Büchner und ein schwarzer Beutel

Bundesgerichtshof prüft Anklagen gegen "militante gruppe". Wird der Justizfarce ein Ende gesetzt?

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Es kommt Bewegung in den Rechtsstreit um eine angeblich in Deutschland operierende linksextreme Gruppe. Zwei Monate nachdem vier junge Männer unter dem Vorwurf festgenommen und inhaftiert wurden, einer Organisation mit dem Namen "militante gruppe" (mg) anzugehören (Angeblicher Schlag gegen Militante Gruppe), wird der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofes (BGH) ab Freitag Beschwerden beider Seiten prüfen. Dabei geht es zunächst um die Haftverschonung eines der Beschuldigten. Die Staatsanwaltschaft hatte gegen die vorläufige Entlassung von Andrej H. Beschwerde eingelegt. Die fünf Richter werden aber auch darüber entscheiden müssen, ob die mg überhaupt als terroristische Vereinigung einzustufen und das harsche Vorgehen der Staatsanwaltschaft damit gerechtfertigt ist.

Die Verteidiger bestreiten das. Florian L., Axel H. und Oliver R. wird der Versuch vorgeworfen, Fahrzeuge der Bundeswehr auf dem Gelände der MAN AG in Brandenburg an der Havel anzuzünden. Warum sie aber nicht wegen konventioneller strafrechtlicher Delikte wie Brandstiftung oder Sachbeschädigung angeklagt wurden, bleibt bis heute das Geheimnis der Bundesstaatsanwaltschaft als Klägerin. Derweil werden in dem Verfahren stetig neue absurde Details öffentlich, die einen schweren Vorwurf der Berliner Rechtsanwältin Christina Clemm stützen ("Beweisnot der Ermittlungsbehörden"): Mit einem abenteuerlichen Konstrukt sei versucht worden, eine Terrorgefahr zu suggerieren, die tatsächlich aber nie existiert habe.

Ab Freitag wird sich zeigen, ob die fünf mit dem Fall befassten BGH-Richter dieser Farce ein Ende setzen - auch wenn sie Teilen der Staatsführung in ihrem Versuch zum Vorteil gereicht, die Antiterrorgesetze zu verschärfen. Ein abschließendes Urteil, so heißt es in Ministerienkreisen, ist erst Anfang November zu erwarten.

Der Staatsschutz und ein schwarzer Beutel

Während Andrej H. am 22. August vorläufig auf freien Fuß kam, werden die drei übrigen Männer weiter in der Justizvollzugsanstalt in Berlin-Moabit festgehalten. Weil sie unter dem Antiterrorparagraphen 129a angeklagt sind, gelten besonders strenge Bedingungen: 23 Stunden Einzelhaft, kontrollierte Post, keine Teilnahme an Veranstaltungen in den Gefängnissen, Kontakt zu Besuchern mitunter nur mit Trennscheibe. Die Anwälte fordern nun auch ihre Entlassung. "Das Material der Staatsanwaltschaft", sagt die Verteidigerin von Andrej H., Christina Clemm, "deckt die Anschuldigungen nicht." Und das, obwohl es sich allein in diesem Fall auf 29 Aktenordner erstreckt.

Auf einer Veranstaltung in der Berliner Volksbühne schilderte die Juristin vor wenigen Tagen vor Hunderten Besuchern die teils unglaublichen Darstellungen von Staatsanwälten und Staatsschutz. Als ihr Mandant Andrej H. bereits rund um die Uhr beschattet wurde, sei ihm ein Observationsteam in eine Berliner Universität gefolgt, wo er sich mit einem Bekannten treffen wollte. Weil die Beamten Andrej H. verloren, schlussfolgerten sie, dass es sich offenbar um ein ganz besonders konspiratives Treffen gehandelt haben muss. Und nachdem der Soziologe H. in den Genuss der Haftverschonung kam, gab ihm Clemm einige Ordner mit Prozessmaterial zur Prüfung in einem Tragebeutel mit. Als die Mutter des Beschuldigten in einem Telefonat fragte, ob man sich bei einem Besuch am Nachmittag "über den Inhalt der schwarzen Tüte" unterhalten solle, stand erneut ein Polizeikommando vor Hs. Haustür, um die Wohnung zu durchsuchen. Solche Überreaktionen der Verantwortlichen lassen nicht nur darauf schließen, unter welch enormen Druck die Staatsschützer inzwischen stehen, Beweise für ihre Anschuldigungen vorzulegen. "Dieses Vorgehen", so Clemm, "ist auch nicht mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar." Die Akten der Verteidigung seien schließlich vor Zugriff geschützt. Interessiert habe das jedoch niemanden.

10.000 Terroristen - nur in den achtziger Jahren

Politiker, die ein solches Vorgehen verteidigten, "erfüllen selber die Kriterien des Terrorismus", sagte der Jurist Rolf Gössner auf dem Berliner Kongress. Gössner stellte den "mg"-Fall in einen historischen Kontext. So sei der Paragraph 129a vor 30 Jahren als "maßgeschneiderte Antwort auf die RAF" im Strafrecht etabliert worden. Inzwischen wurde das Antiterrorrecht aber konsequent ausgeweitet. Für die Ermittlungsbehörden zähle offenbar nicht die tatsächliche Gefahr, vermutete der Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte.

Für Polizei und Staatsschutz biete das Vorgehen unter dem Strafrechtsparagraphen 129a den Vorteil, "exzessive Methoden" anzuwenden. Das ursprünglich angeblich für einen singulären Fall eingerichtete Instrumentarium sei allein in den achtziger Jahren in 3.300 Strafermittlungsverfahren angewendet worden. Insgesamt sei dabei gegen rund 10.000 Personen ermittelt worden - 10.000 potenzielle Terroristen. Fragwürdig sind mitunter auch die Urteile. So wurde vor einigen Jahren eine Münchnerin nach Paragraph 129a verurteilt, weil sie einen fünfzackigen Stern an eine Mauer sprühte. Daneben stand das Zitat des Schriftstellers und Vormärzrevolutionärs Karl Georg Büchner: "Krieg den Palästen!" Die Frau wurde zu zwölf Monaten Haft verurteilt, ihr Begleiter zu sechs Monaten - weil er sie bei der Aktion "abgeschirmt" hatte.

Dass es um die Legitimation des Antiterrorrechts schlecht bestellt ist, verdeutlicht auch eine andere Zahl. In nur sechs Prozent der Anklagen nach Paragraph 129a wurde seit dessen Inkrafttreten überhaupt eine Anklage erhoben. In 94 Prozent der Fälle musste die Staatsanwaltschaft also eingestehen, dass der Anfangsverdacht unbegründet war. Der rechtsstaatliche Schaden, der durch die unbegründete Verletzung der Freiheitsrechte der Zielpersonen entstanden ist, konnte nicht repariert werden.

Auch im aktuellen Fall können sich die Richter des 3. BGH-Strafsenats nun nur noch in Schadensbegrenzung üben. Enge Beobachter des Verfahrens gehen davon aus, dass sie den Terrorvorwurf gegen die drei Inhaftierten und die übrigen Angeklagten fallen lassen und die Verfahren an die regionale Staatsanwaltschaft zurück verweisen. Der Vorsitzende Richter hat Klaus Tolksdorf hat sich schon in der Vergangenheit zurückhaltend zum ausufernden Antiterrorkampf geäußert. "Für staatliche Gerichte", sagte er einmal, "kann der Kampf gegen den Terrorismus nicht einen ungeregelten, wilden Krieg bedeuten."