"In Europa entsteht ein sicherheitsindustrieller Komplex!"

Ben Hayes von der Bürgerrechtsorganisation Statewatch über das Zusammenwachsen von Polizei, Militär und Geheimdiensten, EU-Netzwerke von Datenbanken und der neuen Kooperation der westlichen Geheimdienste mit brutalen Regimes

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Ben Hayes beschäftigt sich seit langem mit der Sicherheitspolitik der EU, Datenschutz und Informationsfreiheit. Seit 1996 arbeitet er für die britische Bürgerrechtsvereinigung Statewatch und leitet dort das Statewatch European Monitoring and Documentation Centre on Justice and Home Affairs in the EU (SEMDOC). Außerdem ist er einer der Organisatoren des European Civil Liberties Network. Am letzten Freitag nahm er an der Konferenz “Terrorismusbekämpfung und Menschenrechtsschutz” in Berlin teil, die unter anderem von Amnesty International veranstaltet wurde.

Sie sprechen über die Zusammenarbeit zwischen der Polizei und den Geheimdiensten in Europa. Kommt diese Kooperation denn wirklich voran?

Ben Hayes: Man muss sich zunächst klar machen, dass gerade die Geheimdienste keiner effektiven demokratischen Kontrolle unterworfen sind, und wir deshalb auch nicht wirklich viel wissen. Immerhin ist klar, dass der Großteil der Zusammenarbeit zwischen den europäischen Nachrichtendiensten immer noch bilateral stattfindet. Dafür nutzen sie mehr oder weniger informelle Kanäle, die sich seit vielen Jahren etabliert haben, wie den so genannten “Berner Club”, wo sich europäische Geheimdienste seit den 1970er Jahren treffen. Interessant ist allerdings die Entwicklung des Joint Situation Centers (SITCEN) der EU, ursprünglich eine Art Informationsbüro des Generalsekretärs Javier Solana. Diese Einrichtung wird zunehmend zu einer Art Nachrichtendienstzentrale, die unabhängig von den Nationalstaaten arbeitet.

Für die Mitgliedsstaaten ist die EU eine Möglichkeit, Maßnahmen durchzusetzen, die in den nationalen Parlamenten keine Chance hätten

Andererseits sind die Mitgliedstaaten gegenüber der gemeinsamen Polizeibehörde EUROPOL äußerst misstrauisch.

Ben Hayes: Das ist richtig, sie wollen über diesen Weg aus zwei Gründen nicht zusammenarbeiten. Erstens finden sie es mühsam, weil EUROPOL einigermaßen strikte Datenschutzregeln einhalten muss. Zweitens ist die Behörde nicht erfolgreich genug, jedenfalls nicht bei der Terrorismusbekämpfung. Die nationalen Nachrichtendienste stellen ihr nur sehr widerstrebend Informationen zur Verfügung. Warum sollten sie auch, sie bekommen ja nichts dafür. Nach dem 11. September 2001 hatte das FBI für einige Monate zwei Vertreter dort abgestellt. Später haben die Amerikaner die Behörde öffentlich mit scharfen Worten als ineffektiv kritisiert. In anderen Bereichen, zum Beispiel bei verdächtigen Finanztransaktionen, sieht das schon anders aus. Langfristig wird EUROPOL mächtiger werden, aber bisher spielt sie noch keine so große Rolle.

Das klingt erst einmal nicht besonders beeindruckend. Gibt es denn überhaupt eine wirklich gemeinsame europäische Sicherheitspolitik?

Ben Hayes: Für die Mitgliedsstaaten ist die EU eine Möglichkeit, Maßnahmen durchzusetzen, die in den nationalen Parlamenten keine Chance hätten. Viele Überwachungsmaßnahmen, wie die Vorratsdatenspeicherung oder flächendeckende Fingerabdrucksammlungen, kamen so zustande. Solche Maßnahmen nutzen den Behörden in allen Ländern und werden von ihnen vorbehaltlos unterstützt. Wenn es aber um Institutionen auf der europäischen Ebene geht, die nur dem sogenannten europäischen Projekt zugute kommen (wie beispielsweise die European Rapid Reaction Force als europäische Quasi-Armee), dann sind sie nicht wirklich interessiert.

