Im Prekariat des Privaten und Öffentlichen verstrickt

Weil die Macher der Ars Electronica zu sehr auf theoretische Gewissheiten vertrauen, taumeln sie zwischen Paranoia und Hysterie, um schließlich im Datenalarmismus zu landen

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Die Idee, dass es so etwas wie „Privatheit“ gibt, ist zweifellos eine moderne Figur und vom westlichen Diskurs nicht zu trennen. Zwar reicht sie bis in die Antike zurück. Schon die Griechen kannten das Häusliche als den von „öffentlichen“ Marktplätzen streng abgegrenzten Bereich. An Substanz und Bedeutung gewinnt sie aber erst mit der Geburt des liberalen Rechtsstaates Ende des 18. Jahrhunderts, als der neuzeitliche Bürger eine eigenständige „Privatsphäre“ für sich behauptete. Parallel zu ihr entsteht ein „öffentlicher“ Bereich, der vom Willen nach mehr Transparenz, Mitsprache und Teilhabe getragen wird und auf der Vorstellung eines autonomen Subjekts gründet.

Unstrittig ist, dass „Privates“ und „Öffentliches“ im Fluss sind. Was geschichtlich geworden ist, wird irgendwann auch wieder vergehen. Darum muss über sie auch neu verhandelt werden. Es muss definiert werden, was die Begriffe unter Computerbedingungen bedeuten, oder sie müssen, fällt die Prüfung negativ aus, verabschiedet werden. Ein allzu emphatisches Reden darüber, wie heutzutage in liberalen und sozial bewegten Kreisen üblich, verbietet sich aber bei genauerer Sichtung der Daten- und Faktenlage. Es zeigt sich, dass man dann einem historischen Missverständnis aufsitzt, einem, dem auch die Macher und Kuratoren der diesjährigen Ars Electronica gefolgt sind.

Ein Fantasma entsteht

Einen großen Anteil daran trägt sicherlich Jürgen Habermas mit seiner Habilitationsschrift zum Strukturwandel der Öffentlichkeit von 1962, das neben Richard Sennetts Buch The Fall of Public Man und Hannah Arendts Werk Vom tätigen Leben Stichwortgeber des heurigen Ars Electronica Festivals mit dem Titel "Goodbye Privacy" gewesen ist. Danach hätten sich, begünstigt durch die Emergenz eines neuartigen Post- und Printwesens, aus dem Innern einer räsonierenden Salonkultur heraus öffentliche Netze der Kommunikation gebildet, die auf ein bildungsbürgerliches Lesepublikum schielten. In dem Maße, wie sich dieses lesesüchtige Publikum Problemen des „tätigen Lebens“ zuwandte und die öffentlichen Angelegenheiten als die ihren wahrnahm, etablierte sich die „bürgerliche Öffentlichkeit“ als selbstbewusster „Gegenspieler“ mediatisierender Politik.

Second City - Marienstraße. Quelle: rubra

Richtig ist, dass die Transformation rigider Staatlichkeit zu mehr Transparenz und Teilhabe von der Heraufkunft europäischer Nationalstaaten begleitet wird, aus der sich allmählich eine Gesellschaft frei assoziierender Bürger ausgliedert; richtig ist auch, das die Vorstellung von Autonomie und Privatheit an die Ära des Lesens von Romanen und anderer literarischer Erzeugnisse gebunden ist; richtig ist aber auch, dass, die neu aufkommende politische Semantik, ehe sie in die Köpfe und Herzen aufstrebender Aufklärungsgesellschaften diffundiert ist, bereits von einer viel ursprünglicheren Differenz codiert worden ist, nämlich der von „heimlich“ vs. „öffentlich“. Sie strukturiert, was in Diskussionen oft übersehen wird, bis auf den heutigen Tag das Politische – gleich, ob Regime sich autoritär oder liberal definieren.

Privat heißt geheim

Davon liest man bei Habermas wenig. Und auch in Linz war diese Unterscheidung Anathema. Dabei ist aber gerade der Bezug aufs Geheime unerlässlich, wenn man den „Wert des Privaten“ (Beate Rössler) neu vermessen oder dessen Niedergang oder Verlust beklagen will. Zwar ist das Private nicht zugleich das Geheime. Da es aber aus dem Geheimnis hervorgegangen ist, kann darüber auch nicht ohne Rückgriff auf es diskutiert werden. Und dieser Bezug ist auch nötig, wenn man sich um die Zukunft „öffentlicher Arenen“ sorgt, respektive um ein immer engmaschiger sich ziehendes Netz aus staatlichen und kommerziellen Überwachungs- und Kontrolltechnologien, welche die persönliche Freiheit und Mobilität des Einzelnen bedrohen und sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung einschränken.

