Kampf um Hartz IV

Die Diskussion um das Arbeitslosengeld findet nicht nur in der SPD statt, die sich wieder neu zu positionieren sucht

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Das hat es schon lange nicht mehr gegeben. Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck erhält beim Kongress der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sogar verhaltenen Applaus. „Fast wie zu Vor-Agenda-Zeiten“ seien die Gewerkschaftler mit den Spitzengenossen umgegangen, merkte die Frankfurter Rundschau an. Tatsächlich ist ein solcher Empfang seit einigen Jahren gar nicht mehr selbstverständlich. Gerade ver.di wurde von SPD-Strategen als die Einzelgewerkschaft im DGB angesehen, die sich in den letzten Jahren am weitesten von der SPD abgenabelt hatte.

Becks Auftritt vor der Gewerkschaft dürfte aber auch noch aus einem anderen Grund besonderes Interesse ausgelöst haben. Schließlich wird seit einigen Tagen an der SPD-Spitze offen darüber gestritten, ob die Agenda 2010 sakrosankt ist oder ob zumindest kleinere Korrekturen, die auch gerne als Nachjustierungen oder Weiterentwicklungen bezeichnet werden, zugelassen werden sollen. Die Auseinandersetzung ist eigentlich seit dem Ende der Ära Schröder fällig, wurde aber parteiintern immer vermieden.

Nach dem für die SPD glimpflichen Ausgang der letzten Bundestagswahl und den Eintritt der Partei in die große Koalition wäre jede kritische Debatte über die Agenda 2010 als Distanzierung von der rot-grünen Regierung erschienen. Das aber wollte die SPD-Spitze unbedingt vermeiden. Doch gerade in den letzten Monaten war der Dissens zwischen den Schröderianern und denen, die sozialpolitisch in die Offensive gehen wollten, auch öffentlich nicht mehr zu leugnen. So hatten sich Steinmeier, Steinbrück und Platzeck mit ihrer Schrift Auf der Höhe der Zeit auf die Linie festgelegt, keinen Millimeter von der Schröder-Linie abzurücken. Dabei verwiesen sie auf die guten Wirtschaftsdaten, die ihrer Ansicht nach eine Folge der Agenda-Politik sind. Auf der andere Seiten hatte der SPD-Linke Ottmar Schreiner seiner Partei mit dem Agenda-Kurs eine Entsozialdemokratisierung vorgeworfen und wurde mit moderaten Worten auch von weiteren ehemaligen SPD-Sozialpolitikern wie Dreßler unterstützt. Schon damals war aufgefallen, dass Beck sich in dieser Debatte auffällig zurück hielt.

Das änderte sich erst vor wenigen Tagen, als Beck vorschlug, die Bezugsdauer für ältere ALG1-Bezieher von 18 auf 20 Monate zu verlängern. Wie moderat dieser Schritt ist, zeigt sich schon daran, dass die Bezugsdauer vor den Hartz-Reformen 32 Monate betragen hat. Die heftige Debatte, die daraufhin in der SPD-Spitze ausbrach und die auch als „Alte Garde gegen Beck“ interpretiert wurde, ist vor allem durch die parteiinterne Positionierung vor den entscheidenden Wahlen des nächsten Jahres zu erklären.

Unser Hauptziel bleibt es, gerade Älteren neue Beschäftigungschancen zu eröffnen. Aber wir wollen auch der Lebensleistung älterer Arbeitnehmer Rechnung tragen. Deshalb streben wir an, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes nach Vollendung des 45. Lebensjahres bis zu 15 Monaten, nach Vollendung des 50. Lebensjahres bis zu 24 Monaten zu erhöhen.

Obwohl zu den Beck-Kritikern auch der ehemalige Wirtschaftsminister Wolfgang Clement und sogar Gerhard Schröder selber gezählt werden, wurde die Auseinandersetzung medial als Streit zwischen Beck und Müntefering personifiziert. Auch hier kann man schnell Gründe finden, die weniger mit der Agenda 2010 als mit parteiinternen Machtkämpfen zu tun haben. Schon im Februar 2007 wurde über SPD-interne Überlegungen berichtet, Müntefering im Kabinett durch Beck zu ersetzen. Damit sollte dieser seine Chancen als Kanzlerkandidat für die nächsten Wahlen verbessern, hieß es schon damals. Diese Bemühungen dürften auch neun Monate später nichts an Dringlichkeit eingebüßt haben, nachdem die Umfrageergebnisse für die SPD und auch für Beck sogar noch weiter gesunken sind. Die aktuellen Vorschläge stellen so sicher auch den Versuch dar, zumindest im sozialdemokratischen Milieu Becks Sympathiewerte zu steigern. Das zeigt sich auch daran, dass die Vorschläge jetzt in einen offenen Brief an alle Parteimitglieder erläutert werden.

Beck kann sich sicher sein, dass er im Umfeld seiner Partei eine überwältigende Zustimmung für diese Kurskorrekturen bekommt. Schnell wird jedoch auch die Kritik aufkommen, dass man nicht am halben Weg stehen bleiben könne und eine umfassendere Korrektur vornehmen müsse. Doch genau das will Beck vermeiden. Daher sein Spagat, einerseits die Agenda2010 generell zu verteidigen, aber sie in Einzelfragen zu korrigieren. Dass in dieser Frage die parteiinternen Rechts-Links-Zuordnungen nur zum Teil treffend sind, zeigten Äußerungen von Berlins Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit. Er wird gemeinhin zu jenen Sozialdemokraten gezählt, die sich in einer Post-Beck-Ära auch ein Bündnis mit einer domestizierten Linkspartei auf Bundesebene nach dem Berliner Vorbild vorstellen kann Doch er brachte mit seinen Äußerungen über Hartz IV-Empfänger, die angeblich nicht mit Geld umgehen können und deshalb auch nicht mehr bräuchten, viele Erwerbslose gegen sich auf.

