Die EU entdeckt die Generation Praktikum

EU-Beschäftigungskommissar Vladimír Spidla will mit einer Qualitätscharta den Missbrauch von Praktikanten als Billigarbeitskräfte bekämpfen

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Sie sind oft akademisch oder in Fachhochschulen ausgebildet und wandern dennoch von einem schlecht bis gar nicht bezahlten Praktikum zum nächsten: Die „Generation Praktikum“ beschäftigt jetzt auch die EU-Kommission. EU-Beschäftigungskommissar, Vladimír Spidla, kritisiert, dass viele Firmen schlecht bezahlte Arbeitsplätze als Praktika tarnen und damit „Sozialdumping“ betreiben. Eine Europäische Qualitätscharta soll hier Abhilfe schaffen.

Die Einstiegsbedingungen in den Arbeitsmarkt sind für junge Menschen seit vielen Jahren nicht besonders rosig. Und das obwohl die Bevölkerung Europas immer schneller altert und das Reservoir junger Arbeitskräfte eher schrumpft. Als besonders bitter empfinden häufig junge Akademiker ihre Situation. Nach Jahren des Studiums bleibt ihnen oft nur, ein Praktikum nach dem anderen anzunehmen. Einen flotten Begriff für dieses Phänomen am Arbeitsmarkt gibt es bereits: Generation Praktikum (Ausbeutung statt Ausbildung). Das Online-Lexikon Wikipedia widmet dem Thema einen eigenen Eintrag. „Die Generation Praktikum (oder Generation Prekär ) steht seit den 1990er Jahren für ein von vielen als negativ empfundenes Lebensgefühl der jüngeren Generation, die vermehrt unbezahlten oder minderbezahlten Tätigkeiten in ungesicherten beruflichen Verhältnissen nachgehen muss“, heißt es hier und konkretisiert die Misere:

  1. Junge Akademiker überbrücken potentielle Lücken im Lebenslauf, indem sie eine Praktikantenstelle nach der anderen annehmen, obwohl sie eigentlich eine feste Anstellung suchen.
  2. Einige Unternehmen nutzen Praktikantenverträge zur Minderung ihres Risikos, um Neueinstellungen zu wagen; da sie auf dem Umweg die gesetzlichen Auflagen zum Kündigungsschutz und Tarifverträge nicht umverhandeln müssen.
  3. So manche Unternehmen missbrauchen hochqualifizierte Praktikanten und Hospitanten, beschäftigen sie unter- oder zu schätzungsweise 70 Prozent sogar unbezahlt, ohne Absicht, entsprechende Stellen im regulären Angestelltenverhältnis einzurichten.

Von „Missbrauch“ sprach denn auch EU-Beschäftigungskommissar Vladimír Spidla anlässlich einer Pressekonferenz in Brüssel, in der er sich gemeinsam mit Bildungskommissar Ján Figl generell für „mehr Engagement im Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit“ einsetzte. Laut Agenturberichten bezeichnete Spidla die schlecht bezahlten Praktika als „Ausbeutung“, „Sozialdumping“ und schlichtweg als „skandalös“. Seine Sprecherin, Katharina von Schnurbein, nahm dabei besonders die großen EU-Staaten wie Frankreich, Deutschland und Italien ins Visier. Dort sei Missbrauch „gang und gäbe“, zitiert der ORF die Sprecherin. Der Grund wäre die hohe Zahl junger Leute, die in diesen Ländern auf den Arbeitsmarkt drängten.

