Soll in der Virtualität erlaubt sein, was gefällt?

Handlungsfreiheit in den virtuellen Umgebungen der Computerspiele

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Die virtuellen Umgebungen im Bereich der Computerspiele ermöglichen dem jeweiligen Nutzer vielfältige Handlungsoptionen. Die Unterhaltungs- und Spielindustrie bietet ein fast unüberschaubares Angebot, um Phantasie, Ideen, Bedürfnisse, Neigungen und vieles mehr aktiv oder interaktiv umsetzen zu können. Auch bizarre und ungewöhnliche Nutzerpräferenzen bleiben dabei nicht unberücksichtigt. Hierbei stellt sich vor allem die Frage, ob der virtuelle Handlungs- und Gestaltungsspielraum des jeweiligen Nutzers moralischen Beschränkungen unterliegen soll oder ob erlaubt ist, was gefällt.

In Politik, Gesellschaft und auch Wissenschaft gehen diesbezüglich die Meinungen weit auseinander. Wenn es speziell um gewalthaltige Inhalte einzelner Computerspiele geht, werden zahlreiche negative Konsequenzen für den jeweiligen Nutzer und seine Umgebung befürchtet. Diese Ängste und Sorgen werden in Entwicklungsdefiziten, Suchttendenzen, technologischem Autismus und vielem mehr formuliert. Deshalb wird seit geraumer Zeit erörtert, ob Verbote, Sanktionen, Einschränkungen, Beschlagnahmungen oder Zensur sinnvolle Maßnahmen und probate Mittel sein könnten.

Die vielfältigen Möglichkeiten im Bereich der Computerfiktion sind unter dem Aspekt menschlichen und gesellschaftlichen Fortschritts zu betrachten und Computerspiele sind als solche kultureller Bestandteil unseres modernen Technologiezeitalters. In den elektronisch erzeugten Handlungsräumen der Computerspiele sind individuelle und kollektive Entfaltungs-, Erfahrungs- und Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb eines programmierten Spiels erfahrbar.

Dem Handlungs- und Gestaltungsspielraum des jeweiligen Nutzers oder einer bestimmten Nutzergemeinschaft werden dabei lediglich Beschränkungen innerhalb des Spielprogramms gesetzt, sowie technische Kapazitätsgrenzen des Computers. Im Rahmen dieser Regulierungen kann der Einzelne seine Handlungsfreiheit nutzen, erweitern oder sich selbst neu inszenieren. In virtuellen Erlebnisräumen ist auch die Modellierung der eigenen Persönlichkeit als eine Form kreativer Lebensgestaltung zu betrachten. Den Vorlieben des Einzelnen bleibt dabei überlassen, ob er sich monströser Avatare, blutrünstiger Actionhelden, körperloser Alleskönner oder selbst kreierter Fabelwesen bedient.

In unserem Grundgesetz ist das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und auch die grundsätzliche Garantie der allgemeinen Handlungsfreiheit des Individuums festgelegt. Diese Handlungsfreiheit gestattet dabei jedem Einzelnen, zu tun und zu lassen, wonach ihm beliebt, solange nicht die Rechte anderer Menschen oder jene der Verfassung verletzt werden. Dieses Grundrecht scheint nicht ohne Einschränkung für die virtuelle Handlungsfreiheit des Menschen zu gelten.

Paternalistische Freiheitsbeschränkung

Auf welche Weise oder aus welcher Motivation heraus der einzelne Mensch als eigenständiges Individuum seine Handlungsfreiheit in virtuellen Computerwelten gestaltet, ist derzeit leider nicht ausschließlich seinen persönlichen Entscheidungsgründen überlassen. Der virtuelle Spielraum (z. B. Computerspiele mit gewalthaltigem Inhalt) soll von Seiten des Gesetzgebers eingeschränkt werden, weil er im Verdacht steht, Kinder und Jugend verderbend zu sein, allgemein sozial- und gesellschaftsschädlich, unmoralisch, sowie geschmack- und sittenlos. Jugendschutz, Jugendmedienschutz, die Bundesprüfstelle wie auch die Strafverfolgungsbehörden unseres Landes konfrontieren die Unterhaltungs- und Spielindustrie oftmals mit Vorwürfen, Bedenken, Verboten und Zensur.