Second City - Siren. Quelle: rubra

Auch wenn sich Kuratoren, Künstler und Netzaktivisten erfahrungsgemäß wenig Gedanken um Genealogien und archäologische Verfahren machen, überrascht dieser Tatbestand doch. Zumal mancher politisch bewegte Sprecher explizit auf die Existenz eines Verschwörertrupps namens „The Cabal“ verweist, auf geheime Netzwerke, die den Irak-Krieg mithilfe der Öl- und Waffenlobby in der US-Regierung durchgesetzt haben. Nach übereinstimmender, aber bislang unbewiesener Ansicht soll sich diese Gruppe von politischen Beratern und Geheimdienst-Analysten auf Leo Strauss berufen haben, jenen aus Deutschland emigrierten Philosophen, der bekanntlich die Rolle von Geheimhaltung und Täuschung in der Politik analysiert, die Frage nach der Funktion moderner arcana imperii (Staatsgeheimnisse) aufwirft und zwischen Wahrheiten, die dem Volk zugemutet, und solchen, die man besser verschweigt, unterschieden hat.

Von solchen performativen Selbstwidersprüchen war in Linz des Öfteren zu hören. Man kritisierte einen „militärischen Neoliberalismus“ oder den „Cyber-Kapitalismus“ (was immer das auch ist), weil die zu bloßem Schwarz-Weiß-Denken führen, befleißigte sich selbst aber eines simplifizierenden Manichäismus, der die „Ontologie des Feindes“ wahlweise im Staat, in Unternehmen oder bei Netzbetreibern ausmacht.

Politisch blauäugig

Im Falle Habermas verhält es sich nicht anders. Es wiegt aber schwerer, als er sich explizit auf Kants Begriff der „kritischen Publizität“ bezieht, der Ende des 18. Jahrhunderts gegen das „Verheimlichungsdispositiv“ des Staates gerichtet war. Zwar diente Geheimhaltung auch, wie Habermas mit Blick auf Praktiken von Freimaurern und Illuminaten feststellt, der Einübung egalitärer Verkehrsformen. Doch wurden bereits in diesen Kreisen und unter dem Deckmantel des Geheimnisses perfide Abhör- und Kontrolltechniken erprobt, um den modernen Innenraum der Seele auszuspionieren.

Es zeugt von politischer Naivität oder legt ein seltsames Verständnis des Politischen an den Tag, wenn ihm dazu nur das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung bzw. der verfassungsmäßig garantierte Schutz des privaten Post-, Brief- und Fernmeldeverkehrs einfällt, aber nicht zugleich auch der Schutz vor einem möglichen Komplott politischer Verschwörer, fundamentalistischer Selbstmordbomber oder verbrecherischer Mafiosi, die im Schutz dieser Grund- und Bürgerrechte Anschläge planen, Korruptionen begehen und kriminelle Geschäfte abwickeln.

Gewiss hat das moderne Gebot, Politik im Lichte von Kameras, Mikrofonen und Webblogs ablaufen zu lassen, den Status des Geheimen prekär werden lassen. Das Unpolitische, mithin Öffentlichkeit, Publikum und Volk, wird im liberalen Staat nicht mehr als potentieller Störenfried betrachtet, der ein reibungsloses Regieren der Regierenden be- oder verhindert, sondern zuallererst als Legitimation des Politischen. Gleichwohl ist es aber nicht so, dass Volk, Publikum oder die Bürger die Richtlinien der Politik bestimmten.

