hin zum "Bundestrojaner" – ist eine Debatte, die bis vor kurzem vorwiegend in juristischen Fachkreisen geführt wurde: In der 2004 durch den Aufsatz "Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht" von Günther Jakobs entbrannten Diskussion wird über ein besonderes Strafrecht für "Staatsfeinde" nachgedacht, denen bestimmte Bürgerrechte verwehrt werden sollen, damit sie mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft werden können. Jakobs argumentiert in seinem Aufsatz, dass Menschen, welche die staatliche Rechtsordnung ablehnen oder sie gewaltsam ändern wollen, ihre Bürgerrechte verwirkt hätten. Das gilt seiner Ansicht nach nicht nur für Terroristen, sondern auch für Kriminelle, die nach den Regeln informeller Gesetze lebten. Wir stellten Professor Roland Hefendehl vom Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht an der Universität Freiburg einige Fragen zu dieser Debatte.

Günther Jakobs argumentiert in seinem Aufsatz, dass den Bürger das Recht an den Staat bindet, während es beim Feind der Zwang ist. Idealtypisch werden diese Fälle weniger häufig vorliegen als in Mischformen, d.h. in Form von Bürgern, die statt der gesamten Rechtsordnung nur Teile davon ablehnen. Hebt man mit dem Feindstrafrecht nicht auch vorhandene Restbindungen auf?

Roland Hefendehl: Mir erscheinen diese Kategorienbildungen allesamt theoretisch und gefährlich. Sie passen soziologisch nicht und sie passen empirisch nicht: Adressaten des Feindstrafrechts sollen diejenigen Personen sein, die die Gesellschaft ablehnen bzw. bekämpfen. So liege es etwa beim Terrorismus oder der Organisierten Kriminalität. Ist aber nicht das vorgeblich besonders Gefährliche der sog. OK, dass sie sich mit dem System arrangiert und aus diesem heraus agiert? Handelt es sich also bei diesen Tätern doch nicht um Feinde, weil sie mit Staat und Gesellschaft arbeiten? Dieses Beispiel zeigt die Willkürlichkeit der Kategorienbildung.

Die empirische Prämisse für die von Jakobs propagierte kategoriale Unterscheidung besteht in seiner These, dass es eine eigene Kategorie von verbrecherischen Individuen gebe, die sich vermutlich dauerhaft, zumindest aber entschieden vom Recht abgewandt hätten. Diese extrem individualisierende Sicht des abweichenden Verhaltens widerspricht den modernen kriminologischen Erkenntnissen über die in Wahrheit systemischen Zusammenhänge diametral. Eine – Zitat – „prinzipiell delinquierende Person“ und damit Feinde im Wesen gibt es nicht. Würden wir eine solche Person plötzlich auszumachen meinen, wären wir wieder in den finsteren Zeiten eines Täterstrafrechts angelangt, die während des Nationalsozialismus ihren Höhepunkt hatte.

Konkret zu Ihrer Frage: Ein spezielles Straf- oder Eingriffsrecht für bestimmte (nach dem Gesagten nicht trennscharf bestimmbare) Personengruppen, bei dem die rechtsstaatlichen Grundsätze nicht mehr oder nur noch in verkürzter Form gelten, würde den gesamten Rechtsstaat erschüttern. Das Risiko von Willkür würde zu einem Verlust des Vertrauens in den Rechtsstaat und seine Institutionen und damit auch zu einem Rückgang der Bindungswirkung von Recht führen.

Günter Jakobs spricht in seinem Aufsatz von viel „überflüssigem Feindstrafrecht“, das aus der Zeit des Kaiserreichs und des 3. Reiches stammt und urteilt darüber: „Was bei Terroristen – prinzipiellen Gegnern – angemessen sein mag, eben auf die Größe der Gefahr und nicht auf den verwirklichten Normgeltungsschaden abzustellen, wird hier auf den Fall jeder Planung eines Verbrechens [...] übertragen. Solches überflüssiges Feindstrafrecht [...] ist dem Rechtsstaat schädlich [...].“ Wird mit den derzeit geplanten Änderungen, die nicht oder kaum zwischen Gefahren differenzieren, nicht gerade solch „überflüssiges“ Feindstrafrecht geschaffen, ohne seine theoretischen Grundlagen zu berücksichtigen?

Roland Hefendehl: Die Behauptung von Jakobs, es könne wie beim Terrorismus legitimes Feindstrafrecht geben, ist – wie ausgeführt – das meines Erachtens Fatale. Dies ändert nichts am in meinen Augen unbestrittenen Verdienst der Analyse von Jakobs, auf die derzeit bereits vorhandenen und beständig ausgeweiteten Feindstrafrechtskomponenten hingewiesen zu haben. Die stetige und extreme Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes bis hin zur Schwelle der Gesinnung gehört im materiellen Recht ebenso dazu wie die Ausweitung der Eingriffsbefugnisse im Polizei- und Strafverfahrensrecht. Ich nenne als Beispiele die Strafbarkeit bei terroristischen Vereinigungen oder die geplante Einführung der Vorratsdatenspeicherung unabhängig von Tatverdacht oder konkreter Gefahr. Auch die Sicherungsverwahrung mit seinen Ausweitungen fällt in diesen Bereich. Seit nahezu 100 Jahren werden in einem fort sog. Bekämpfungsgesetze statuiert, die die zentrale und richtige These konterkarieren, Strafrecht dürfe nur ultima ratio zum Rechtsgüterschutz sein.

