Der Jäger in dir

Im modernen Menschen steckt offenbar noch mehr vom Jäger und Sammler, als wir uns zugestehen: Tiere bemerkt unser visuelles System zum Beispiel viel schneller als künstliche Objekte

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der visuelle Sinn des Menschen ist ein äußerst komplizierter Regelkreislauf. Was wir sehen, hängt zwar irgendwie auch davon ab, was die Realität so hergibt. Doch wir schaffen es auch immer wieder, uns unsere Umgebung schönzusehen. Wenn die Ehefrau den Gatten empört fragt „Hast du den riesigen Schmutzfleck nicht gesehen?“, dann beachtet sie nicht, was Wissenschaftler so ausdrücken: Dass unser visuelles System zum Beispiel auch von den aktuellen Zielen abhängig arbeitet und die persönliche Relevanz von Objekten berücksichtigt. Wenn der Blick bei der Begrüßung also nicht zuerst zu den Augen des Gegenüberstehenden wandert, können wir uns berechtigterweise mit der persönlichen Relevanz anderer Körperteile entschuldigen.

Hinzu kommt, dass der Sehsinn auch uns unbewusste Beschränkungen mitbringt (vgl. Begrenzt aufmerksam), die unter anderem daher rühren, dass das Gehirn nicht rund um die Uhr die komplette Wirklichkeit analysieren kann. Auf welche Aspekte es sich zu welcher Zeit konzentriert, dafür ist offenbar die Evolution mitverantwortlich - die frühen Menschen mussten auf schmerzhafte Weise lernen, dass bewegte Objekte für sie relevanter sind als unbewegte und welche Rolle Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit eines Objekts für das eigene Flucht- und Jagdverhalten spielen („läuft der auf mich zu oder von mir weg?“).

Wie Forscher jetzt zeigen konnten, analysieren wir aber nicht nur auf abstrakter Ebene die Bewegungsvektoren um uns herum - das Gehirn nimmt auch blitzschnell eine Klassifizierung vor. Die Evolutionspsychologen Joshua New, Leda Cosmides und John Tooby von der University of California in Santa Barbara beschreiben in der aktuellen Ausgabe der Veröffentlichungen der US-Akademie der Wissenschaften (PNAS) ein interessantes Experiment, das dies verdeutlicht: Versuchspersonen bekamen in kurzem Zeitabstand je zwei Bilder mit jeweils winzigen Änderungen vorgelegt. Die Wissenschaftler bestimmten dann, wie oft die Testsubjekte die Veränderungen bemerkten - und wann sie besonders erfolgreich darin waren.

Das Ergebnis war sehr deutlich: Wenn das veränderte Detail ein lebendes Wesen betraf (Tier oder Mensch), dann entging sie den Versuchspersonen seltener, als wenn es um unbelebte Objekte ging. Bewegte Objekte fielen den Testpersonen im Durchschnitt ein bis zwei Sekunden eher auf als feststehende und das auch noch mit höherer Genauigkeit: Während 89 Prozent der „lebenden“ Veränderungen bemerkt wurden, gelang das nur bei 66 Prozent der unbelebten Details.

Die Ergebnisse hingen dabei kaum davon ab, ob Menschen oder Tiere zu erkennen waren. Interessanterweise galt all dies nicht mehr, wenn die Wissenschaftler den Testpersonen invertierte Fotos vorlegten - dann funktioniert der Kategorisierungs-Mechanismus des visuellen Sinns offenbar nicht mehr und Veränderungen jeder Art wurden gleich schnell bemerkt.

Nun könnte man für die von den Forschern festgestellten Effekte auch das Lernen beim Aufwachsen des Menschen verantwortlich machen: Was sich bewegt, kann uns ja potenziell gefährlicher werden, als was fixiert ist. Diese Hypothese konnten die Wissenschaftler allerdings widerlegen: Das plötzliche Erscheinen eines Elefanten im Bild bemerkten die Testpersonen schneller, als wenn dem Motiv ein gleich großer Bus hinzugefügt wurde.

Die Forscher halten es deshalb für erwiesen, dass wir hier auf Grund eines evolutionär erlernten Verhaltens handeln - bis wir auf Busse ähnlich wie auf Elefanten reagieren, dürften deshalb noch ein paar Hunderttausend Jahre vergehen.