Die arcana imperii schützen

Nach wie vor wird Politik zu einem Großteil in Hinterzimmern gemacht, von Ausschüssen, Kommissionen und Experten. Was davon das Licht der Öffentlichkeit erreicht, auf die Bildschirme kommt oder in der Zeitung steht, ist in aller Regel vorher gebrieft und von Verlautbarungsrhetorik begleitet. Auch ist es Aufgabe einer klugen Politik, die arcana imperii vor den begehrlichen Blicken potentieller Gegner, Rivalen oder Feinde zu schützen. Dazu gehört mittlerweile auch eine allzu geschwätzige, überaus leicht erregbare „mediale Öffentlichkeit“, die im Hoffen auf den Scoop sofort alles ausplaudert oder zerredet. Institutionalisiert gedeiht und überlebt politische Geheimhaltung dagegen in den Nachrichtendiensten und Strafverfolgungsbehörden. Sie ist wichtig, um die öffentliche Ordnung vor inneren und äußeren Feinden zu schützen; und sie ist notwendig, um geheime Information über Gegner zu gewinnen, Anschläge aufzuklären und zu verhindern oder eine verlässliche Basis für politische Entscheidungen zu finden.

Second City - Diorama Table - Keiko Takahashi (J) Haben Sie schon einmal gesehen, wie aus Seilen Bahngleise werden oder aus Gabeln Autos? Nein? Dann probieren Sie es einfach auf dem "Diorama Table" aus! Quelle: rubra

Und zwar nicht nur, weil Verschwiegenheit und Undurchschaubarkeit Gebote strategischer Vernunft sind und dem Schutz als auch der Stabilisierung politischer Handlungsspielräume dienen. Um eigene Pläne oder Ziele zu verwirklichen, muss ein potentieller oder tatsächlicher Gegner getäuscht und im Ungewissen gehalten werden. Sondern auch, weil diese Politik ein Zeichen politischer Klugheit ist, um sich im politischen Tagesgeschäft zu behaupten. Zumal es gilt, die Macht zu erhalten und die Zustimmung beim Wähler wieder einzuholen.

Neues Zentralgebiet

Hinzu kommt, dass auch der tyrannischste Machthaber auf Berichte und Informationen angewiesen ist. In aller Regel erledigen das Berater und andere professionelle Einflüsterer, die aus einer Fülle von Tatsachen, Meldungen und Ratschlägen jene relevanten Daten auswählen, die das Ohr des Machthabers erreichen und ihn zu einer politischen Entscheidungsfindung bewegen sollen. Mithin unterliegt jede Macht einem Korridor indirekter Einflüsse und Gewalten, die sie zunehmend isoliert und einem anonymen Apparat aus Regelungen, Dienstvorschriften und Verwaltungsakten unterwirft, der von einer „Kultur der Sekretäre“ am Laufen gehalten wird. Weil dieser „Vorraum“ unter elektronischen Bedingungen zunehmend technisch definiert wird, verschiebt sich das „Zentralgebiet“. Ein neues Kampfgebiet, bestückt mit Prozessoren, Netzwerken und Algorithmen wird eröffnet, in dem fortan die Probleme aller anderen Sachgebiete, das Ökonomische, das Politische, das Soziale gelöst werden.

Da dieser neue „Zentralbereich“, solange er keine Eigendynamik entwickelt, relativ neutral ist und jeder Nutzer ihn als „Instrument und Waffe“ zugleich einsetzen kann, gibt es auch keine „guten“ und „schlechten“ Technologien. Die Aufhebung des Bankgeheimnisses im Zuge der aktuellen Terror- und Steuerfahndung oder der Abgleich von Konto-, Steuer- und Sozialdaten machen vielleicht den Bürger zu einem „gläsernen“, helfen zugleich aber auch der Gemeinschaft, Schwarzgeldkonten, Steuerhinterziehung oder den Missbrauch staatlicher Mittel aufzudecken.

Die Frage: „Wer entscheidet“, die alles Politische von Anfang an begleitet, stellt sich unter diesen Bedingungen in verschärfter Form. Um sie entschärfen, hat der liberale Staat sich bekanntermaßen politische Institutionen gegeben, die extra darauf angelegt sind, Möchtegern-Machthaber überdauern.

Datenalarm und Widerstandsnester

Warum die Ars Electronicaner sich um die Aufklärung dieses Sachverhalts nicht stärker bemüht und sich als Institutionen feindlich gebärdet haben, wird ihr Geheimnis bleiben. Hätte man sich damit näher auseinandergesetzt, wäre man vielleicht nicht jenem peinlichen Datenalarmismus aufgesessen, der häufig in diffusen Verdächtigungen gegen Strafverfolgungsbehörden, Wirtschaftsunternehmen und Netzprovider ausartet.

