Überwachung? Mehr oder weniger...

Ungleichbehandlung von Bevölkerung und Behörden

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Anhörung im Rechtsausschuss zum Thema „Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen“ wird zum Musterbeispiel für Rabulistik und Heuchelei. Während einerseits die Bürokratie zur Überwachung der Bevölkerung vorangetrieben wird, soll sie bei der Kontrolle der staatlichen Überwachung plötzlich einmal öfter verschlankt werden.

Der Mythos „Safe Harbour für Verbrecher“

"Es darf in der Telekommunikation keine 'Safe Harbours' für Verbrecher geben" kommentiert Klaus Rogall, Rechtsprofessor an der FU Berlin, den Entwurf der Bundesregierung zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung. Eine Argumentation, die nicht neu ist – schon der mittlerweile verstorbene Berner Politiker Kurt Wasserfallen vertrat die Ansicht, die Schweiz dürfe nicht zur „überwachungsfreien Insel“ werden, als diese sich der präventiven Telefonüberwachung verschloss.

Rogall, der auch die Durchsuchungen im Vorfeld des G8-Gipfels für nicht überzogen hielt nutzt jedoch eine noch perfidere Argumentation. Indem er überwachungsfreie Zonen (safe harbours) als „Zonen für Verbrecher“ deklariert, sind Kritiker seiner Ansichten automatisch in die Rolle der Verbrechenssympathisanten gedrängt. Dabei negiert die Aussage des Rechtsprofessors die komplette Argumentation des Bundesverfassungsgerichtes, was den Kernbereich der privaten Lebensführung angeht. Denn dieser Kernbereich kann natürlich auch für Verbrechen genutzt werden - umgekehrt kann also nur der Verzicht auf den Kernbereich dazu führen, dass es keine „safe harbours für Verbrecher“ gibt.

Durch diesen Zusatz in der Argumentation wird einer Komplettüberwachung der Telekommunikation das Wort geredet, die nicht nur den Kernbereich der privaten Lebensführung außen vor lässt, sondern sich letztendlich auch gegen Kryptographie, Steganographie und andere Verschlüsselungsformen richtet. Jegliche Privatheit der Telekommunikation wird so zur Befürwortung von Verbrechern und zur Ablehnung einer effektiven Strafverfolgung. Eine Strategie, die die Privatsphäre als Menschenrecht ablehnt und sich nahtlos an die „nichts-zu-verbergen“-Argumentation anfügt. Rogall sah in diesem Zusammenhang auch gleich das Bundesverfassungsgericht als etwas an, was man nicht immer als „Gewährsmann“ sehen dürfe, weil dieses Gericht ja auch „falsche Entscheidung fälle“.

Ähnlich äußerte sich der Hannoveraner Oberstaatsanwalt Ralf Günther, der sich in die Debatte um die Onlinedurchsuchung einschaltete und diese forderte, um Überwachungslücken z.B. bei Benutzung von verschlüsselter Internettelefonie zu verhindern. Auch hier wird die Möglichkeit, seine Privatsphäre zu sichern, automatisch als Überwachungslücke, ergo als negativ besetzt, bezeichnet.

Bei all den Wünschen nach mehr Überwachung könnte man zynisch feststellen, dass es ja erfreulich ist, dass wenigstens bei einigen Aspekten des Entwurfes auch weniger Überwachung gefordert wird. Wobei es sich hier natürlich nicht um die staatliche Überwachung, sondern um die Kontrolle dieser, also um die Überwachung der Überwachung, handelt.

Von Lästigkeitsfaktoren und Querulanten

So klagte ein Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg, Roland Helgerth, darüber, dass durch die erweiterten Statistikpflichten der „Lästigkeitsfaktor“ für die Strafverfolger sich stark erhöhen und dadurch eine enorme Belastung entstehen würde. Die Beschwerden über Statistiken zur Überwachung, bzw. deren Aufwand, erinnern an den Plan der Bundesregierung, die Jahresstatistik zur Telefonüberwachung abzuschaffen, wobei man hier sogar von "erhöhter Transparenz" sprach, immerhin seien die Statistiken der Landesjustizverwaltungen und der Generalbundesanwaltschaft ja "aussagekräftiger". Noch weiter in dieser Argumentation geht Helgerth, wenn es um die Benachrichtigungspflichten geht.

Obgleich es in dem Entwurf bereits umfangreiche Ausnahmen zu den Benachrichtigungsauflagen gibt, sieht Helgerth diese als „nicht mehr handhabbar“ an und fürchtet eine Vielzahl „querulatorischer Klagen und Anträge“, da ja nicht nur die direkt Betroffenen, sondern auch die „Unbeteiligten“ im Nachhinein von der TK-Überwachung informiert werden müssten.

Während also einerseits die Bürokratie in Deutschland extrem anschwillt und mit ihr beispielsweise demnächst auch die weitgehende Überwachung des Verkaufs von Sodawasser, Zitronensäure oder Aceton durchgesetzt werden soll, ist bei einer Kontrolle der Überwachungsinstanzen plötzlich der Bürokratieabbau und die Zeitersparnis wichtig, so dass Statistiken und Benachrichtigungen am besten nur noch im äußersten Notfall veröffentlicht oder herausgegeben werden sollen.

Statistiken und Benachrichtigungen aber geben dem Bürger, der ja immerhin derjenige ist, von dem (theoretisch jedenfalls) die Macht ausgehen sollte, die Möglichkeit, die von ihm beauftragten Volksvertreter bzw. die von ihnen beschlossenen Maßnahmen der Strafverfolgung zu kontrollieren und zu kommentieren. Je stärker die Benachrichtigungspflichten eingeschränkt werden, desto weniger haben Betroffene die Möglichkeit, sich gegen ggf. zu Unrecht stattgefundene Überwachungsmaßnahmen zu wehren. Fehlende oder stark begrenzte Statistiken würden ein verfälschtes Bild über den Umfang der Maßnahmen geben, so dass Material für Argumentationen gegen eine ausufernde Überwachung nicht mehr vorhanden ist.

Interessant ist Helgerths Kritik daran, dass durch diesen Entwurf offenbar die „in den Medien beklagte Anzahl der TK-Überwachungsmaßnahmen zurückgedrängt werden soll“. Wie bei den überwachungsfreien Zonen wird auch in diesem Ansinnen automatisch etwas Negatives gesehen, ohne dabei zu begründen, wieso eine solche Zurückdrängung von vorneherein schlecht sein sollte. Die Ansicht, dass die Benachrichtigungen und Statistiken lästig sind, spricht allerdings Bände. Während also einerseits der Ruf nach immer mehr Überwachung ertönt, ist die Überwachung durch das Volk nicht mehr erwünscht und wird – angesichts der Menge der Maßnahmen – nur als Ballast angesehen, der Bürger selbst als Querulant.

Derlei Ansichten zeigen einmal mehr, wie weit man sich bereits von einer Demokratie im eigentlichen Sinne verabschiedet hat, und wie das Volk als Souverän nur noch wahrgenommen wird, wenn es darum geht, Wählerstimmen zu ergattern. Bei Debatten um die neuen Sicherheitsmaßnahmen, wie sie euphorisch proklamiert werden, heißt es oft genug: Wer überwacht die Überwacher? Wenn es nach denen geht, die die „überwachungsfreien Zonen“ automatisch als Versteck für Verbrecher sehen: niemand, schon gar nicht die betroffene Bevölkerung.