Eine Form der Kritik, die man sich noch leisten kann

Joachim Lottmann kultiviert in seinem Buch "Auf der Borderline nachts um halb eins" das Stilmittel des Totlobens

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Nach seinem Erstling "Mai, Juni, Juli", der ihm den Ruf einbrachte "wirklich böse" zu sein (Rainald Goetz), veröffentlichte Joachim Lottmann fast eineinhalb Jahrzehnte lang praktisch nichts. Die Popliteratur-Welle Ende der 1990er (als deren Urvater er gilt) und eine neue Generation von Antidepressiva kurbelten sein literarisches Schaffen wieder an. 1999 erschien der unterbewertete Roman "Deutsche Einheit", in dem Lottmann eine Schreibblockade auswälzt. Danach trat er wieder regelmäßigen mit Artikeln und Büchern an die Öffentlichkeit, darunter mit einer ausgesprochen lesenswerten Serie auf dem Online-Portal Höfliche Paparazzi.

Diese Texte machen den Großteil des neuen Lottmann-Buches "Auf der Borderline nachts um halb eins" aus. Ein anderer Teil der Texte stammt aus dem Blog, den Lottmann derzeit bei der taz (und im Buch bei der Netzzeitung) führt. Das ist deshalb bemerkenswert, weil es eines der wenigen deutschen Literaturblogs ist, die tatsächlich funktionieren - unter anderem deshalb, weil diese literarische Darreichungsform für Lottmann geradezu geschaffen scheint.

Bereits "Zombie Nation" war zu einem guten Teil eine angenehm forsche Art der Zweitverwertung von Lottmanns SZ-, FAS-, und taz-Artikeln aus dem Jahr 2005. Er ließ den Protagonisten der Erzählung einfach die entsprechenden Texte schreiben - und fügte sie ein wie Briefe in einen Roman des 18. Jahrhunderts. Dafür war dann der Klappentext von ihm selbst: "Was Frauen den Männern antun, ist der eigentliche Irak-Krieg unserer Epoche".

Die Suche nach Ahnen endete in dieser Erzählung bei einem Hofnarren des Kurfürsten von Mainz - ein ausgesprochen konsequenter Verweis darauf, wie man Lottmanns Schriften zu lesen hat: Sein wichtigstes Stilmittel ist das "Totloben" - sichtbar etwa, wenn er vom "ungekünstelte[n] Lachen" der Frauen in Berliner Galeristenkreisen schreibt, das natürlich das genaue Gegenteil davon ist.

In den beiden 2004 und 2006 erschienenen Vorgängern "Die Jugend von heute" und "Zombie Nation" hatte Lottmann diese Methode perfektioniert. Inhaltlich waren die beiden Bücher Schelmenromane, in denen sein Alter Ego "Johannes Lohmer" (der konsequenterweise das gleiche Namenskürzel wie er selbst trug - "Jolo") in der gewohnten Pose vermeintlicher Naivität so lange unzerkaut Gemeinplätze wiedergab, bis deren Absurdität offen zutage trat.

Neben dem Totloben ist auch der offene Widerspruch ein wichtiges Lottmann-Stilmittel: So bejubelte er in seinem Bericht über den Weltjugendtag in "Zombie Nation" erst die Kritik der katholischen Kirche an der "allgemeinen Pornographisierung der Gesellschaft", beschrieb aber im weiteren vorwiegend, wie sehr ihn die Massen von hübschen, jungen Teilnehmerinnen erregen. Gelobt werden bei Lottmann vor allem die offensichtlichen Mängel: Friedrich den Großen würdigte er als Friedenskönig, das ZDF als "linkes" Medium. Des weiteren überschüttete er unter anderem seine als Hausdrachen dargestellte Ehefrau, Ulf Poschardt, Frank Schirrmacher, postmoderne Theorie, sowie Gerhard Schröder und die SPD mit seiner perfiden Panegyrik.

Die Entwicklung dieses Totlobe-Stils lässt sich relativ exakt zurückverfolgen, genauer gesagt bis zu einem Lottmann-Text in einem Spex-Heft vom Juli 1986, in dem er erst kritisiert, wie hässlich die Bauvorhaben François Mitterands sind, dann aber selbstreflexiv anmerkt: "Begeben wir uns nicht alle, wenn wir mäkeln, auf das Niveau des Zeit-Magazins?" und schließlich folgert: "Ich revidiere also meine Sätze und sage: Bravo, Herr Präsident".

Vor allem dort, wo er potentiell Klagen zu befürchten hat, verändert Lottmann mit einer Leichtigkeit, als ob er Details falsch erinnern würde: Der Modern-Talking-Sänger erhält so einen falschen Vornamen, und aus den Zeit-Literaturkritikern Ulrich Greiner und Iris Radisch wird eine Figur namens "Iris Greiner". Untermauert wird diese Unschärfe zwischen schlechtem Gedächtnis und rechtlich abgesicherter Diffamierung noch durch Sätze wie: "keine blöden Tonbandaufnahmen". Denn: "Wenn Sie sich Sätze nicht merken können, sind sie auch nichts wert gewesen."

Bald war Lottmann nicht mehr der einzige, der diese Totlobe-Methode anwendete: Auch Harald Schmidt praktizierte sie seit seinen negativen Erfahrungen mit großen Wirtschaftsunternehmen - nicht ohne immer wieder Hinweise auf die Anwälte der totgelobten Firmen zu geben. Das Totloben scheint im Zeitalter der Abmahnanwälte eine der Formen der Kritik zu sein, die man sich noch leisten kann. Wie alle großen Zensurwellen brachte auch dieses Zeitalter seine eigenen Formen der verschlüsselten Kritik hervor. Die Sexualzensur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beförderte Hitchcocks Symbolik, das Zeitalter des Abmahnanwalts das Totloben. Das hat vor allem zwei Gründe: Zum einen scheint Juristen - aber auch anderen Kritikern - häufig die ironische Brechung der Methode zu entgehen, zum anderen lässt sie sich vor Gericht wegen der nur langsamen Gewöhnung von Richtern und Gutachtern an ungewöhnliche, neue Beleidigungsformen auch gegen gut gepolsterte Rechtsabteilungen relativ leicht verteidigen.