Second City - Lido at Night. Quelle: rubra

Dem entgeht man, wenn man nicht nur Praktiker lobt, die von der Materie etwas verstehen und das auch mitteilen können, sondern auch Historiker einlädt, die Strukturen analysieren, Selbstgewissheiten umstürzen und unangenehme Wahrheiten artikulieren können. Weil man sich in Linz viel zu selten auf solche diskursiven Wagnisse einlässt, lieber sich im befreundeten Umfeld (Nettime) umschaut, lieb gewonnene Gewohnheiten und Diskurse rezitiert und auf begrifflich Vorgekautes und politische Wünschbarkeiten zurückgreift, enden Symposien, vor allem politisch motivierte, allzu oft in Kümmernissen, Bedenkenträgerei und datentechnischen Horrorszenarien.

Dass hinterher trotz aller artistischer Versuche, das globale Sicherheitsbedürfnis der Bürger zu parodieren (Konrad Becker), die Überwachungsverhältnisse durch CCTV filmisch und spielerisch umzukehren (Manu Luksch), Verschlüsselungssoftware (Jaromil) und selbstgebaute Drohnen zum aktiven Schutz der Privatheit einzusetzen (Marko Peljhan), die sorgenvollen Mienen überwiegen, braucht daher niemanden verwundern. Wer solch hohe Erwartungen weckt und sie durch falsche Analysen stützt; und wer wiederholt von Enteignung und Inbesitznahme spricht, muss gewahr sein, dass beim Ausbleiben solcher überzogener Versprechen sich auf dem Podium und im Publikum Gefühle der Ohnmacht und des Ausgeliefertsein ausbreiten. Ihm bleibt nur die Wahl, Trauerarbeit zu verrichten oder auf the next (big) layer (Armin Medosch) zu warten.

Politik der Staatsräson

Warum Habermas darauf verzichtet hat, liegt dagegen auf der Hand. Nur weil er davon absieht, ist es ihm möglich, eine strikte Entwicklungslinie von der Codierung der Politik durch Recht und Moral (Kant) über den freien Zusammenschluss privater Assoziationen (Hegel, Marx) zum eigenen normativen Modell politisch „autonomer Öffentlichkeit“ zu ziehen. Ob der „Privatsphäre“, aus der sich das Publikum als Träger der Öffentlichkeit rekrutiert, eine eigenständige Substanz zugesprochen werden kann, steigt und fällt daher mit der Stimmigkeit des Strukturwandels.

Historische Studien belegen, dass es diesen idealtypischen Verlauf weder gibt noch jemals gegeben hat. Autonome „politische Öffentlichkeiten“ sind immer schon mit „repräsentativen“ amalgamiert, mit Staatsbesuchen, Militärparaden und Gedenkfeiern. Trotz mannigfachen Bloggens und kollaborativen Tuns können sie von ihrer Macht erhaltenden und Macht verstärkenden Funktion nicht geschieden werden. Im öffentlichen Raum haben sie die Funktion, Macht und Vertrauen der Bürger in die jeweilige Macht zu festigen und Massenloyalität herzustellen. Es ist banal das zu erwähnen, aber in liberalen Demokratien mit hoch entwickelten Massenmedialitäten werden massenwirksame Spektakel zunehmend strategisch zum Machtkontrolle und zur symbolischen Selbstinszenierung eingesetzt.

Historische Studien zur Geschichte der „Gouvernementalität“ (Foucault), der von ihr betriebenen „Menschenfassungen“ (Seitter) oder zur Geschichte der Kommunikationsmedien (Kittler) belegen aber auch, dass die in Kommunikationen verstrickten Subjekte nichts weiter als die unbewussten Agenten einer bestimmten Machtpolitik gewesen sind, die sich im Übergang von einer merkantilistisch-absolutistischen Politik zur modernen Staatlichkeit vollzogen hat. Danach ist die Übersetzung des Briefverkehrs in Subjektwerdung Ausfluss jenes neuartigen Rationalitätstypus gewesen, der sich „Staatsräson“ nannte und sich auf die Erkenntnispolitik eines umfassendes Polizey- und Spitzelwesens stützte, das den Alltag und die Beziehungen der Menschen mittels statistischen und arithmetischen Wissens durchleuchtet, aufgezeichnet und verarbeitet hat um beides aus Zwecken gesundheitlicher, wohnungsbaulicher und anderer Vorsorgemaßnahmen administrativ zu erfassen und zu verbessern.