Die inhaltliche Wirkungseinschätzung von Computerspielen wird oft aus mangelnder Sachkenntnis völlig überschätzt und mutiert somit zur Zielscheibe apokalyptischer Prophezeiungen. Dies ist kaum verwunderlich, wenn man die zahlreichen, in diesem Bereich existierenden Untersuchungsergebnisse aus Politik, Wissenschaft und Medienwirkungsforschung in ihren oftmals widersprüchlichen Aussagen betrachtet. Ein Konsens in Bezug auf Auswirkungen von fiktiver Darstellung von Computergewalt auf tatsächlich real ausgeübtes Gewaltverhalten wurde bislang nicht erzielt. Dies scheitert an der Komplexität des Untersuchungsbereichs und den oftmals unberücksichtigten Rahmenbedingungen.

Versucht man dennoch vorsichtig und vorläufig eine Zusammenfassung der unterschiedlichen Untersuchungsergebnisse zu wagen, so ergibt sich, dass manche Formen von Mediengewalt für einige Individuen unter gewissen Bedingungen und unter Berücksichtigung vielfältiger Einflussfaktoren, negative Folgen nach sich ziehen können. Das heißt: „Nichts Genaues weiß man nicht“. Für den jeweiligen Nutzer von Computerspielen bedeutet dies, dass vorsorglich-präventiv, aus wohlwollendem Selbst- und Fremdschutz und wegen eventuell vielleicht irgendwann einmal eintretender Gefahren und Folgen, die Handlungsfreiheit eingeschränkt wird.

Diese paternalistische Freiheitsbeschränkung dient dem Zweck, einem Individuum Schutz aufzuzwingen, und zwar unabhängig davon, ob dieser Schutz erwünscht ist oder nicht. Hier wird individuelle Freiheit nicht deswegen eingeschränkt, um die berechtigten Interessen Anderer oder der Allgemeinheit zu schützen, sondern, weil der Einzelne angeblich nicht in der Lage ist, seine Freiheit sinnvoll zu nutzen. Die Furcht vor „sinnloser“ oder „unsinniger“ Freizeitbeschäftigung einzelner Bürger, verbunden mit der Vermutung folgenschwerer Konsequenzen, entspricht dem „Schiefe-Bahn-Argument“.

Die Einschränkung der Handlungsfreiheit gilt dabei nicht ausschließlich für minderjährige, schutzbedürftige Kinder und Jugendliche, sondern betrifft auch den privaten und persönlichen Lebensraum mündiger, erwachsener Bürger. Obwohl die Nutzung von Computerspielen ab dem 18. Lebensjahr den privaten Entscheidungen der jeweiligen Spieler überlassen sein sollte, werden jedoch auch deren Geschmacks- und Handlungspräferenzen eingeschränkt: Einem erwachsenen Bürger ist in unserem Land nicht freigestellt, sein virtuelles Unterhaltungsangebot frei zu wählen. Bedient er sich dennoch eigenmächtig einem beispielsweise beschlagnahmten Computerspiel, so begibt er sich höchst fahrlässig in den Bereich kriminalisierter und illegaler Handlungen.

Staatliche Institutionen bemühen sich redlich, auch die unschädlichen und legitimen Privatinteressen des einzelnen Individuums zu verrechtlichen, sozialverträglich anzugleichen oder im Sinne des Gemeinwohls moralisch aufzuwerten. Das im Grundgesetz verbürgte Recht auf Handlungsfreiheit des Einzelnen, seine Entfaltung der Persönlichkeit und seine freie Lebensgestaltung finden ihre Grenzen in der virtuellen Computerwelt. So betrachtet, ist dem Einzelnen in virtuellen Spiel- und Erlebnisräumen nicht erlaubt, was gefällt. Freies, selbstbestimmtes Handeln stößt im gewalthaltigen Computerspiel an die Grenze der Legalität.

Unabhängig von modernen Computerspielen gehört der Gewaltaspekt zum grundlegenden Spielprinzip fast aller in unserem Kulturkreis bekannten Spiele

Hier sei die profane, aber dennoch legitime Frage erlaubt, welchen Vergehens sich beispielsweise ein dreißigjähriger, unbescholtener Familienvater schuldig macht, wenn er zu seinem Privatvergnügen in seiner Freizeit gewalthaltige Egoshooter-Spiele bevorzugt?! Sollte es nicht seinem eigenen Belieben freigestellt sein, ob, wie und mit welchen Medien er sich beschäftigt? Gewaltdarstellungen in Film, Fernsehen, Kino und Theater sind im Gegensatz zu fiktiver Computergewalt gesellschaftlich anerkannt, erfreuen sich seit vielen Generationen allgemeiner Beliebtheit und je nach publikumswirksamer Aufbereitung erhöhen Gewaltdarstellungen in verschiedenen Medien das Aufmerksamkeitsniveau der Zuschauer. Unabhängig von modernen Computerspielen gehört der Gewaltaspekt zum grundlegenden Spielprinzip fast aller in unserem Kulturkreis bekannten Spiele. Dabei steht auch der Tod methodisch im Spielverlauf zur Verfügung.

