Transitorische Räume

Von Aufzügen und Parkhäusern: Die Kulturwissenschaften entdecken übersehene Infrastruktur

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Abwärts heißt 1984 ein deutscher Kinothriller mit Götz George, Renée Soutendijk, Wolfgang Kieling und Hannes Jaenicke. In einem vierziggeschossigen Hochhaus bleibt ein Aufzug mit mehreren Personen stecken. Die Stahlseile reißen. Die Kabine stürzt ab. Regisseur Carl Schenkel stellt fest, man habe mit Menschen im Aufzug das filmisch „schwierigste Motiv“ behandelt.

Wie schwierig, zeigt der Film. In Minute elf bleibt die Kabine stecken, in Minute dreiundzwanzig ist ein Ausstieg auf das Dach gefunden. Die Perspektive verdoppelt sich in drinnen und draußen, hier der beengte Raum, dort ein beleuchteter Schacht mit Stangen, Streben, Kabeln und Luken. In Filmminute sechsundvierzig taucht eine verborgene Tür auf, dahinter ein Seil, eine Lampe, ein Werkzeugkasten. Zu unansehnlich, eng, eintönig und langweilig ist die Aufzugskabine selbst, so langweilig sogar, dass Schenkel keine Viertelstunde die Grundidee seines Films durchhält: „Drei Leute in einem Raum.“

Die fehlende visuelle Attraktivität des Aufzugs ist ein Problem auch für Politiker wie den brandenburgischen Minister für Infrastruktur und Raumordnung, Reinhold Dellmann, der vor kurzem im Rahmen eines Programms zur Fahrstuhlförderung einen Aufzug einweihte. Der Spiegel berichtete in der Rubrik ‘Ortstermin’. Der Ton war spöttisch, die Botschaft klar: Visionäre braucht das Land, keine Politiker, die Metallwände anstarren. Als Deich- und Brückenbauer, nicht als Aufzugkonstrukteur sammelt man Wählerstimmen.

Transitorische Räume

Verdeckte und übersehene Infrastruktur kann freilich besonders wichtig sein. Sie ins Bewusstsein zu heben, versuchen seit einiger Zeit die Kulturwissenschaften. Der Blick gilt auch trivial und profan anmutenden Bauten und hat Aufzüge und sogar Parkhäuser erreicht, die nach einer Formulierung des Philosophen Peter Sloterdijk „Orte ohne Selbst“ sind, welche ihre „Passanten nicht halten.“ Es sind transitorische Räume, in denen man so kurz wie möglich ist und die in ihrer ganzen Anlage primitiv wirken, weil sie nur einen einzigen Zweck bedienen. Mehr noch haben sie einen lebensfeindlichen Anschein, wenn sie ohne sinnliche Attraktivität, Raum, Licht, Luft, Wasser auskommen.

Das Interesse an scheinbar trivialen Bauten ist mehr als ein wissenschaftlicher Manierismus. Es ist Teil der modernen Wissens- und Wissenschaftskultur. Längst ist jede Getränkedose, jeder Rolladengurt, aber auch jeder Fahrstuhl und jedes Gebäude akkumuliertes Wissen, materielle Ausprägung mühsam gemachter Erfahrungen wie systematischer Forschung. Dies betrifft die technische Seite der Objekte, aber damit verwoben auch ihre Gebrauchsgeschichte. Dass die visuelle Prägnanz abnimmt, wenn die Wichtigkeit zunimmt, ist dabei ein interessanter Effekt.

Repräsentativität und Massentransport

Der Gebäudeaufzug, in den USA ca. 1850 erfunden, tritt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zuerst hier seinen Siegeszug an. In Europa setzt er sich ab den 1890er Jahren und mit zunehmender Geschwindigkeit nach dem Ersten Weltkrieg durch. Seine Geschichte beginnt mit reich verzierten, herrschaftlichen Kabinen in offenen Schächten und mit Personal in Uniform.

Der Aufstieg zum Massentransportmittel ist durch den Verfall der ornamentalen Kraft markiert. Die visuelle Verarmung der Aufzüge wird geradezu Voraussetzung für ihre zunehmende Bedeutung. Da ist zunächst die Schließung des Schachts und der Rückzug der eigentlichen Aufzugtechnik in die Unsichtbarkeit. Die Gebäude verschlucken den Aufzug, der im Folgenden ihre Konstruktion bestimmt. Das angefügte oder nachträglich in bestehende Strukturen eingesetzte Gerüst wird in wenigen Jahrzehnten zum innersten Kern des Baus und zum architektonischen Zentrum, dem sich das Haus anlagert.

Vertikale und horizontale Transformationen

Horizontal entsteht mit dem Aufzug die moderne Etage mit klarem Zentrum und einheitlicher Raumhöhe, die keine Zwischengeschosse und unkontrollierten Ausdehnungen kennt und sich beliebig vervielfachen und aufstapeln lässt.