Neudefinition des Staates

Die datenmäßige Erfassung von Menschen und deren soziale Klassifizierungen, wie sie heute unter dem Stichwort „social sorting“ (David Lyon) in der einschlägigen Literatur abgehandelt werden, ist mithin nichts Neues. Neu ist vielleicht, dass der Staat und seine Behörden nicht mehr unmittelbar auf den Körper der Individuen zielen, sondern sich mit sozialen Merkmalen begnügen. Unter technischen Bedingungen reicht es geo-demografisch vollkommen aus, eine „soziale Adresse“ (N. Luhmann) zu haben und damit lokalisierbar und erreichbar zu sein. Es interessiert nicht der Mensch Mustermann, sondern nur der Datenkörper, dessen Merkmale mit anderen Datenkörpern vernetzt werden.

Und neu ist auch, dass diese Verschaltung zunehmend automatisiert wird. Es ist intelligente Software und keine alten oder neuen Tycoons, die nach Risikopersonen wie Sexualstraftätern und Kinderschändern Ausschau halten, Lifetime Values eruieren und Accounts zertifizieren. Bei YouTube oder Google zum Beispiel entscheiden längst Algorithmen darüber, welche Videos, Texte oder Adressen nach welcher Rangfolge auf dem Schirm erscheinen.

Second City - SPECTR. Quelle: rubra

Die Aufzeichnung, Ermittlung und Speichern von Daten, deren sich der postmoderne Staat aktuell befleißigt, ist weiß Gott nicht durch 9/11 und den War on Terror über uns hereingebrochen. Terror und Terrorabwehr (siehe die Anschläge von Madrid und London) wirken vielleicht als Katalysatoren, um ein Mehr von Überwachungstechnologien (CCTV, Biometrics, E-Card, Trojaner …) voranzutreiben und durch neue Technologien überholte Rechtsformen in neue Rechtsverhältnisse zu gießen. Bei Lichte besehen sind Überwachung und Kontrolle eben nicht nur Ausdruck eines „vorbeugenden Rechtsstaates“, dem es um die Sicherheit seiner Bürger und die Funktion seiner Institutionen geht, sondern vielmehr auch Signum eines „vorsorgenden Sozialstaats“ (SPD-Parteiprogramm), dem es um mehr Wohlstand, Wohlfahrt und soziale Gerechtigkeit geht.

Dies macht deutlich, dass man mit den Begriffen der „Politischen Ökonomie“ oder des „militärisch-industriellen Komplexes“, die in Linz in vielen Köpfen noch herumspuken, nicht recht weit kommt. Ihre Neigung, Tatbestände zu simplifizieren, ist den komplexen Verhältnissen, die modernen Gesellschaften eigen sind, nicht angemessen.

Aus der Geschichte lernen

Der Blick in die jüngere Vergangenheit macht das deutlich. Und er macht auch darauf aufmerksam, dass Datenerhebung und Datenabgleich zu den Gründungsakten des modernen und liberalen Staates gehören. Sie sind, wenn man so will, die Gebühr oder der Zins, die oder den der Bürger für mehr Privatheit und persönliche Freiheit entrichten muss. Überwachung und Kontrolle ist immer schon der vorgängige Akt einer Macht, die sich, und das gilt es zu berücksichtigen, zu jeder Zeit und an jedem Ort neu und anders herstellt: im Mittelalter symbolisch und militärisch, in der Neuzeit politisch und ökonomisch, in der Postmoderne technisch und medial.

Die Vorstellung, dass man eigene vier Wände hat, zu denen niemand Zutritt hat außer man selbst, ist, so gesehen, immer schon eine wunderschöne Illusion gewesen. Geändert hat sich nicht die Politik, sondern die Art, wie Daten ermittelt, verknüpft und abgeglichen werden. Unter digital-technischen Bedingungen kann sie naturgemäß in Realzeit und effizienter erfolgen als mit Papier, Bleistift und Aktennotizen. Geändert hat sich zweitens, dass neben staatlichen Behörden sich zunehmend auch Unternehmen dieser Mittel bedienen, um Kosten und Personal zu sparen, der Konkurrenz ein Schnippchen zu schlagen und Kaufverhalten, Produktgestaltung und Warenströme optimal aufeinander abzustimmen.

