Der Strom der Killeralgen

Invasive Arten nehmen in europäischen Gewässern massiv zu. Wissenschaftler und Umweltschützer diskutieren über Gefahr und Nutzen

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Die Invasion der Killeralgen kam in den neunziger Jahren über uns. Allerdings nicht in den Meeren, sondern vor allem in der Presse. Damals begannen die Medien erstmals, die explosionsartige Vermehrung der Algen zu thematisieren. Das Phänomen war aber nicht neu. Bis heute leiden die Ökosysteme unter dem massenhaften Aufkommen einzelner Arten. Für die Wucherungen der Algen gibt es zwei Ursachen: Überdüngung und Einschleppung fremder Arten. Beides birgt offensichtliche Gefahren, könnte aber auch einen Nutzen haben.

Die Gefahren stehen aber im Vordergrund. In Norwegen etwa sind vor wenigen Jahren Millionen Lachse verendet, als die Algenart Chattonella marina aus der Familie der Raphidophyceae sich schlagartig verbreitet hat. Auch in den südeuropäischen Gewässern Europas kommt es regelmäßig zu Wucherungen von Algen. In regelmäßigen Abständen müssen dort Badestrände für den Betrieb gesperrt und vor dem Verzehr von Fischen und Meeresfrüchten gewarnt werden. Besonders in denjenigen Regionen, die vom Tourismus leben, entstehen so enorme finanzielle Nachteile. Die Kontrolle der Algenpopulation ist daher nicht nur ein wissenschaftliches, sondern auch ein volkswirtschaftliches Anliegen.

Feindliche Übernahme und Vermehrung

Umweltschutzgruppen warnen seit Jahren vor allem vor der Einschleppung fremder Gattungen. Solche "invasiven Arten", so hieß es in einer Erklärung des World Wide Fund for Nature (WWF) Anfang 2004, seien eine der "größten Bedrohungsfaktoren für das Ökosystem Meer". Heimische Bewohner würden verdrängt und das gesamte Ökosystem gerate aus dem Lot. Zudem drohten gravierende gesundheitliche Schäden beim Konsum von Fisch und anderen Produkten aus der See, weil einige der Arten Gifte absondern, die sich in der Nahrungskette anreichern.

Tatsächlich war auch das Massensterben der Lachse in Norwegen auf ein Biotoxin der Chatonella zurückzuführen. Andere Arten enthalten Saxitoxin, einen stickstoffhaltigen Giftstoff mit lähmender Wirkung. Oft reicht aber schon die einfache Präsenz der Algen, auch nicht-toxischer Arten, um das Ökosystem aus den Fugen geraten zu lassen. Wissenschaftler und Umweltschützer untersuchen daher seit Jahren Ursachen der Wucherungen und mögliche Wege zur Kontrolle.

Chattonella Marina

Der WWF sieht eine der Hauptursachen in der Einschleppung fremder Arten. Ein Grund dafür wiederum sei in erster Linie das so genannte Ballastwasser, das für eine stabile Lage der Schiffe sorgt. Zehn Milliarden Tonnen dieses Meereswassers würden jährlich meist von Handelsschiffen auf See aufgenommen und an anderen Stellen des Globus wieder abgelassen, erklärt der Hamburger WWF-Experte für Meeresschutz, Stephan Lutter:

In dem Ballastwasser sind winzige Organismen wie Plankton, wirbellose Tiere, Fischlarven und Krankheitserreger enthalten

Stephan Lutter, WWF

Bis zu 4000 Arten seien in einem Schiffstank anzutreffen, sagt Lutter, eine effektive Kontrolle aber sei kaum möglich. Zwar würden kleine Schiffe - wie Privatjachten ihr Ballastwasser vor dem Ablassen mit Filtern oder UV-Strahlen säubern, bei großen Containerschiffen sei das aber schon aufgrund der enormen Tankvolumina kaum möglich. Länder wie Chile oder Neuseeland schreiben daher gesetzlich vor, dass die Flüssigkeit nur noch auf hoher See abgelassen werden darf, wenn möglich 200 Seemeilen vor der Küste. Weil die Verdünnung dann größer ist und viele Arten in küstennahen Regionen aufgenommen werden, ist die Gefahr der Festsetzung weitaus geringer als beim Ablassen des Wassers in Hafenbecken.