Immer mehr Unternehmen nützten die Notwendigkeit etwa junger Akademiker, Berufserfahrung für ihren Lebenslauf zu sammeln, aus, um diesen einen schlecht oder gar nicht bezahlten Praktikumsplatz anstelle einer festen Anstellung anzubieten. Firmen würden damit bei den Personalkosten kräftig einsparen und Risiken von Neueinstellungen umschiffen, hieß es auf der Pressekonferenz. Eine europäische Qualitätscharta für Praktika 2008 soll Praktika zwar künftig fördern, Missbrauch aber bekämpfen, so die Ambitionen der EU-Kommission. Dabei soll sich die Wirtschaft verpflichten, keine regulären Stellen mit schlecht oder gar nicht bezahlten jungen Leuten zu besetzen. Ziel sei es, "die Ausbeutung von Jugendlichen zu verhindern" und der "Generation Praktikum" eine Chance zu geben, so Spidla. Im Rahmen der Charta könnten sich Firmen nach Angaben des Kommissars etwa verpflichten, keine Langzeitpraktika von einem Jahr oder mehr anzubieten sowie die jungen Leute angemessen für ihre Arbeit zu bezahlen, so die Vorstellungen der Kommission Auch der "pädagogische Wert" des Praktikums könne darin festgehalten werden.

In der EU-Pressekonferenz ging es aber keineswegs ausschließlich um die Situation von jungen Akademikern, sondern generell um die „stärkere Einbeziehung junger Menschen in die Gesellschaft“. Das betrifft sowohl die Ausbildung als auch die Einbindung in den Arbeitsmarkt. Basierend auf diversen Studien gab die Kommission eine umfassende Hintergrundmitteilung.

Wie die vorgelegte Analyse der Kommission zeigt, sind junge Menschen häufig nicht gut genug auf die Übernahme dieser Verantwortung vorbereitet. Immer noch verlässt einer von sechs jungen Europäern die Schule vorzeitig, immer noch sind 4,6 Millionen 15- bis 24-Jährige arbeitslos. In ihrer Mitteilung unterstreicht die Kommission die Notwendigkeit, auf EU-Ebene und in den Mitgliedstaaten mehr und früher in die Erziehung und die Gesundheit der jungen Menschen zu investieren und den Übergang von der Ausbildung in den Beruf zu erleichtern. Betont wird auch, wie wichtig es ist, junge Menschen stärker in das staatsbürgerliche Leben und in die Gesellschaft als Ganzes einzubeziehen.

Mitteilung der EU-Kommission

In der Hintergrundmitteilung ebenso wie in dem Statement der EU-Kommissäre wird in gewisser Weise auch die Integrationsbereitschaft junger Menschen eingefordert. Die Bedeutung des Erwerbs von Grundqualifikationen wie Lesen, Schreiben und Rechnen steht dabei sicherlich außer Streit. Allerdings bleibt die Frage weitgehend ausgeblendet, ob die Gesellschaft mit ihren dominierenden Mechanismen des Konkurrenzdenkens und des Diktats eines im Grunde genommen abstrakten Geldwesens tatsächlich so attraktiv für junge Menschen ist, um sich bereitwillig anzupassen. Ob es nicht aufregender und langfristig lohnender wäre, gemeinsam über neue Werthierarchien nachzudenken, bevor man sich indirekt über die mangelnde Eingliederungsbereitschaft beklagt.

Wie auch immer, die Verbesserung von Rahmenbedingungen für junge Menschen und die Einforderung gewisser Standards für Praktikanten sind sicher wichtig. Neben der europäischen Qualitätscharta für Praktika macht die Kommission noch folgende Vorschläge:

  1. alle drei Jahre Vorlage eines EU-Jugendberichts, in dessen Ausarbeitung junge Menschen einbezogen werden; darin soll die Lage der jungen Menschen in Europa beschrieben und analysiert und damit das Verständnis für die Probleme verstärkt und die bereichsübergreifende Zusammenarbeit intensiviert werden;
  2. eine neue Gesundheitsstrategie mit speziellen Maßnahmen zugunsten junger Menschen (wird derzeit ausgearbeitet);
  3. Konsultation und Folgenabschätzung zur Freiwilligenarbeit, womit eine Initiative zur Beseitigung von Hindernissen und zur problemloseren Anerkennung von während der Freiwilligenarbeit erworbenen Fähigkeiten vorbereitet werden soll;
  4. Untersuchung der nationalen Verfahren für den Zugang junger Menschen zur Kultur mit dem Ziel, diesen Zugang zu erleichtern.

Welche konkreten Projekte gefördert werden und sich dann als sinnvoll erweisen, bleibt noch abzuwarten.