EU–Politiker sprechen seit kurzem vom “Prinzip der Erhältlichkeit” als einem neuen Grundsatz in der Sicherheitspolitik. Was bedeutet das?

Ben Hayes: Durch die neuen Regelungen über gegenseitige Rechtshilfe sind alle Mitgliedsstaaten verpflichtet, auf Anfrage aus dem Ausland Informationen weiterzugeben. Sie können darüber hinaus von sich aus Daten austauschen. Nach den Londoner Anschlägen im August 2005 haben beispielsweise die Briten eine Liste mit 5.364 Verdächtigten an Griechenland weitergeleitet. Daraufhin wurden dort 1.212 Menschen verhaftet und verhört.

Das Prinzip der Erhältlichkeit besagt, dass alle Informationen einer Polizeibehörde allen anderen zugänglich gemacht werden müssen – sozusagen das genaue Gegenteil von Datenschutz. Durch den Prümer Vertrag wird dieses Prinzip in gewissem Maß bereits umgesetzt. Die nationalen Datenbanken für Fingerabdrücke, DNA und biometrische Daten in den Vertragsstaaten werden vernetzt; allen anderen können über ein Interface direkt auf die der anderen zugreifen. Ursprünglich sollte es ja eine gemeinsame EU-Datenbank geben, aber das stellte sich als technisch schwierig und politisch nicht durchsetzbar heraus. Nun entsteht praktisch dasselbe, nämlich ein Netzwerk von Datenbanken!

Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die EU in den nächsten Jahren ein System einrichten wollen, dass alle Ein- und Ausreisebewegungen erfasst. Das würde später mit dem Schengen– und dem Visa-Informationssystem verbunden werden und biometrische und möglicherweise auch DNA-Daten enthalten. Es geht dabei um riesige Datenmengen: Die Visa-Datenbank wird beispielsweise Informationen über ungefähr 20 Millionen Menschen jährlich speichern, darunter ihre Fingerabdrücke.

Ist diese Sicherheitspolitik im Interesse aller EU-Staaten?

Ben Hayes: In Europa entsteht ein sicherheitsindustrieller Komplex, der sozusagen den alten militärisch-industriellen Komplex beerbt, wie Ike Eisenhower ihn einst beschrieben hat. Die Rüstungsunternehmen haben ihre Arbeit diversifiziert und produzieren heute auch Sicherheitstechnologie für den zivilen Einsatz. Auf diesen Märkten treffen sie sich mit IT-Unternehmen. Beispiele für die “doppelte Nutzung” von Sicherheitstechnologie sind optische Überwachungssysteme, biometrische Identifikation, unbemannte Aufklärungsflugzeuge (Unmanned Arial Vehicles) oder Technologien zur Verteidigung von kritischen Infrastrukturen. Natürlich ist der Einsatz von solchen Technologien in manchen Fällen sinnvoll. Andererseits wird militärisches Gerät, das früher nur im Krieg zum Einsatz kam. immer häufiger für die normale Polizeiarbeit eingesetzt. Es findet sozusagen deren Militärisierung statt.

Große IT- und Rüstungsfirmen wie Thales oder Siemens treiben diese Entwicklung voran. Sie sind mit den fünf einflussreichsten Mitgliedsstaaten verwoben, mit Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien und Großbritannien. Hochrangige Militärs arbeiten eng mit den Vertretern dieser Industrie zusammen. Der Einfluss des sicherheitsindustriellen Komplexes zeigt sich zum Beispiel im aktuellen Forschungsrahmenprogramm der EU, das für die Sicherheitsforschung jährlich 400 Millionen Euro vorsieht.

Mit dem Verschwinden der Grenzen zwischen Polizei, Geheimdiensten und Militär werden die alten Kontrollmechanismen ausgehebelt

Wie hat sich die Arbeit von Polizei und Geheimdiensten durch den so genannten Kampf gegen den Terror geändert?

