Auswege aus der deutschen Bildungsmisere nach PISA und Co gesucht

In Potsdam diskutierten Experten vier Tage lang über die praktischen Folgen der internationalen Bildungsstudien. Ein Gespräch mit Organisator Jan Hofmann vom Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg

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Bei der Vorstellung der OECD-Studie Bildung auf einen Blick wurde in der vergangenen Woche einmal mehr deutlich, wie weit das deutsche Bildungssystem trotz diverser Reformbemühungen hinter internationale Standards und Durchschnittswerte zurückgefallen ist. Das einstige Land der Dichter und Denker bildet zu wenig Akademiker aus, investiert unzureichende Beträge in die Bildungseinrichtungen und übernimmt kaum Anstrengungen, um der rigiden sozialen Auslese, die oft schon im Vorschulalter beginnt, dauerhaft entgegenzuwirken (Weit unter dem Durchschnitt).

Dabei war die OECD-Studie nur eine unter vielen. Dem oft zitierten PISA-Schock 2000 folgten sieben lange Jahre mit zahlreichen weiteren Leistungsvergleichen, die dem deutschen Bildungssystem immer neue ernüchternde Befunde ausstellten. Doch die fundierteste Fehleranalyse - wenigstens da sind sich die meisten mittelbar und unmittelbar Betroffenen einig - nützt wenig ohne erfolgversprechende Lösungsstrategien und Handlungsoptionen. Diese rücken folgerichtig immer öfter in den Mittelpunkt des Interesses.

Die Hochschule für Musik und Theater in Hamburg hat gerade den „Ersten Kongress der Schulerneuerer“ beherbergt, Veranstalter Reinhard Kahl damit zu einer weiteren medienwirksamen Personality-Show verholfen, aber auch gut 450 Teilnehmerinnen und Teilnehmer motiviert, sich mit Alternativen zum ungeliebten Frontalunterricht im dreigliedrigen Schulsystem auseinanderzusetzen. Der Dachverein 4ING (Fakultätentage der Ingenieurwissenschaften und der Informatik an Universitäten) forderte als Konsequenz aus dem im jüngsten OECD-Bericht prognostizierten Mangel an Ingenieuren konkrete kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen.

Neben einem gezielten Ausbau der Ingenieurfächer durch Finanzierung weiterer Studienplätze plädiert 4ING für eine Qualitätsoffensive durch Studieneingangskontrollen und Maßnahmen zur Verminderung der extrem hohen Abbrecherzahlen. Mittelfristig soll dann der Frauenanteil deutlich erhöht und darauf hingewirkt werden, das Ingenieursberufe auch „für soziale Aufsteiger“ in Betracht kommen. Langfristig müsse darüber hinaus am Image gearbeitet und beispielsweise dafür gesorgt werden, dass technische Berufe in den Medien eine attraktivere Darstellung erfahren und „durchgängig durch alle Schulformen“ der Unterricht in Fächern wie Mathematik oder Informatik verbessert wird.

In Potsdam fand derweil ein Seminar unter dem Dach von OECD und CERI (Centre for Educational Research and Innovation) statt. Vier Tage lang diskutierten Wissenschaftler, Fortbildungsexperten und Bildungsverwalter aus den deutschsprachigen Ländern über die praktischen Herausforderungen und Folgen von PISA & Co. Dass auch hier keine einfachen Lösungen erwartet wurden, signalisierte bereits der sperrige Veranstaltungstitel „Entstehung und Umsetzung von Innovationen im Bildungssystem als Konsequenz aus Bildungsmonitoring, Bildungsberichterstattung und vergleichenden Schulleistungsstudien“, der überdies mit dem Zusatz „Möglichkeiten und Grenzen“ ausgestattet wurde. Trotzdem ist die Debatte einen Schritt vorangekommen, meint Dr. Jan Hofmann, Direktor des federführenden Landesinstituts für Schule und Medien Berlin-Brandenburg. Telepolis sprach mit Hofmann über den aktuellen Stand der Dinge.

"Wir haben nur in Teilbereichen klare Vorstellungen davon, wie das theoretische Wissen in die Praxis umgesetzt werden kann"

Herr Hofmann, der Sinn internationaler Vergleichsstudien ist auch in der vergangenen Woche erneut angezweifelt worden. Die bildungspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Ilse Aigner (CSU), hat behauptet, hier würden Äpfel nicht nur mit Birnen, sondern auch mit Kirschen, Bananen und Melonen verglichen. Das scheinen Sie anders zu sehen, sonst hätte die Veranstaltung einer solchen Tagung keinen Sinn gemacht.

Jan Hofmann: Das sehe ich anders. PISA, TIMMS, die OECD-Studien und auch die nationalen Erhebungen haben sich vorteilhaft ausgewirkt. Schon allein deshalb, weil sie bildungspolitischen Druck entfalten und damit das geschafft haben, was 30 Jahre intensiver Planungen offenbar nicht erreichen konnten. Um das System zu reformieren, brauchen wir ein kompetentes Bildungsmonitoring.