Vertikal ist der Aufzug nicht nur Voraussetzung für die immer größere Höhe von Gebäuden, sondern auch für die Umkehrung der Hierarchie der Räume. Noch im 19. Jahrhundert sind die oberen Stockwerke eine zweifelhafte Region. In den Hotels sind hier die billigsten Zimmer. Die Ausbreitung des Aufzugs bedeutet eine völlig neue Privilegierung der Höhe. Die begehrtesten Räume liegen nun oben.

Der Fahrstuhl befreit die oberen Geschosse vom Stigma der Unzulänglichkeit und verleiht ihnen damit einen ungekannten Reiz. Gleichzeitig korrigiert er eine bis ins 20. Jahrhundert hinein anhaltende symbolische Disharmonie: dass die Stufenleiter der Architektur der des sozialen Lebens widerspricht.

Andreas Bernard

Demokratisierung des Aufzugs

Wie eng das zunehmende Gewicht des Aufzugs mit einem Verlust an repräsentativer Kraft zusammenhängt, zeigt sich auch an der Eliminierung des Aufzugpersonals, die in Europa ab ca. 1920 erfolgt. Voraussetzung ist der Siegeszug des Druckknopfs, der die frühen Seil-, Handrad-, Kurbel- oder Hebelsteuerungen ersetzt, deren Bedienung Geschick und Übung erfordert. Dass mit derselben Fingerbewegung abhängig vom Standort nach oben und unten gefahren werden kann, erscheint im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts als Wunder.

Das vollständige Verschwinden der technischen Vorgänge unter einer undurchdringlichen Oberfläche ermöglicht freilich nicht nur eine ‘Demokratisierung’ des Aufzugs, sondern erzeugt auch einen gefühlten Kontrollverlust und damit neues Unbehagen. Tatsächlich ist dieses Gefühl nicht völlig unberechtigt, denn der Druckknopf ist in seiner benutzerfreundlichen Simplizität auch geeignetes Mittel für Betrug. Insbesondere der heute in vielen Aufzügen vorhandene Knopf zum sofortigen Schließen der Tür ist mitunter nicht verkabelt oder hat nachträglich durchtrennte Kabel, sodass dem hektischen Fahrgast lediglich vorgespielt wird, er hätte individuelle Eingriffsmöglichkeiten.

Kampf um Sicherheit

Die Geschichte des Aufzugs ist eine Geschichte von Sicherheitserwägungen, die zeigt, mit welcher Sorge die Technik von Anfang an betrachtet wird. Der Beginn der eigentlichen Aufzuggeschichte wird nicht umsonst oft auf das Jahr 1854 datiert, in dem eine erste Erfindung vorgestellt wird, die die Kabine im Falle des Seilbruchs stabil hält. Dass bei Aufzügen das Seil reißt und sie einfach abstürzen, wie in Schenkels Film, ist ausgeschlossen, noch bevor es nennenswert viele Aufzüge gibt.

Dennoch ist der Aufzug Ziel diffuser Sorgen, die sich nicht auflösen. Dabei kollidieren reale und gefühlte Sicherheit in einer Weise, die für die Moderne einigermaßen typisch ist. Gerade, was manchem Aufzugbenutzer am meisten Angst macht, nämlich die klaustrophobische Enge in der nach allen Seiten geschlossenen Stahlkabine, entspringt auch Sicherheitserwägungen. Die Schließung des Schachts und die Türsicherungen verhindern den Sturz in den Schacht, der am Anfang der Aufzuggeschichte noch relativ häufig erfolgt.

Kaum zu lösen ist freilich das Problem, dass mit der durch den Aufzug möglich gewordenen immer höheren Auftürmung der Etagen der Weg hinaus im Notfall zum Problem wird. Beispielhaft ist das Feuer im MGM-Grand Hotel in Las Vegas 1980, wo die Toten in den oberen Stockwerken nicht nur im bereits aus dem Zentrum des Gebäudes abgedrängten Treppenhaus, sondern vor allem auf dem Weg zu den Aufzügen gefunden wurden, deren Schächte sich zudem als Kanäle für Hitze und Rauch erwiesen.

Garagenpaläste und Betonsärge

Die Geschichte der in die Höhe strebenden Parkhäuser setzt die Aufzugtechnik voraus, zeigt ansonsten aber Parallelen. Das erste europäische Parkhaus entsteht 1905 in Paris. Erst ab den 1920er Jahren aber verbreitet sich die Parkhaus-Idee. Am Anfang geht es dabei nicht nur um eine Reaktion auf Verkehrsprobleme, sondern um die Errichtung monumentaler Bauten, die einen Triumph der Technik in Gestalt eines neuen Bautyps signalisieren. Die Casa dell’ Automobile in Rom von 1929 oder die Kant-Garage in Berlin-Charlottenburg von 1930 erscheinen als ‘Großgarage’, ‘Turmgarage’ oder sogar ‘Garagenpalast’.