Damit es nicht so auffällt mit dem Totloben, und weil seine Methode nach den beiden letzten Bucherfolgen doch schon relativ bekannt ist, versucht Lottmann ihre Wirkmacht in seinem neuen Buch auf zweierlei Arten zu sichern:

Die eine Frischzellenkur besteht darin, dass er sein Totloben mit klassischen Verrissen im 1982er-Duktus durchmischt: etwa bei seiner Schilderung einer Wohltätigkeitsveranstaltung, eines Einstürzende-Neubauten-Auftritts im "Palast der Republik" oder der Echo-Verleihung:

"Buchhalter, angegraute Agenturleute, Werber, die Vertriebsmanager der Phono-Branche und so weiter. Wohl gut zehn erlesene Buffets vom Feinsten künden von der Protzsucht der Veranstalter (u.a. RTL), allein das Catering muss Millionen verschlungen haben. Auf wessen Kosten schlagen sich eigentlich all diese verbiesterten Büro-Gesichter die Bäuche voll? Etwa auf Kosten der Jugendlichen, die die CDs kaufen sollen? Brennt bloß weiter schwarz, Kinder!"

Zum anderen reflektiert er seine Methode, indem er etwa scheinbar verwundert die Reaktionen des Publikums einer Lesung auf sein Stuckrad-Barre-Totloben als unverständlich schildert:

"[Benjamin von Stuckrad-Barre] war in der letzten langen Nacht der Popliteratur nicht erschienen, und ich hatte ihn von der Bühne im 'Kurvenstar' aus herzlich gegrüßt. Die Reaktion des Publikums, fast alles Medienvertreter, war seltsam gewesen. Sie alle lachten! Und zwar hässlich und höhnisch und schadenfroh. Sie verstanden mich also völlig falsch. Ich hörte, wie sie 'Ha ha ha, genau! Richtig so, gib's ihm!' und dergleichen riefen."

Lottmann setzt diese Reflexionen so perfide ein, dass nachher weniger klar ist als vorher. Auf diese Weise hält seine Methode nun schon relativ lange und funktioniert immer noch gut:

"Hier [in Dortmund] sind alle offensichtlich ehrlich [von Philipp Boa ins Spiel gebrachtes Klischee]. Aber was ist das genau, Ehrlichkeit? Wie geht das, wie macht man das, tut das weh? Ich sehe nach draußen. Kanzler Schröder wirbt auf großen Plakaten mit dem schwer verständlichen, zumindest schwer auswendig zu lernenden Satz 'Wer Gerechtigkeit will, muss das Soziale sichern'. Drei Abstrakta in wenigen Silben, respect. Er im Oberhemd, Ärmel halbhoch aufgekrempelt, die Faust geballt, den Blick zum Himmel. Ich mag ihn. Für mich verkörpert er Ehrlichkeit."

Die öffentliche Sicht auf Lottmann weist eine interessante Spaltung auf: Während in Online-Medien wie Wikipedia oder Amazon die Totlobe-Theorie vorherrscht ("Zombie Nation hat Lottmann dem Ex-Bundeskanzler Schröder und seiner Frau Doris gewidmet. Was werden die sich freuen!") scheint ihn das deutsche Feuilleton überwiegend als "konservativen Romantiker" ernst zu nehmen. Tatsächlich macht diese Unschärfe gerade den Reiz Lottmanns aus - obwohl sehr vieles dafür spricht, dass er nicht der naive Narr ist, als den er sich und sein alter ego schildert. Manchmal ist sein Totloben sehr leicht sichtbar - etwa wenn er den Papst mit dem Satz lobt: "Es war schwer gewesen alle Sünden in wenigen Sekunden zu löschen, aber er hatte es geschafft". Wer genau liest, findet aber auch in subtileren Formulierungen durchaus deutliche Hinweise. Karline Bormann aus "Zombie Nation" etwa ist Lottmanns Karikatur der in Foucault-, Deleuze-, und Derrida-Versatzstücken sprechenden Studentin der Geisteswissenschaften. "Jolo" imitiert ihre Sprache, benutzt aber dabei unter anderem das Wort "Sexismus" falsch. Nur an der Reaktion Karlines merkt der Leser, dass die richtige Bedeutung Lottmann durchaus bewusst sein dürfte.

Im Endeffekt aber spielt es keine Rolle, ob er wirklich ein Narr ist, solange er die Narreteien anderer so perfekt aufzeigt. Etwa mit der von ihm in einem Blogeintrag "gefeierten" Abschaffung der Privatsphäre im Rahmen exzessiver Überwachungsmaßnahmen: Dort schreibt er, wie Ende der 1970er angeblich täglich vierstündige Telefongespräche zwischen Diedrich Diederichsen und ihm im Zuge der RAF-Fahndung abgehört wurden. Mit diesem Vorgehen, so Lottmann, entlaste der Rechtsstaat die Unschuldigen - und ohne diese Fahndungsmethode könne er wahrscheinlich "noch heute kein Flugzeug besteigen".

Joachim Lottmann: Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein Leben als Deutschlandreporter. Kiepenheuer & Witsch 2007. ISBN: 978-462-03937-5