Auf Druck von Umweltschutzorganisationen wie dem WWF hat die Internationale Schifffahrtsbehörde IMO inzwischen ein Abkommen zur Kontrolle von Ballastwasser auf den Weg gebracht. Doch ist diese Regelung noch nicht in Kraft. Zunächst müssen die Konvention 30 Staaten mit einer gemeinsamen Welthandelstonnage von 35 Prozent ratifizieren. Doch das kann dauern. Einige Länder befürchten offenbar wirtschaftliche Nachteile. So schreibt das Abkommen vor, Auffangbehälter für Sedimente in den Ballastwassertanks einzubauen. Und das kostet. Wirtschaftliche Interessen stehen hier gegen den notwendigen Gewässerschutz.

Chancen durch Überdüngung?

Dabei ist der Kampf gegen das mit Biomasse kontaminierte Ballastwasser nur eine Front im Krieg gegen invasive Arten. Neben der drohenden Erwärmung des Klimas gerät das Ökosystem in Küstennähe auch aufgrund der Überdüngung durch die industrielle Landwirtschaft akut aus den Fugen. Nach Ansicht des WWF-Experten Lutter ist es gerade die Kombination der verschiedenen Risikofaktoren – Eutrophie, Klimawandel und Einschleppung fremder Arten, durch die die Gefahr explosionsartiger Vermehrungen einzelner Populationen massiv zunimmt. Durch die Nitratzufuhr in küstennahe Gewässer würden besonders Algen regelrecht gemästet. Lutter forderte daher schon vor Jahren einen Grenzwert von maximal zehn Milligramm Nitrat pro Liter. Bis heute liegt die Grenze oft weitaus höher, mitunter bei 50 Milligramm – selbst für Trinkwasser.

Ende 1998 hatte im schwedischen Kalmar daher eine internationale Expertenkonferenz stattgefunden, von der die Erforschung der Faktoren in Angriff genommen wurde, die zu den immer wieder auftretenden Verseuchungen durch Algen führen. Denn neben anderen invasiven Meeresarten sind es vor allem diese pflanzenartigen Gewächse, von denen Gefahr ausgeht. Die "European Initiative on Harmful Algal Blooms" (Eurohab) setzte sich vier Ziele:

  1. Verständnis der Mechanismen, die die Überwucherung des Planktonmilieus durch bestimmte Arten schädlicher Mikroalgen ermöglichen.
  2. Beurteilung verschiedener natürlicher oder durch Einfluss des Menschen bedingten Ursachen für diese Wucherungen.
  3. Untersuchung der Zusammenhänge zwischen schädlichen Algenwucherungen und Fischbeständen, die ihre Entwicklung begünstigen.
  4. Erstellung von Datenbanken, um die Entwicklung der Phänomene über Zeit und Raum mitzuverfolgen.

Das Projekt, an dem zahlreiche Institute aus mehreren EU-Staaten beteiligt sind, dauert bis heute an.

Dabei wird von den Meeresbiologen vor der Einschleppung fremder Algenarten nicht nur gewarnt. Der Kieler Forscher Martin Wahl vom Leibniz-Institut für Meereswissenschaften bezeichnet Invasionen als "Teil der Geschichte" – auch der Meere. Die Ökosysteme in hiesigen Gewässern veränderten sich derzeit sehr schnell. "Ob das gut ist oder schlecht, das lässt sich nicht sagen", sagt Wahl in deutlicher Abgrenzung zu den Warnungen des WWF und anderer Umweltschutzorganisationen:

Vielleicht sind die invasiven Arten sogar die Rettung. Vielleicht können sie die heimischen Arten, die den Klimawandel nicht überstehen, so ersetzen, dass insgesamt die Dienste des Ökosystems aufrecht erhalten werden.

Martin Wahl in der Reportage Die Spur der Algen

Auch nach Ansicht des Kieler Meeresforschers, der in einem Feldversuch die Auswirkung einer invasiven Rotalgenart auf das Ökosystem in der Nordsee untersucht, ist der Einfall einer fremden Art zwar "a priori beunruhigend". Vor allem dann, wenn die neue Biomasse schneller zulege als die der heimischen Arten. Ob dieser Trend dauerhaft anhalte, das ließe sich aber nicht sagen. Und schließlich könne das Phänomen ja auch genutzt werden. So ließen sich Algen im Meer kultivieren, um sie anschließend an Land zu "verstromen".

Während WWF-Experte Lutter solche Gedankenexperimente grundsätzlich ablehnt, sieht Forscher Wahl darin eine "elegante Lösung" für das Überwucherungsproblem im Meer und das Energieproblem an Land. Entsprechende Forschungsprojekte, so hieß es auf Anfrage beim Leibnitz-Institut, seien mit Unternehmen aus der Privatwirtschaft gestartet.