Die Rede vom Sündenfall erweist sich mithin als falsch. Erweisen sich Privatsphäre des Bürgers und öffentliche Arenen kritischer Normbefragung und Normgestaltung als Fantasma eines bestimmten Diskurses, fällt auch der Verdacht, dass „die an Gebrauchswerten orientierten Forderungen der Lebenswelt“ unter den „bösen“ Einfluss von Systemimperativen wie Macht (Politik) und Geld (Ökonomie) geraten sind, wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Privatheit und „bürgerliche Öffentlichkeit“ sind schon immer Output einer umfassenderen, Rechtsansprüche der Subjekte simulierenden Mediatisierung gewesen.

Darum braucht es auch nicht unbedingt einen Neuanfang. Die Differenz von Privatheit und Öffentlichkeit kann faktisch gar nicht verloren gehen, weil es sie in dieser strikten und emphatischen Form nie gegeben hat. Schon darüber, welchen Wert Privatheit in Amerika oder in Europa besitzt, gibt es kulturelle Unterschiede. Ist jenseits des Atlantiks das Recht auf Privatsphäre eher stark gegenüber dem Staat, aber schwach gegenüber kommerziellen Interessen geschützt, verhält es sich in Europa genau umgekehrt. Im Osten verhält es sich nochmals anders. Nicht nur, dass in konfuzianischen oder hinduistischen Kulturen die Rechte des Individuums zugunsten der Familie und der Gemeinschaft zurückstehen müssen. Wer sich mal in afrikanischen oder asiatischen Kulturen herumgetrieben hat, wird auch wissen, dass die dortigen Bewohner ihn erstaunt von der Seite anblicken, wenn er von Privatheit und Intimsphäre spricht. Aufgrund der beengten Wohnverhältnisse und der Anzahl der darin hausenden Menschen ist man dort gewohnt, vor den Blicken und Ohren anderer Sex zu haben, Kinder zu zeugen oder seine Notdurft zu verrichten. Schon deswegen steht in Frage, ob wir tatsächlich das Private als Schutzschild brauchen, um neue Rollen und Skripte ausprobieren zu können. Es gibt keinen überzeugenden Grund, warum wir das nicht auch unter dem beobachtenden und kontrollierenden Blick eines anderen tun könnten.

Kultur der Sorglosigkeit und Selbstüberhöhung

Und in der Tat scheint das für eine große Gruppe von Individuen, die mit dem Netz sozialisiert worden sind, kein großes Problem mehr zu sein. Sie gehen relativ unbefangen mit den neuen Angeboten um, die das Mitmach-Web bietet, und nutzen es rege für komödiantische Einlagen, Selbstinszenierungen und andere Blödeleien. Die Kultur des Schreibens und Lesens (bürgerliche Öffentlichkeit) wird hier von einer Kultur des Schauens und Zeigens (repräsentative Öffentlichkeit) ersetzt.

Auch erstaunt, mit welcher Gleichgültigkeit und bemerkenswerter Teilnahmslosigkeit all die aufgeregten Debatten über Tracking, Monitoring und Profilbildung abgetan werden. Wo vor knapp einem Vierteljahrhundert noch Massen zum Protestmarsch angetreten sind und zu hysterischen Abwehrmaßnahmen greifen hat lassen, etwa bei der Volkszählung oder gegen die Rasterfahndung, wird all das heute mit einem bloßen Achselzucken abgetan. Millionen von Nutzern geben bereitwillig und sorglos an soziale Kontaktbörsen ebenso wie bei Netzbuchhändlern oder Auktionshäusern ihre persönlichen Daten preis. Weder scheuen sie sich, Angaben zu Familienverhältnissen oder ihren politischen Einstellungen zu machen noch weigern sie sich, vorgedruckte Zeilen mit ihren sexuellen Vorlieben zu füllen.

Und vielleicht haben sie auch sogar Recht. Wer sich bei einschlägigen Webseiten wie Spock.Com und anderen einloggt, um mehr über sich zu erfahren, wird über die Dürftigkeit der Nachforschungen enttäuscht sein. Ähnliches gilt CCTV und den erhofften Rückgang der Kriminalität. Zum einen ist diese Hoffnung nicht eingetreten, zum anderen sind die Apparaturen und Monitore vielfach veraltert oder funktionieren nicht. Häufig sind auf den Bildern, wie Manu Luksch berichtet, nur Nebelschwaden zu sehen.