Für fast jedes Spiel bedeutet dies, dass der gegnerische Spieler oder die feindliche Spielfigur, den Spielregeln gemäß, mit möglichst effizienten und probaten Mitteln besiegt oder eliminiert werden muss. Unter Anerkennung der freien Selbstbestimmung des Einzelnen sollte der Umgang mit Computerspielen nicht moralisch aufgeladen werden, solange kein nachweislicher, ernsthafter Schaden für andere daraus entsteht. Ob sich der betreffende Nutzer bei seinen virtuellen Abenteuern und auf der Suche nach neuen Gefahren dabei wohlig angegruselt oder angewidert vom jeweiligen Spielinhalt ab- oder zuwendet, ob mit oder ohne Herzklopfen, sollte seinen persönlichen Präferenzen und Bedürfnissen überlassen sein. Gesellschaft und Staat sollten die individuelle Gestaltung des privaten Lebensbereichs aus bloßen Geschmacksgründen nicht tangieren.

Paternalistische Bevormundung, wie auch oftmals ausgeübte Tyrannei der Gemeinschaft auf einzelne Gesellschaftsmitglieder, sind ungeeignete Maßnahmen, wenn es um mediale Bereiche wie den der Computerfiktion geht. Ein aufgeklärter Umgang mit dem noch relativ neuen Medium Computerspiel, verbunden mit der notwendigen Aneignung von Sachkompetenz, wie auch einer gezielten Erziehung von Kindern und Jugendlichen zu eigener Medienkompetenz, wären eher hilfreiche Maßnahmen. Durch mehr Eigenverantwortung im Bereich neuer Medien könnte zudem auf weitere Gesetzeserlasse und Verbote verzichtet werden. Entscheidungen privater und persönlicher Angelegenheiten des Einzelnen und jene der Gesellschaft sollten nicht auf Vater Staat abgewälzt werden.

In unserem sich stetig verändernden Technologiezeitalter verändern sich auch die Möglichkeiten der Handlungsfreiheit des Menschen ebenso wie sich die Freiheitsgrade elektronisch erzeugter, virtueller Figuren verändern. Deshalb fordert der technische Fortschritt von jedem einzelnen Individuum, wie auch einer kollektiven Gemeinschaft, sich mit den Errungenschaften unseres Zeitalters möglichst kompetent auseinanderzusetzen, um eigenverantwortlich für sich selbst entscheiden zu können, ob und in welchem Umfang wir diese in unserem Leben integrieren und nutzen möchten. Denn wie für alle anderen Dinge in unserem täglichen Leben gilt es auch im Umgang mit Computerspielen, das rechte Maß zu finden. Was aber das „rechte“ vom „nicht-rechten“ Maß unterscheidet, kann jedoch weder gesellschaftlich noch politisch entschieden werden. Es ist stets die logische Möglichkeit und auch die empirische Wahrscheinlichkeit gegeben, dass irgendetwas missverstanden oder missbraucht werden kann. Dies trifft nicht nur auf gewalthaltige Spielinhalte zu.

Es sollte der Tatsache Rechnung getragen werden, dass nicht jeder Computerspieler mit Notwendigkeit auf der „schiefen Bahn“ landet, nur weil er unkonventionelle Nutzerpräferenzen auslebt. Wer im so genannten „Ballerspiel“ – aus welchen Gründen auch immer - eine gewisse Freude an virtuellen Massakern genießt, mutiert nicht zwangsläufig zum skrupellosen Amokschützen in der „realen“ Nachbarschaft. Die Bedenken der gegenwärtigen Politik, dass der Fortbestand der menschlichen Existenz einer potentiellen Bedrohung durch weltweit viele Millionen Computerspieler ausgesetzt ist, können nicht bestätigt werden.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte der Dissertation von Sylvia Debusmann, August 2007: „Handlungsfreiheit und Virtualität. Zur ethischen Dimension der Computerfiktion.“