Wer beerbt den Weltsouverän?

Warum moralische Kritik an den Vereinigten Staaten abprallt und die verschuldete Supermacht das Vertrauen ihrer Kreditgeber vorerst behält

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Der Kapitalismus hat sich selbst beerbt und wurde zur Alleinherrschaft auf Erden verurteilt. Ohne Widersacher und ohne die Revolution im Leib jagt er vergeblich seiner einstigen Schöpferkraft nach. Dieser trostlosen Geschichte gebührt es, dass sie mit unseren schmucklosesten, dürrsten Worten erzählt wird. Es wäre vermessen, dieses Allgegenwärtige noch einmal nacherzählen zu wollen und Autorschaft zu beanspruchen. Allerdings muss man dreist genug sein, eins und eins zusammenzuzählen, und dies in gebotener Kürze. Wenn dabei fünfhundert Seiten entstehen, wissen wir, dass wieder einmal gar nichts geschehen ist außer dem anhaltenden Räuspern und Fingerheben des Autors. „So lang kann die Wahrheit doch garnicht sein!“ (Gottfried Benn)

Eins und eins: Die Verflüssigung und Verflüchtigung des Wirtschaftens hat einen territorialen Dreh- und Angelpunkt. Sie besitzt gleichsam einen zentralen Durchlauferhitzer, ein Laboratorium, das für die Virtualisierung des Kapitals prädestiniert war, weil es sich ebenso wie dieses der Selbstschöpfung verdankt.

Das neue Finanzkapital wurde mit allen Lebenskräften der Menschheit, vor allem aber mit der Dollarwährung großgezogen. Ansporn und Mut zur spekulativen Kapitalanlage werden vom unbelehrbaren amerikanischen Optimismus genährt. Wer im Finanzmarkt investiert, muss weitermachen – in Dollar und weil er auf den Dollar gesetzt hat. Wie Gabor Steingart, Leiter des Hauptstadtbüros und ehemaliger Ressortchef Wirtschaft des Spiegel, feststellt1, sind die Amerikaner beim Verkaufen von Industrieprodukten weit zurückgefallen, aber „unschlagbar im Verkaufen des Dollars“. Indem die amerikanischen Banken die – infolge des Anlagebooms – gestiegenen Preise für Aktien und Immobilien selbst wiederum als Beleihungsgrundlage akzeptieren, halten sie den „geschlossenen Kreislauf der wundersamen Geldvermehrung“ in Gang. Nach wie vor behauptet sich der Dollar nicht nur als die globale Anlagewährung schlechthin, sondern als globale Reservewährung (mit einem Anteil von zwei Drittel aller Währungsreserven), hat somit Rückendeckung von fast allen Nationalbanken.

Dass die Vereinigten Staaten keinen ausreichenden Gegenwert für die weltweit gehorteten Dollars erbringen und ihr Handels- und Leistungsbilanzdefizit seit den siebziger Jahren geradezu explosionsartig wächst, ist allgemein bekannt und bisher folgenlos geblieben, nicht zuletzt deswegen, weil alle wissen, dass es allgemein bekannt ist. Die US-Federal Reserve Board senkt mittels waghalsiger Gelddruckerei (kalkulierter Inflation) die Dollarschulden bei ausländischen Kreditgebern, die das Defizit finanzieren. Die amerikanische Regierungsstatistik meldet einen sensationell hohen Beschäftigungsstand, der durch Telefonumfragen ermittelt wird, und glänzt mit Produktivitätsrekorden, die sich einem statistischen Trick des Handelsministeriums verdanken – an die Stelle des Umfangs produzierter Güter tritt der subjektive Nutzen von Gütern2. Zum nominellen Wirtschaftswachstum der Vereinigten Staaten trägt wesentlich die Schuldenaufnahme bei, im Jahr 2005 zu mehr als 60 Prozent.

Das Kapitel wurde dem Buch: "Die Welt als Ort. Erkundungen im entgrenzten Dasein" von Frank Böckelmann entnommen, das Mitte September im Karolinger Verlag, Wien/Leipzig, und im Alpheus Verlag, Berlin, erscheint. 312 Seiten, € 24,- einschl. Versandkosten, ISBN 9783854181231. Vorbestellungen über verlag@karolinger.at oder alpheus@hanns-zischler.de oder den Buchhandel.

Solche Mitteilungen haben indes etwas Hochstaplerisches, weil sie suggerieren, der Ernst der Lage sei bisher noch nicht in ganzem Ausmaß erkannt worden. Doch ausländische Investoren kaufen unverdrossen weiter amerikanische Aktien, Anleihen und Dollars, obwohl sie wissen, dass die Heimstätte des Finanzkapitals kränkelt. Entgegen den Annahmen des kaufmännischen Biedersinns ist dieses Wissen sogar der wichtigste Stabilitätsfaktor in der amerikanischen Bubbles-Ökonomie. Die Anleger sind gezwungen, ihre Zweifel an der Sicherheit der Investitionen zu zerstreuen, indem sie weitere Anteile kaufen. Sie stützen auf diese Weise das Vertrauen, das die Hüter der Dollar-Leitzinsen ihnen anempfehlen. Denn hörten sie zu kaufen auf, erschütterten sie damit ihre eigene Existenzgrundlage.