Was letztlich diese Lust zur Selbstvermarktung (Selfpublishing) antreibt, darauf wusste in Linz niemand so recht eine Antwort (Die Bühnen des Mobs und der Wichtigtuer). Bei einigen dürfte es sich einfach um Geltungssucht handeln oder um soziale Anerkennung, die sie im Alltag nicht bekommen; bei anderen dürfte es sich um den bekannten Warhol-Effekt handeln, während es anderen wiederum nur um Spaß zu gehen scheint.

Ratschläge und Empfehlungen

Vorschläge wie man dieser Tendenz entgegenwirken könnte, gab es jede Menge. Schlug die Rechtsexpertin Nissenbaum ein neues Konzept von Privatheit vor, das weniger auf persönlichen Kennzeichen als vielmehr sich auf sozialen Kontexten fußt, in denen Individuen sich täglich bewegen, empfahl der Sozialnetzwerker Guericke sich bei seiner Firma jaxtr.com anzumelden, weil man dort die Kontrolle über seine Daten behielte. „Kontrolle ist wichtiger als Privatheit“, meinte er und wies auf den Nutzen des Managens privater Daten hin. „Chancenmaximierung durch Risikomanagement“ hieß das bei ihm.

Und während der Enthüllungsjournalist Erich Moechel eher auf Schocktherapien setzt und uns von Diensten und Behörden, die sich in die ETSI-Schnittstellen einloggen, bereits erfasst, gerastert und durchmodelliert sieht, wandte sich der Jungaktivist Lodwick eher gegen Popularisierungen im Netz und plädierte für mehr Datendiät. Ihm genügt schon, wenn auf einer Party einer zu ihm kommt und von ihm wegen eines Videoblogs ein Autogramm haben will.

Für Felix Stalder hat sich unsere Beziehung zur Welt längst radikal verändert. Er sieht uns in ein Netz von Beziehungen eingetreten, in dem die Vorstellung von Privatheit bedeutungslos wird. Um darin handlungsmächtig zu bleiben, plädiert er für „lose Kooperation“ unter Gleichgesinnten. Diese finden sich für begrenzte Zeit zusammen, um gemeinsam Projekte anzupacken oder Ziele durchzusetzen. Beispielhaft nannte er Wikipedia oder bilaterals.org, eine Plattform, die sich aktiv in die Wirtschaftsbeziehungen transnationaler Unternehmen einmischt und sie aufdeckt. Ihnen ist eigen, dass es keinen Ansprechpartner gibt, der das Netzwerk repräsentiert. Dass sich auch Islamisten dessen bedienen, scheint ihm kein großes Problem zu machen.

Vehement wandte er sich auch gegen jede Form von Kontrolle. Stattdessen warb er für eine friedliche Anarchie, worauf sich die alles entscheidende Frage erhob, ob Gesetze und Regeln nicht vielleicht doch wichtig sind, um den Bürger vor Bullying durch andere zu schützen. Auf die Frage, wie viel Ordnung sein darf oder muss, um die Freiheit und Unversehrtheit des Individuums zu bewahren, wusste er keine Antwort. Den Spagat, der sich diskurspolitisch zwischen Thomas Hobbes (Sicherheit, Schutz) und John Locke (Marktfreiheit, Bürgerrecht) auftut, konnten weder er noch die Kuratoren schließen.

Leerer Platz

So kam es, dass zwei wichtige Probleme unausgeleuchtet blieben. Zum einen wie sich die Sicherheitsinteressen des Staates mit den Marktinteressen der Wirtschaft decken. Dass beide in aller Regel kollabieren und nicht miteinander kompatibel sind, erfährt der Student der Soziologie schon im Grundstudium. Auf dem Podium und bei den Rednern wurde aber so getan, als ob die Systeme die gleichen Interessen und Ziele verfolgten. So simpel verhalten sich die Dinge aber in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften nicht – nicht einmal im Irak.

Zum anderen blieb der Begriff der Autonomie und der Freiheit des Subjekts unangetastet. Wer die ganzen poststrukturalistischen Debatten der 1980er Zeit mitgemacht hat, um anonyme Machtstrukturen, die das Individuum erst zu einem sprechenden, dann zu einem sich selbst transparenten Wesen gemacht haben, dürfte sich darüber schon sehr gewundert haben. Als ob das problemlose Reden darüber problemlos möglich ist.