Allerdings gibt es in den einzelnen OECD-Ländern sehr große Unterschiede, da müssen sämtliche Kontextdaten berücksichtigt werden, um nicht am Ende zu völlig falschen Interpretationen zu kommen. Ein Beispiel steht im neuen OECD-Bericht. Australien hat seine Akademikerquote innerhalb kürzester Zeit verdoppelt. Der plötzliche Anstieg hängt damit zusammen, dass alte Bildungsgänge akademisch neu bewertet werden, und wenn wir hierzulande einen Berufsakademie- zum Uni-Abschluss deklarieren, kommen wir natürlich auch schnell zu anderen Akademikerquoten. Unterschiedliche Zählweisen lösen häufig ganz unverhältnismäßige Irritationen aus.

Deshalb müssen wir uns ganz genau anschauen, was in den einzelnen Ländern passiert und wie es in jedem einzelnen unserer Bundesländer aussieht. Wenn wir etwas bewegen wollen, brauchen wir Detailwissen.

Olaf Köller vom Berliner Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen hat in seinem Eröffnungsreferat ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Befundlage „weniger eindeutig“ ist als es häufig in der Öffentlichkeit dargestellt wird - und dass die Rezepte der erfolgreichen Vorzeige-Länder nicht ohne weiteres auf Deutschland angewendet werden können.

Jan Hofmann: Damit hat er Recht, denn wir müssen uns zunächst immer fragen, welche Indikatoren wir zu Rate ziehen und was wir mit ihnen erreichen wollen. Wenn wir also die schulischen Leistungen in Deutsch, Mathematik und den Fremdsprachen testen, dann liegen skandinavische Länder weit vorne und an der Spitze in Deutschland Bayern oder Baden-Württemberg.

Wenn es aber darum geht, wo Kinder aus bildungsfernen Familien die besten Chancen haben, unabhängig von ihrer Herkunft eine gute Ausbildung zu bekommen, sind z. B. in Brandenburg oder Berlin nicht so schlecht. Dabei spielen soziale Faktoren oder Integrationsfragen eine ganz wichtige Rolle. Wer zu seriösen Ergebnissen kommen will, muss diese Aspekte und nicht nur die Leistungsdaten berücksichtigen. Erst dann können wir eine subtile Gesamtschau entwickeln und an Problemlösungen arbeiten.

Wie komplex dieses Thema ist, sehen Sie auch daran, dass bislang längst nicht für alle Fächer gute und verlässliche Indikatoren entwickelt werden konnten. Wir wissen doch gar nicht, wie wir die Leistungen im musisch-ästhetischen Bereich bewerten.

Der PISA-Schock hat in ganz Deutschland einen Innovationszwang ausgelöst, der leider nicht oft genug zu gut überlegten und solide koordinierten Verbesserungen führt. Es dürfte trotzdem Innovationsprojekte geben, die Sie zur Nachahmung empfehlen würden.

Jan Hofmann: Das SINUS-Programm, das vom Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften an der Universität Kiel als direkte Antwort auf PISA entwickelt wurde, hat für den Mathematikunterricht landesweit neue Standards gesetzt (zunächst im Bereich der Sekundarstufe I, später auch in der Grundschule). SINUS ist ein innovatives Modell, das völlig neue Gestaltungsspielräume öffnet, von der gängigen Fragefolie „richtig/falsch“ abweicht, stattdessen versucht, auch über Fehler Lerneffekte zu erzielen und bis tief in die Lehrerfortbildung reicht.

Die positiven Effekte liegen auf der Hand. Dass sich Lehrer ihre eigenen Stunden noch einmal auf Video anschauen und mit Kollegen über Vor- und Nachteile, einzelne Verbesserungsmöglichkeiten und Gestaltungsalternativen diskutieren, ist ein großer Schritt in die richtige Richtung. Das ist ein Modell auch für andere Fächergruppen.

"Mit den internationalen Vergleichsstudien ist die Büchse der Pandora geöffnet worden"

Wenn wir davon ausgehen, dass die immer wieder genannten Kritikpunkte Akademiker- und Absolventenmangel, zu geringe Investitionen in Bildungseinrichtungen, Abhängigkeit von Herkunft und Bildungsbiografie etc. - in dieser oder ähnlicher Form zutreffen, muss auf verschiedenen Ebenen schnell und effektiv gehandelt werden. Wie sehen die dringlichsten Schritte aus?

Jan Hofmann: Auf der Tagung haben sich einige Zukunftsperspektiven abgezeichnet. Ich gehe zunächst davon aus, dass über kurz oder lang sämtliche Bundesländer auf das zweigliedrige Schulsystem setzen. Die Forschung hat dessen entscheidende Vorteile klar bewiesen. Natürlich wird es noch Widerspruch geben, aber auf Dauer sehe ich keine Alternative.