Dem technischen Entwicklungsstand des frühen Automobils entsprechend sind sie nicht nur als Abstellräume, sondern als Pflegestationen für Fahrzeuge, ja als „Autohotels“ konzipiert. Sie enthalten Werkstätten und Räume für die Autowäsche, darüber hinaus sogar Casinos und Hotels. Noch geht es um den Zauber einer neuen Technik, nicht um Ölpfützen, Gestank und giftige Gase, die Menschen heute dazu bringen, Parkhäuser zumeist zielstrebig zu verlassen. Aufhalten möchte sich hier niemand mehr.

Der Siegeszug des Parkhauses aber ist ein Siegeszug, der die monumentale Architektur gerade abstreift. Die meisten Parkhäuser der europäischen Großstädte werden zwischen den 1960er und 1980er Jahren als gesichtslose Stahl-Beton-Konstruktionen gebaut. Nicht nur ökonomische Erwägungen, sondern auch ökologische Zweifel am Individualverkehr führen ab den 1970er Jahren zu einem Rückzug in die ästhetische Unauffälligkeit.

Parkhäuser werden dabei systematisch verborgen. Oft wird ihnen ein Tarnanzug aus Pflanzen übergestreift. Beliebt sind Ranken von Knöterich, Efeu und Wein.

Parkhauskriminalität

Als transitorische Räume per excellence zeigen sich auch Parkhäuser als Ort von Sicherheitssorgen. Sie kommen in der kulturellen Imagination wenn überhaupt, dann als Räume schwerer Gewaltdelikte vor. Dabei sind gefühlte und faktische Sicherheit erneut nicht identisch. Die deutsche Polizei jedenfalls kann keine Auskunft darüber geben, in welchem Maße es ‘Parkhaus-Verbrechen’ wirklich gibt. Weiter ist man in Großbritannien, einem Land, das schon vor dem 11. September 2001 ein intimes Verhältnis zu Sicherheitsfragen pflegte.

In den 1990er Jahren versuchte man mit einem „Secured Car Park“-Programm Parkhäuser attraktiver zu machen. Durch bessere Überwachung und Beleuchtung gelang es allerdings nur, das Sicherheitsgefühl der Autofahrer zu verbessern. Erfolgreicher war das „Safer Parking Scheme“ der 2000er Jahre, das u. a. auf eine stärkere Videoüberwachung setzte. Zurückgedrängt wurde die Zahl der Autoaufbrüche. Wenig Einfluss schien das Programm dagegen auf Gewaltverbrechen zu haben.

Rückkehr der Ästhetik im kommunalen Wettbewerb

Das Bemühen um Sicherheit hat dabei auch mit ökonomischen Interessen der Städte zu tun, die seit den 1990er Jahren in einem neuen Wettbewerb um Kunden und Kaufkraft stehen. Dieser Wettbewerb führt auch zu einer Rückkehr der Ästhetik. Nicht nur erscheinen nun neue spektakuläre Aufzugkonstruktionen mit gläsernen Schächten und Kabinen. Auch das Bemühen um die Ästhetik des Parkhauses kehrt unter ökonomischem Druck zurück.

So gibt es mittlerweile Preise kommerzieller Unternehmen und Verbände zur Förderung ansprechender Parkhausarchitektur wie den zweimal im Jahr in vier Kategorien vergebenen European Standard Parking Award der European Parking Association oder den Traffic Design Award des Autoherstellers Renault. Dahinter scheint nicht zuletzt die Hoffnung zu stehen, Parkhäuser zu angenehmen Orten zu machen könnte die Akzeptanz des Individualverkehrs stärken.

Nach einem lange auch in Gestalt von Parkhäusern gebauten gesellschaftlichen Selbstzweifel am freiheitsstiftenden Segen individueller Automobilität kehrt – im Moment der unübersehbar werdenden ökonomischen Krise des Sozialstaats – die Lust am Schönen zurück. Quasi-kristalline Parkhäuser, die im Prinzip nach wie vor nur Zwischenlager für kurzfristig nicht bewegte Automobile sind, stehen wieder symbolisch für ein Bekenntnis zur Freiheit durch Konsum. Im Medium des Autos eutrophiert das spätkapitalistische Repräsentationsbedürfnis – allen ökologistischen Dementis zum Trotz.

Jürgen Hasse

Literatur

Andreas Bernard: Die Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweglichen Ort der Moderne. Fischer 2006. 335 S. 16,95 Euro [D].

Jürgen Hasse: Übersehene Räume. Zur Kulturgeschichte und Heterotopologie des Parkhauses. Transcript 2007. 216 S. 24,80 Euro [D]