Von wegen 99,9 %

Fahndungsdetails zu den drei letzte Woche festgenommenen mutmaßlichen Terroristen legen nahe, dass die Online-Durchsuchung potentiell alle trifft, die WLAN oder Windows nutzen

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Um die angebliche Harmlosigkeit der geplanten Online-Durchsuchung zu belegen, verweist BKA-Chef Ziercke immer wieder gern darauf, dass angeblich 99,9 % der Bevölkerung gar nicht von dieser Maßnahme betroffen wären. In Wirklichkeit ist jeder, der WLAN und/oder ein Windows-Betriebssystem nutzt, potentiell einem erheblichen Risiko ausgesetzt - auch und gerade wenn er kein Terrorist ist. Und das, was die Behörden bei Personen, von denen sich später herausstellt, dass sie keine Terroristen sind, über Unregelmäßigkeiten beim Steuernzahlen, beim Kopieren von Medien oder an justiziablen Aussagen über Politiker finden, kann potentiell zu Strafverfahren führen.

Als vor etwa 40 Jahren die Telefonüberwachung erlaubt wurde, da war die Zahl der Delikte auf ganze vier beschränkt. Heute gleicht der Deliktkatalog einem "Spaziergang durch das Strafrecht". Aus wenigen hundert Einsätzen jährlich wurden viele Zigtausende. Und das Fehlen eines Beweisverwertungsverbots für Delikte, bei denen das Verfahren eigentlich nicht eingesetzt werden darf, führt regelmäßig auch dazu, dass zufällig Aufgedecktes, wie etwa kleinere Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz (Michel Friedman) oder unbedacht und scheinbar unbelauscht geäußerte Phantasievorwürfe, wie jener gegen den Moderator Andreas Türck, in Strafverfahren münden. Verfahren wegen Beamtenbeleidigung sind beispielsweise auch dann möglich, wenn die Beleidigungen nicht gegenüber dem Betroffenen direkt geäußert, sondern nur erlauscht wurden.

Laut Informationen der Süddeutschen Zeitung nutzten die drei Blondierungsmittelbomber neben Internet-Cafés auch Wireless-LAN-Netze und versandten von dort aus Emails an Terroristen in Pakistan, was dazu führte, dass die IP-Nummern von Personen, die mit den gewaltbereiten Islamisten gar nichts zu tun hatten, ins Visier der Fahnder gerieten. Die Pressestelle des BKA dementiert dies nicht, schweigt aber eisern zu allen Details. Dabei stellen sich durchaus viele Fragen, welche die derzeit so überwältigende Zustimmung zur Online-Durchsuchung in Frage stellen könnten.

Etwa, welche Überwachungsmaßnahmen für die Inhaber der Internet-Anschlüsse angeordnet wurden (Email-Überwachung? Telefonüberwachung? Wohnraumüberwachung?) und wie lange diese dauerten. Das BKA schweigt hierzu ebenso wie zur Frage, ob die WLAN-Nutzer wegen anderer Delikte, für die sich zufällig Anhaltspunkte fanden, belangt wurden. Das Strafrecht ist mittlerweile derart mit schwammigen Delikten überfrachtet, dass sich bei mehrtägiger Überwachung einer Durchschnittsperson mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar mehrere Straftaten konstruieren ließen. Potentiell reicht es für ein Verfahren, wenn zum Beispiel jemand seinen Sachbearbeiter am Finanzamt beim Telefonieren mit der Ehefrau eine "dumme Sau" nennt oder wenn er einer anderen Person einen Tipp für die Steuererklärung gibt (und sich damit eines Verstoßes gegen das Rechtsberatungsgesetz schuldig macht). Ob solche Taten dann verfolgt werden, ist eine andere Frage. Der Überwachte aber ist erst einmal potentiell den Launen der Bürokratie ausgeliefert.

In den 1970ern, während der RAF-Fahndung, mussten Menschen, die andere Leute zeitweise bei sich in der Wohnung aufnahmen, fürchten, in die Fahndungsmühlen zu geraten. Die paranoide Stimmung, die dadurch entstand, behandelten unter anderem Rainer Werner Fassbinder in seinem Beitrag zum Episodenfilm "Deutschland im Herbst" und Heinrich Böll in seinem Roman "Die verlorene Ehre der Katharina Blum". Heute ist nicht einmal ein bewusster Kontakt zu einer anderen Person nötig. Jeder, der WLAN nutzt, kann sehr schnell in die Situation geraten, dass jemand seinen Internetanschluss heimlich nutzt – und ihm in Folge dessen ein Online-Trojaner untergeschoben wird. Der findet dann zwar keine Terrordaten, aber vielleicht etwas zu Taten, die allgemein unter dem Begriff "Kavaliersdelikte" laufen – zum Beispiel zur heimlichen Entgegennahme eines Geldkoffers für eine schwarze Parteikasse.

Potentiell betroffen sind vor allem unbedarfte Nutzer, die Provider für "anders Begabte" und Standard-Passwörter wie "kaisicher" nutzen. Aber auch eine Verschlüsselung des WLAN-Verkehrs hilft gegen eine Nutzung durch Dritte nur sehr wenig: Mit Software wie Aircrack lassen sich die üblichen WLAN-Verschlüsselungen ohne großen Aufwand knacken,

Zu den gefährdeten WLAN-Nutzern hinzu kommt jeder, der ein potentiell unsicheres Windows-Betriebssystem nutzt. Microsoft gibt keine Daten zu den Windows-Installationen in Deutschland heraus. Schätzungen zufolge liegen sie aber auf jeden Fall deutlich im zweistelligen Millionenbereich. Ähnlich verhält es sich mit privaten WLAN-Routern: Allein sie dürften wesentlich mehr als die 0,1 % oder (immerhin) 82.310 Menschen ausmachen, die laut der Aussage Zierckes potentiell betroffen waren. Aber auch in GNU/Linux, Mac OS und FreeBSD werden immer wieder Sicherheitslücken entdeckt, die potentiell eine Übernahme des Rechners ermöglichen, so dass sich eigentlich nur Nutzer von OpenBSD und GEOS relativ sicher fühlen können – natürlich nur, solange sie kein WLAN nutzen.