Zweitens brauchen wir dringend Veränderungen in den Bildungsverwaltungen. Dort könnte noch professioneller gearbeitet werden, um nicht nur punktuell reagieren, sondern um bildungspolitische Ziele auch langfristig umsetzen zu können. Es geht ja nicht darum, nur ein paar Mathestunden mehr zu geben, wenn die Mathe-Ergebnisse gerade schlecht sind. Bislang werden häufig schnelle Maßnahmen als Alibi verordnet. Außerdem weiß man zu wenig, wie effektiv Reformen sind, das wird zu selten untersucht.

Drittens müssen wir darauf achten, dass die Bildungsforschung autonom bleibt oder die Autonomie wiederhergestellt wird. Der Markt ist sehr überschaubar, und da können durchaus finanzielle Interessen die Unabhängigkeit der Ergebnisse gefährden.

Auch fehlen uns derzeit noch eine Reihe geeigneter Implementierungsstrategien, die den Weg zwischen Erkenntnis und Umsetzung abkürzen und in effektiven Fort- und Weiterbildungen vermittelt werden könnten. Die Lücke zwischen Diagnose und Praxis ist sehr groß.

Schließlich ergibt sich im Bereich der Notenvergabe ein gewaltiges Problem, das schnell behoben werden muss. Wir wissen, dass eine „2“ im einen Fall tatsächlich eine gute, in einem anderen Fall aber vielleicht nur eine ausreichende Leistung bezeichnet. Hier müssen wir entweder zu einer einheitlichen Vorgehensweise oder zu alternativen Beurteilungskriterien kommen. Das ist gerade auch für die Hochschulzugangsberechtigung wichtig, die auf verlässlichen, vergleichbaren und für alle nachvollziehbaren Daten basieren muss.

Für den Bereich der Schulen hat der brandenburgische Bildungsminister Holger Rupprecht (SPD) eine „systematische Qualitätsentwicklung“ gefordert. Geht es hier um eine Systemfrage oder um eine kontinuierliche Weiterentwicklung?

Jan Hofmann: Mit den internationalen Vergleichsstudien ist die Büchse der Pandora geöffnet worden. Die nationalen Bildungssysteme sind, ob sie nun wollen oder nicht, unter einen erheblichen Legitimationsdruck geraten. Wir werden also um einen Systemwechsel nicht herum kommen, allerdings müssen wir mit Augenmaß vorgehen. Es kommt darauf an, möglichst viele Detailfragen zu berücksichtigen und dann die richtigen Strukturentscheidungen zu treffen.

Der Teufel scheint tatsächlich im sprichwörtlichen Detail zu stecken. Die Stiftung Warentest hat gerade 17 Biologie- und Geschichtsbücher aus Baden-Württemberg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen untersucht und hält nur wenige für uneingeschränkt empfehlenswert. Drei erwiesen sich in puncto Fehlerfreiheit als „mangelhaft“ ...

Jan Hofmann: Das kann durchaus sein, aber es kommt doch auch darauf an, welche Kriterien man zugrunde legt. Wenn ich behaupte, dass irgendjemand nur 70 Prozent bringt, heißt das doch auch: Ich selbst weiß, was 100 Prozent sind. Das aber trifft auf das deutsche Bildungssystem nicht zu. Man könnte höchstens sachliche Fehler markieren oder beschreiben, inwieweit Schulbücher mit den aktuellen Lehrplänen oder den Standards, die von der Kultusministerkonferenz erarbeitet wurden, übereinstimmen oder eben nicht.

Klaus-Jürgen Tillmann hat auf der Basis von PISA 2000 die Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern erforscht und dabei auf den Prozentpunkt genau ermittelt, wie viele Schüler zur Sonderschule gehen, zurückgestellt werden, Klassen wiederholen müssen, in niedrige Schulformen absteigen etc. und welche Schlussfolgerungen – etwa für den Fall spezieller Fördermaßnahmen - sich daraus ableiten lassen. Ich denke, das ist eine sinnvolle Form, sich mit den Problemen unseres Bildungssystems auseinanderzusetzen und Schritt für Schritt nach überzeugenden Lösungen zu suchen. Verallgemeinerungen lassen sich vielleicht besser verkaufen, helfen aber in der Sache nicht weiter.

Sie haben auf der Tagung mit zahlreichen Kollegen aus Österreich und der Schweiz diskutiert. Ist die Situation des Bildungssystems in diesen Ländern mit der in Deutschland vergleichbar, und wo gibt es signifikante Unterschiede?

Jan Hofmann: Obwohl Deutschland mit 45.000 Schulen weitaus größer ist als die Schweiz oder Österreich, stehen alle drei Länder vor den gleichen Problemen. In den letzten Jahren wurden unzählige Daten gesammelt, tolle Ideen entwickelt, und doch fehlt es noch immer an der Handlungskompetenz. Wir haben nur in Teilbereichen klare Vorstellungen davon, wie das theoretische Wissen in die Praxis umgesetzt werden kann. Vor diesem Hintergrund war die Konferenz außerordentlich hilfreich, weil wir uns über grundlegende konzeptionelle Dinge, aber auch über viele Einzelfragen verständigen konnten. Der trilaterale Dialog im Rahmen der OECD soll deshalb in den nächsten Jahren unbedingt fortgesetzt und intensiviert werden.