Im Umkehrschluss heißt das aber nicht, dass es Armin Medosch und Ina Zwerger nicht gelungen wäre, ein durchdachtes und gut durchkomponiertes Skript auf die Beine zu stellen. Vorzuwerfen ist ihnen aber, dass sie sich von politischen Sympathien (zivilgesellschaftlicher Aktionismus) und ideologischen Abneigungen (Neo-Liberalismus, Cyber-Kapitalismus) haben leiten lassen. Kein Wunder, dass häufig implizit das Zerrbild skrupelloser Politiker, profitgieriger Kapitalisten und geschäftstüchtiger Netzbetreiber kolportiert wurde, die nichts Besseres im Sinn haben, als die Freiheiten des Bürgers zu kassieren. Und vorzuwerfen ist ihnen, dass sie bei der Auswahl der Sprecher und ihrer Inhalte vor allem auf persönliche Vorlieben (Open Source) geachtet und das Schlachten etlicher „heiliger Kühe“ der Netzkultur dadurch verhindert haben.

Beispielsweise, dass man es offenbar schon für einen Wert an sich hält, wenn Menschen, ob qualifiziert oder nicht, sich in vielfältigster Weise artikulieren und ihre Meinung zu Dies und Jenem kundtun dürfen. Wer sich in einschlägigen Foren bewegt, die mittlerweile auch die Meinungsführer der Branche zur Verfügung stellen, oder sich in diversen Blogs herumtut, wird dieser Ansicht nicht uneingeschränkt folgen wollen. Der Videoaktivist Lodwick nannte das, was andere für demokratisch halten, „geistigen Schrott“, der von einem „geistlosen Mob“ verbreitet werde. Oder etwa auch der hinreißende Glaube, dass eine Kultur, die ihre geistigen Errungenschaften kostenlos an Dritte veräußert, am Ende dadurch reicher werde. Die Selbstausbeutung, die damit verbunden ist, wird dabei aber gern unterschlagen.

Dabei ist die Frage, die sich an diese Selbstideale anschließen, äußerst spannend. Gedeihen in einer liberal verfassten Gesellschaft Wohlstand und Wohlfahrt besser als in einer eher straff geführten und von oben gelenkten? Diese Herausforderung, die Asien, insbesondere China und Indien, für den Westen darstellt, wird und muss wohl die Zukunft beantworten.

Das Zweite Leben im ersten

Zum Schluss noch ein paar Bemerkungen zum Rundgang in der „Second City“. Die Idee, das virtuelle Leben ins reale zu implementieren, war genial. Auch der Ort dafür, eine Straße, die baubiologisch und wohnungsbautechnisch vernachlässigt ist, war von den Machern gut gewählt. Vielfach machte es auch herbes Vergnügen, durch die verschiedenen Buden, Läden und verborgenen Räume zu flanieren. Vor allem, weil der Flaneur bisweilen auch zum Bleiben aufgefordert wurde, weil er aktiv gefordert und sich aus Papier, Drähten und Dioden ein neues Outfit wie im SL-Spiel zusammenschnippeln konnte. Auch wenn viele Ideen von geklaut worden sind, gefiel es sogar Kindern, da herumzutoben und das für sie Ungewohnte zu entdecken.

Gleichwohl wusste der Betrachter oftmals nicht, was etwa ein Softeisapparat, der Kunden Portionen nach Unglücksgrad anbot, die Abgabe einer Glückspille oder ein tosender Wasserfall, der mit einem isländischen Gletscher vernetzt ist, mit dem Thema „Privatheit“ zu tun hat. Andere Ausstellungen schienen politisch erzwungen, so die Online-Buchung eines Freifluges zum Gefangenenlager auf Guantanamó und die Verbindung Shell und Militär.

Erneut zeugte sich, dass die Verbindung Kunst und Politik nicht gut funktioniert. So politisch ambitioniert manche Objekte und Installationen auch waren, die Aussagen, die sie transportierten, waren in ihrer Mehrheit mit dem Thema überfordert. Gut gemeint heißt eben nicht gut gemacht. Aber das ist ein altes und bekanntes Dilemma der Ars Eletronicaner und der Medienkunst.