Westliche Geheimdienste arbeiten mit einigen der brutalsten und korruptesten Regimes der Welt zusammen und tauschen alltäglich Informationen aus, zum Beispiel mit den Behörden in Algerien; Jordanien, Marokko oder auch dem Inter-Services Intelligence (ISI) in Pakistan. Das ist ein Geben und Nehmen: Großbritannien beispielsweise ist seit den Anschlägen in London auf die Informationen der pakistanischen Behörden angewiesen. Die Terroristen wurden bekanntlich in Lagern dort ausgebildet. Andererseits reisen sehr, sehr viele Zuwanderer aus Großbritannien nach Pakistan und zurück. Es geht darum, diese Bewegungen zu kontrollieren.

Vor den Anschlägen am 11. September gab es natürlich auch Kontakte. Aber seit dem so genannten “Krieg gegen den Terror” ist die Kooperation viel intensiver geworden, nicht nur in den USA, sondern auch in Europa, und heute können Länder wie Pakistan eine gewisse Gegenseitigkeit verlangen. Pakistan fordert beispielsweise die Auslieferung von prominenten Regimegegnern, die schon seit langer Zeit in Großbritannien leben. Sie sagen: “Wenn ihr etwas über diese jungen Briten wissen wollt, erzählt uns etwas über diese Gruppe von Exilpakistanis!” Ich bin absolut sicher, dass britische staatliche Stellen solche Informationen an den ISI weitergeben.

Die Briten hätten gerne Rashid Rauf, dem vorgeworfen wird, er sei in ein Attentat mit flüssigem Sprengstoff auf ein Flugzeug im Sommer 2006 verwickelt. Nun verlangt Pakistan in Gegenzug die Auslieferung von Separatisten aus Belutschistan (eine Nationalität auf dem Gebiet Irans, Afghanistans und Pakistans). Mein Heimatland ist nun in der grotesken Situation, den ISI zu unterstützen, der wiederum aller Wahrscheinlichkeit die Taliban unterstützt, gegen die wiederum unsere Streitkräfte kämpfen.

Neben der bilateralen Zusammenarbeit gibt es das Netzwerk der so genannten Counter Terrorist Intelligence Centers (CTIC), wie die “Alliance Base” bei Paris, über das vor zwei Jahren berichtet wurde (Die CIA betreibt in über 20 Ländern geheime Operationszentren). Dort treffen sich Sicherheitsleute aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Kanada und der USA. Nach Angaben eines CIA–Beamten gibt es weltweit mehr als 25 solcher Zentren. Sie werden von den USA finanziert und sollen über 3.000 Verhaftungen vorbereitet haben. CTIC befinden sich angeblich in sechzehn europäischen Ländern, sechs in Asien und acht im Nahen Osten und Nordafrika, außerdem in Australien und Kanada. Dieses Netzwerk zeigt, wie militärische und polizeiliche Dienste immer enger zusammenarbeiten.

Welche Entwicklung bedroht Ihrer Meinung nach die Bürgerrechte gegenüber dem Staat am meisten?

Ben Hayes: Die traditionellen Grenzen zwischen Polizei, Militär und Nachrichtendiensten verwischen sich. Polizeibehörden wie zum Beispiel der Special Branch Police in Großbritannien (britische politische Polizei, M.B.) bekommen Kompetenzen, die früher traditionell den Geheimdiensten vorbehalten waren. So können sie Aufzeichnungen über das Kommunikationsverhalten der Verdächtigten direkt einsehen. Das Militär andererseits patrouilliert heute auf Flughäfen und bekämpft den Terrorismus, was früher undenkbar gewesen wäre. Die Marine durchsucht Schiffe nach illegalen Einwanderern oder Drogen, früher eine reine Polizei und Zollaufgabe. Die Nachrichtendienste wiederum beschäftigen sich mit organisierter Kriminalität, und so weiter, und so weiter. In den vergangenen 15 Jahren sind die Unterschiede zwischen den drei bewaffneten Organen des Staates weitgehend verschwunden. Und das Problem dabei ist, dass dadurch die alten Kontrollmechanismen ausgehebelt wurden.