„Der Dollar verdient das Vertrauen, weil er es sonst verliert. (...) Der Dollar ist stark, weil nur das gegen seine Schwäche hilft.“3 Die Gefahr eines globalen Crashs ist so groß geworden, dass nur noch Missachtung der Gefahr die Chance wahrt, dass der Crash ausbleiben könnte, so wie er bisher ausgeblieben ist. Die Verbindlichkeiten in der globalen Finanzwirtschaft sind diesem Verhaltensmuster nachgebildet.

Aus diesem Grund bündeln sich alle strategischen und ökonomischen Bemühungen der Vereinigten Staaten bei der Erzeugung von Sicherheit. Die Weltherrschaft ruht auf der Macht zu definieren, was Sicherheit ist, und sie zu gewährleisten. In Nordamerika ist eine Neue Welt erschaffen worden. Die dort leben, vollbringen das Wunder der Selbsterschaffung immer aufs Neue. Zuversicht, gegründet auf Zuversicht. Wir Kapitalanleger in aller Welt vertrauen unweigerlich darauf, dass der Dollar vor Wertschwankungen und Entwertung besser geschützt ist als jede andere Währung. Da alle ins Weltfinanzsystem Verwickelten in gewisser Weise Amerikaner sind, versichert die Führung der Vereinigten Staaten, dass seit dem Untergang des Römischen Reichs kein anderes Imperium eine derartige Vormachtstellung in Wirtschaft, Kultur, Technologie und Militär innegehabt hat. Nach Ablösung der Goldwährung als Fundament der Währungsstabilität durch die Devisenreserven glauben die Geldvermögensbesitzer mit aller Inbrunst an die US-Protektion. Man hat ihnen garantiert, das Weltgeld von heute werde auch das Weltgeld von morgen sein.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erzwangen die Vereinigten Staaten als westliche Führungsmacht schrittweise die Beseitigung der Handelsschranken. Die Erschließung eines Weltmarkts, der diesen Namen verdient, vollendete sich mit der Auflösung des Warschauer Pakts. Folgerichtig gelangten die Vereinigten Staaten in die Position der einzigen Weltmacht. Auf dem vereinten Markt verhalf der amerikanisch forcierte Freihandel dem spekulativen Kapital zum letzten Durchbruch und machte ihm die Nationalstaaten gefügig.

Die Vereinigten Staaten sind letzten Endes der einzige Nationalstaat, der als Staat von der entgrenzenden Wirkung des virtuellen Finanzkapitalismus gestärkt wird. Im Vollbesitz der Weltmarktführerschaft erheben sie sogar wieder bestimmte Schutzzölle, um Eindringlinge in die Schranken zu weisen. Wenn wir einräumen, dass im „kapitalistischen Weltinnenraum“ die Wirtschaft den Vorrang vor der Politik hat, weltpolitisches Schwadronieren somit eine Rechnung ohne den Wirt ist, bestätigen wir die geopolitische Vorherrschaft der Vereinigten Staaten.

Diese gleichen einem Unternehmen, das für sich selbst und seine Produkte ständig Vertrauen beschaffen muss. Da man von den anderen etwas anvertraut haben möchte, reicht es nicht aus, nachhaltig abzuschrecken. Die Welt soll davon überzeugt werden, dass es sich auszahlt, einer hoch verschuldeten Macht weiterhin Kredit zu geben. Man präsentiert einen Sicherheitsdienst, mit dem es niemand aufnehmen kann, und stellt das große Feld der Vertrauens- und Misstrauensbildung vorsorglich unter eigene Kontrolle. Die gängige Kritik an den Vereinigten Staaten ist rückständig, denn in den Medien und Wissenschaften der Vereinigten Staaten wurde sie bereits vorweggenommen. Wenn das nicht Beachtung findet, geht die Kritik ins Leere. Als Überbringerin von Demokratie und Marktwirtschaft beansprucht die Supermacht zudem einen höheren, exklusiven Auftraggeber, der sie für alle Folgeschäden militärischer Interventionen im voraus entschuldigt.

Moralische Kritik gar prallt an der auf allen Bildschirmen erscheinenden Selbstprojektion der Supermacht ohnmächtig ab. Täuscht der Eindruck, dass diese Erfahrung die globale Protestbewegung erst recht zum Moralisieren reizt? So einfach ist der Macht nicht beizukommen. Normalerweise läuft die Schuldbewältigung drüben folgendermaßen ab: Die US-Regierung nimmt den Tod Zehntausender oder Hunderttausender von Zivilisten eines fremden Landes in Kauf. Daraufhin erklärt die amerikanische Bürgerrechtsbewegung ihre Regierung zum Hauptfeind der Menschheit. Abschließend verwertet Hollywood das Drama in Hunderten von Gewissens- und Weltuntergangsorgien.

Als PR-Agentur hat die selbstgerechte Weltmacht aber eine große Schwäche. Wird sie weltweit sichtbar herausgefordert, gerät sie unter Zugzwang. Sie muss dann weltweit sichtbar ihre Überlegenheit beweisen. Folglich ist sie ein Spielball der Todbereiten in aller Welt. Als 2001 die Türme des Welthandelszentrums per Rammstoss zum Einsturz gebracht wurden, konnte das Bildschirmereignis nicht mit Geheimdienstaktionen (und wären sie noch so erfolgreich gewesen) sein Bewenden haben. Vielmehr musste am potentiellen Feind, asymmetrisch oder nicht, ein deutlich größerer Schaden angerichtet werden.