Das Strafrecht enthält zahlreiche Delikte wie Beleidigungen, Verkehrsübertretungen und sogar Delikte, die einem großen Teil der Bevölkerung nicht bekannt sind – wie etwa, dass man keine Teddybären mit Kamera und Mikrofon besitzen darf –, das Strafrecht muss mittlerweile für alles mögliche herhalten, sogar zur Schaffung wirtschaftlicher Anreize. Der Polizeipräsident von München, Dr. Schmidbauer, sprach im Zusammenhang mit Filesharing von einem „halben Missbrauch“ der Polizeibehörden durch die Musikindustrie. Müsste man vor der Schaffung eines Feindstrafrechts, wie es derzeit geschieht, nicht erst das Strafrecht grundlegend „entrümpeln“ und einen guten Teil der Delikte zu Ordnungswidrigkeiten erklären?

Roland Hefendehl: Die Entrümpelung des Strafrechts wäre auch in meinen Augen eine zentrale Aufgabe. Allerdings nicht deswegen, um der Schaffung eines Feindstrafrechts den Boden zu bereiten, sondern um dem Strafrecht die oben beschriebene zurückgenommene Rolle zuweisen zu können. Das Schlimme oder Kuriose: Zu entrümpeln wären im Wesentlichen nicht Normen des ursprünglichen Strafgesetzbuches oder der ursprünglichen Strafprozessordnung, sondern gerade die Neuerungen, die man für die Bereiche OK, Terrorismus und Wirtschaftskriminalität unter Verkennung der Rolle des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts hektisch geschaffen hat.

Bei der Entrümpelung dieses Ausschusses sollte zudem besonders im Auge behalten werden, dass er nicht in andere Rechtsgebiete abgeschoben wird, bei denen die Eingriffstiefe in die Rechte der Betroffenen vergleichbar ist und zudem Beschränkungen staatlicher Eingriffsbefugnisse und Überprüfungsmöglichkeiten fehlen. Die Konjunktur des Polizeirechts, bei der die Unschuldsvermutung nicht gelte, ist so zu erklären. Auch die Privatisierung der (Sozial-)Kontrolle trägt die Tendenz der Maßlosigkeit in sich. Das bedeutet konkret: Die Entrümpelung des Strafrechts ist zwingend erforderlich, ein blindes Outsourcen aber in gleicher Weise zu vermeiden. Das Gegenteil freilich ist die traurige Realität.

Die Hamburger Staatsanwältin Dr. Kühne sah von der Einleitung eines Ermittlungs- bzw. Einziehungsverfahrens für ein Koranverbot mit der Begründung ab, dass das Bundesverfassungsgericht vor diesem Hintergrund festgestellt hat, dass Betätigungen und Verhaltungsweisen, die aus einer bestimmten Glaubenshaltung fließen, nicht ohne weiteres den Sanktionen unterworfen werden können, die der Staat für ein solches Verhalten vorsieht, weshalb Artikel 4 Abs. 1 GG auch Art und Maß der zulässigen staatlichen Sanktionen beeinflussen könne. Die "sich aus Artikel 4 Abs. 1 GG ergebende Pflicht aller öffentlichen Gewalt, die ernste Glaubensüberzeugung in weitesten Grenzen zu respektieren", muss, so Dr. Kühne, "immer dann zu einem Zurückweichen des Strafrechts führen, wenn der konkrete Konflikt zwischen einer nach allgemeinen Anschauungen bestehenden Rechtspflicht und einem Glaubensgebot den Täter in eine seelische Bedrängnis bringt, der gegenüber sich die kriminelle Bestrafung als eine übermäßige und daher seine Menschenwürde verletzende soziale Reaktion darstellen würde.“

Sind dieser Argumentation zufolge nicht die Artikel 4 und 6 des Grundgesetzes die größte Belastung für das Bürgerstrafrecht beziehungsweise das größte Hindernis für ein effektives Feindstrafrecht?

Roland Hefendehl: Art. 4 GG ist Ausdruck eines freiheitlichen Denkens und der Anerkennung unterschiedlicher Lebens- und Glaubensanschauungen. In dieser Funktion vermag das Grundgesetz nicht die Durchsetzung von Strafrechtsnormen a priori zu sperren, wohl aber ihren Sinngehalt durch Auslegung zu präzisieren. Die Sorge, damit löse sich ein allgemeinverbindliches Strafrecht auf, erscheint mir vor dem Hintergrund dieser begrenzten Wirkweise unbegründet.

Das Grundgesetz zeigt durch die Unantastbarkeit der Menschenwürde, das Gleichheitsgebot, aber eben auch durch die Glaubens- und Meinungsfreiheit, dass eine willkürliche Ausgrenzung Einzelner nicht zu dulden ist. Auch das Verbot der Bestrafung der Gesinnung lässt sich aus der Verfassung ableiten. Insoweit sind die Grundrechte tatsächlich das größte Hindernis für ein Feindstrafrecht. Und das ist gut so. Die Ausweitungstendenzen des Strafrechts zeigen, dass die verfassungsrechtlichen Schranken nicht ernst genug genommen werden. Und das in dem Bereich, der das schärfste Eingriffsinstrumentarium des Staates bereithält.