Debatte in der Union, bei den Grünen und in der Linkspartei

Die Sozialpolitiker der Unionsparteien sind schlauer. Sie sprechen sich nicht frontal gegen Verbesserungen für ältere ALG1-Bezieher aus, wollen aber statt des Lebensalters die Dauer der Einzahlung in die Arbeitslosenversicherung zum Kriterium nehmen. Aufgetischt werden populistische Argumente, dass ein 60-Jähriger, der immer Beiträge gezahlt hat, nicht mit einem Gleichaltrigen gleichgestellt werden könne, der jahrzehntelang auf der Parkbank saß.

Der Vorschlag des NRW-Ministerpräsidenten Rüttgers zielte ebenfalls darauf, ALG1 nach der Dauer der Einzahlung zu bemessen. Der Vorstoß von Beck hat nun auch in der Union die Debatte um Nachbesserungen bei ALG1 neu angestoßen. Dabei stoßen allerdings Vorschläge nach einem Bürgergeld, wie sie der CDU-Ministerpräsident von Thüringen Althaus präsentiert und die Kritiker als "Hartz für Alle“ bezeichnen, parteiintern auf mehr Zustimmung, aber nicht auf eine Mehrheit.

Bei den Grünen, die sich schon seit ihrer Gründung auch mit dem Existenzgeld beschäftigt haben, könnte es auf einem Parteitag im November allerdings eine Mehrheit für ein solches Modell geben. Das wäre eine Abkehr von der rot-grünen Agenda 2010, ohne wieder beim alten Sozialstaatsmodell zu landen, wie Parteichef Reinhard Bütikofer betonte. Er setzte sich in den letzten Tagen für eine Erhöhung der Regelsätze ein.

Die Linkspartei könnte die Auseinandersetzungen in den anderen Parteien eigentlich gelassen verfolgen. Schließlich werden ihre Spitzenpolitiker wie Parteichef Lafontaine nicht müde zu betonen, dass sie das Thema erst wieder auf die Tagesordnung gebracht haben und sich die SPD ohne die Angst vor einer linken Wählerwanderung gar nicht bewegt hätte. Doch so gelassen kann die Partei die Debatte nicht verfolgen. In der Partei stehen sich die Anhänger eines bedingungslosen Grundeinkommens und die Befürworter der gewerkschaftlichen Forderung nach Arbeit für Alle weiterhin kompromisslos gegenüber.

Zudem wurde im neugegründeten Hamburger Landesverband am letzten Wochenende erst in letzter Minute ein großer Streit verhindert. Ursprünglich wollte der Landesverband ein öffentlich gefördertes Beschäftigungsprogramm vorschlagen, das sich als Alternative zu den Ein-Euro-Jobs auf Arbeitsangelegenheiten mit der so genannten Entgeldvariante stützten sollte. Dagegen lief die parteiinterne Arbeitsgruppe Arbeit und Armut Sturm und sprach von einem staatlich exekutierten Arbeitszwang. Jetzt fordert die Hamburger Linkspartei, dass ein solches Beschäftigungsprogramm nur auf der Grundlage aller tarif-, sozial- und arbeitsrechtlichen Standards aufgelegt werden kann und mit Wolfgang Joithe bekam einer der Kritiker des ursprünglichen Konzepts sogar einen aussichtsreichen Platz auf der Wahlliste.

Widerstand der Betroffenen

Bei den parteiinternen Auseinandersetzungen werden oft diejenigen Erwerbslosengruppen vergessen, die mit ihren Widerstand gegen Hartz IV mit dazu beigetragen haben, dass diese Diskussion überhaupt geführt wird. Wenn der Protest auch weitgehend von der Straße verschwunden ist, so wehren sich die Betroffenen doch auf anderen Wegen. So klagen immer mehr Erwerbslose vor den Sozialgerichten höhere Hartz IV-Leistungen ein. Nach Informationen der Bundesagentur für Arbeit stieg die Zahl der Prozesse in der ersten Hälfte des Jahres 2007 bundesweit auf 45500, das ist gegenüber dem Vorjahr eine Zunahme um fast 38 %.

Gerade die Debatte über einen Wirtschaftsaufschwung und mehr Geld in den Kassen sorgen auch dafür, dass die Zahl der Menschen steigt, die nicht mehr einsehen, dass Menschen am Rande oder unter dem Existenzminimum leben müssen. Selbst Bundespräsident Köhler, durchaus als Verfechter neoliberaler Wirtschaftsreformen bekannt, beklagte in seiner Berliner Rede die soziale Schieflage.

Doch hier sind die Erfinder und Verfechter der HartzIV-Gesetze in einem Dilemma. Ihnen ging es eben nicht in erster Linie um die Entlastung von Sozialkassen sondern mit ihrer Devise vom Fördern und Fordern um einen Paradigmenwechsel in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, der im Ergebnis eine Verbilligung der Ware Arbeit zum Ziel hat. Deswegen fürchten die Hartz IV-Politiker fast alle Parteien auch so sehr jede auch noch so moderate Nachjustierung a la Beck.