Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben

Wie mit dem Pflegenotstand in Deutschland Privatisierungspolitik betrieben wird

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Am Anfang steht immer die Einsetzung einer Kommission: Anlässlich der Pflegeskandale gedenkt die sozialdemokratische Gesundheitsministerin Ulla Schmidt eine Kommission aus Experten von Pflegekassen und -einrichtungen, Sozialhilfeträgern und Kommunen einzuberufen. Dabei existiert weniger ein Defizit bei der Problemerkennung, als bei der Durchsetzung einer Politik, welche mehr auf bedarfsgerechte Pflege, als auf die Einhaltung des Budgets abzielt.

Denn die Leistungen der Pflegeversicherung sind in verschiedene Stufen von Bedürftigkeit mit festen Geldbeträgen eingeteilt, welche die Obhut auf eine anspruchslose Grundversorgung der Bedürftigen beschränkt und überdies einer äußerst rigide gehandhabten Einteilung der Pflegeleistung in Zeiteinheiten unterliegt. Darüber hinaus lässt sich mit Gebrechlichen der Pflegestufe III entschieden mehr Geld verdienen, als mit selbständiger Agierenden der unteren Pflegekategorien, so dass Betreuung nach Renditegesichtspunkten sich notwendigerweise genau in das Gegenteil einer menschenwürdigen Versorgung verkehren muss.

Katastrophale Unterversorgung

Letzte Woche sorgte der Bericht des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen, der auf der Untersuchung der Lage von 40.000 Pflegebedürftigen beruht, für Schlagzeilen: Über dreißig Prozent von ihnen leiden an einer Unterversorgung bei Essen und Trinken. Aufgrund mangelhafter Umbettungsmaßnahmen weisen zweiundvierzig Prozent der ambulant und fünfunddreißig Prozent der in einem Heim Versorgten Wundstellen auf. Ebenfalls schwerwiegende Mängel treten demnach bei unter Inkontinenz leidenden Pflegebedürftigen auf. Zehn Prozent aller Bedürftigen leiden unter medizinischen Beeinträchtigungen, die unmittelbar mit pflegerischer Unterversorgung zusammenhängen.

Besonders von dieser Entwicklung betroffen sind Demenzkranke, deren Anzahl immer weiter ansteigt. Dabei beschreibt der Bericht wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs. Denn wie der Geschäftsführer des Medizinischen Dienstes, Peter Pick, in einem Interview bestätigte, werden nur zwanzig Prozent der Pflegedienste im Jahr einer Untersuchung unterzogen, wobei in der Regel jede zweite eine Woche vorher angekündigt wird. Dementsprechend fordert der Sozialpädagoge Claus Fussek zur Einhaltung pflegerischer Mindeststandards mehr unangemeldete Kontrollbesuche, das Einführen eines im Internet zu veröffentlichenden Qualitätsberichts und die Möglichkeit, schlecht geführte Pflegeunternehmen zu schließen. Er stellt generell fest:

„Alte Menschen menschenwürdig zu pflegen, ist nicht marktfähig, dies soll aber nach dem Willen der Politik marktfähig sein. Das ist das Problem. Pflege ist eine Aufgabe der Solidargemeinschaft, nicht des Marktes.“

Mit dieser Ansicht steht der bekannte Kritiker des institutionalisierten deutschen Pflegenotstands in der Öffentlichkeit ziemlich alleine dar, denn in Politik und Medien wird umgekehrt zunehmend über einen Einstieg in die Privatisierung der Pflegeversicherung diskutiert. Zwar konnten sich SPD und CDU bei dem von der großen Koalition ausgearbeiteten Eckpunktpapier der Pflegereform bei der Finanzierung noch nicht einigen: Die SPD favorisiert einen Ausgleich zwischen gesetzlichen und privaten Kassen, während die CDU nach dem Modell der Riesterrente den Einstieg in die private Vorsorge mit staatlichen Zuschüssen propagiert.

Mediale Privatisierungsoffensive

Jetzt, nach dem Bekanntwerden der chronischen Unterversorgung von Bedürftigen, haben auch die Medien (z. B. BILD und FAZ) für die Umstellung des Umlageverfahrens auf Kapitaldeckung á la Raffelhüschen plädiert.

Dies passt ziemlich genau zu dem bereits von der Gesundheitsministerin propagierten Rezept einer "kapitalgedeckten Demographiereserve". Bei dieser Umstellung von Umlagefinanzierung auf Kapitaldeckung müsste aber erst individuell ein Kapitalstock angespart werden, aus dem dann die private Pflege finanziert werden könnte.

Für die mittlere Generation, welche sowohl für die private Pflege für sich als auch im Umlageverfahren für die laufenden Unkosten der heutigen Generation von Bedürftigen aufkommen muss, würde dies eine doppelte finanzielle Belastung darstellen. Es wäre also ein vermehrter Aufwand für Arbeitnehmer bei gleich schlecht bleibender Behandlung - aber freilich für Versicherungen ein lohnendes Geschäft. Auch für die Arbeitnehmer wäre ein solches Verfahren von Vorteil, weil sich - anders als bei der bislang paritätisch finanzierten gesetzlichen Pflegeversicherung - die private nicht mehr mit aus Beiträgen der Arbeitgeber speist.

Bislang hat sich die Gesundheitsministerin für mehr Kontrolle und Transparenz in den Pflegeeinrichtungen ausgesprochen, für die Pflege von Demenzkranken eine Zuzahlung von zweihundert Euro mehr im Monat und zehn pflegekassenfinanzierte Tage Sonderurlaub für berufstätige Angehörige von Bedürftigen in Aussicht gestellt. Ob dies eine angemessene Antwort auf den Pflegenotstand in Deutschland ist, der offenbart, dass die Pflegeunternehmen auf den wachsenden Marktdruck auf fatale Weise reagieren, oder ob man erneut versucht, den öffentlichen Teufel mit dem privatisierten Beelzebub auszutreiben, wird sich noch zeigen.