Programmatischer Linksruck?

Hat die SPD die Zeichen der Zeit erkannt?

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Seit wenigen Tagen liegt die Beschlussempfehlung der Programmkommission der SPD für das neue, auf dem Parteitag Ende Oktober zu beschließende Hamburger Grundsatzprogramm vor. Insbesondere das von Parteichef Kurt Beck medienwirksam verkündete Bekenntnis zum "Demokratischen Sozialismus" hat den Anspruch der SPD untermauert, eine – nein, die – linke Volkspartei in Deutschland zu sein.

Nachdem die Partei sich in der letzten Zeit bei der Sonntagsfrage auf historischen Tiefständen verfestigt hat, gleichzeitig die LINKE beständig und scheinbar mühelos auf über 10% gehandelt wird und sich die verschiedenen Lager innerhalb der SPD mit Buch-Präsentationen für die Programmdiskussion positioniert haben, schien es Kurt Beck wichtig zu sein, die Partei eindeutig und auch gegen den Widerstand einflussreicher Parteikreise um Vize-Kanzler Franz Müntefering "links" zu verorten. Die zu untersuchende Fragen bleiben, ob dies erstens eine Erfolg versprechende Strategie ist und ob zweitens die tatsächliche Empfehlung der Programmdiskussion – insbesondere im Vergleich zum so genannten Bremer Entwurf aus dem Vorjahr – diesen Anspruch auch bestätigt.

1. Auf der Suche nach der Wählerschaft

Wahl- und Parteienforscher machen immer mehr Wechselwähler aus und folgern daraus, dass der Wähler an sich immer flatterhafter und das Lager der "stabilen Stammwähler" immer kleiner wird. Die Empfehlungen an die SPD sind dann auch schnell bei der Hand: Nicht "links" liegen die Wählerpotentiale, sondern in der bürgerlichen Mitte – allerdings hier natürlich besonders hart umkämpft, denn auch die CDU/CSU und FDP sprechen insbesondere diese Wählerschichten an. Franz Müntefering, Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück1 und die Netzwerker in der SPD stehen für diesen Weg, den Franz Walter als die Ausrichtung auf die "Gewinner der ersten Bildungsreform" nennt (Schutzmacht der Neuen Mitte.

Bei genauerer Analyse der Wählerwanderungen wird man allerdings feststellen, dass zwar die Zahl der Wechselwähler zugenommen hat, keineswegs aber die immer noch sehr stabile Teilung der Wählerschaft in ein linkes, partizipativ-solidaritätsorientiertes und ein rechtes, paternalistisch-konservatives Wählerlager. Die Bindungen innerhalb der Lager scheinen tatsächlich abzunehmen – und genau darunter leidet die SPD seid geraumer Zeit -, die Mobilität zwischen den Lagern nimmt aber keineswegs zu. Vor diesem Hintergrund scheint nun die Ausrichtung der SPD an der imaginären "Neuen Mitte" wenig Erfolg versprechend: traditionelle Stammwähler gehen in Richtung GRÜNE, vor allem aber in Richtung LINKE und Nicht-Wähler verloren, die Leistungsstarken in der Mitte der Gesellschaft verbleiben gleichwohl entweder ganz überwiegend im konservativen Wählerlager oder, wo sie trotz materiellen Aufstiegs die solidarische Grundhaltung nicht gegen eine meritokratische Perspektive getauscht haben, distanzieren sich eher von der SPD.

Der "Ruck nach links" scheint deshalb strategisch durchaus konsequent, zumal Kurt Beck als Parteivorsitzender sicher auch eine grandiose Fehlbesetzung wäre, wenn er eine Partei personifizieren müsste, die den Steinmeiers und Steinbrücks vorschwebt – diese Diskrepanz dürfte es auch sein, die in der Vergangenheit sowohl Kurt Beck als auch der SPD geschadet hat. Ist der Partei damit jetzt endlich der viel beschworene Befreiungsschlag gelungen? Die Frage wäre wohl mit ja zu beantworten, wenn erstens die Steinmeiers und Steinbrücks, die ja die Politik gestalten, für die die SPD gradestehen muss, diesen Kurswechsel mitmachen würden. Angesichts deren völlig anderen Einschätzung der Lage erscheint die notwendige Loyalität kaum vorstellbar und, in der Realpolitik, dann wohl auch ein Ende der Großen Koalition absehbar. Zweitens aber müsste sich der Linksruck auch wirklich im neuen "Hamburger Programm" substantiieren und, worauf Franz Walter völlig zurecht hinweist, dann auch in aktueller Politik sichtbar werden. Hierauf wollen wir etwas genauer blicken.

2. Auf der Suche nach einer neuen Vision

Franz Walter macht den Linksruck am Bekenntnis zum Demokratischen Sozialismus im Beschlussentwurf der Programmkommission fest und kritisiert gleichzeitig, dass natürlich niemand mehr in der SPD tatsächlich im "Sozialismus" einen Richtungsanzeiger sehen würde4 – also alles nur Placebo. Richtig ist zunächst einmal, dass der Begriff des "Demokratischen Sozialismus" im "Bremer Entwurf" auf 65 Seiten nur ein Mal – fast beiläufig – vorkommt, während er im Beschlussentwurf der Programmkommission deutlich mehr Platz einnimmt und als Grundüberzeugung so etwas wie der visionäre Fernblick der Partei sein soll. Allerdings erscheint es tatsächlich undenkbar, dass dieser "Demokratische Sozialismus" etwas mit jener Konzeption zu tun haben sollte, die auf Gesellschaftsveränderung und Überwindung des kapitalistischen Wirtschaftssystems abzielte.

Deshalb wird jener Absatz des Beschlussentwurfs, der mit dem "Demokratischen Sozialismus" begann, mit dem Verweis auf die "soziale Demokratie" als Handlungsprinzip abgeschlossen. Zwar ist mit dem Begriffswandel an sich noch nicht viel erhellt, aber doch klargestellt, dass auch die SPD des "Hamburger Programms" nicht wieder die "Systemfrage" stellt. Wo aber steht den die SPD nach dem "Hamburger Programm"? Nur eine klare Positionierung kann Orientierung vermitteln, die ja im Schlagwort von der "linken Volkspartei" deutlich werden sollte. Um es vorweg zu nehmen: Eine konsistente Perspektive bietet dieser Programmentwurf nicht. Der verzagte Globalisierungskritiker wird genauso bedient wie der zupackende Globalisierungsrealist. Wer stolz auf die Hartz-Gesetzgebung ist, wird sich in den Formulierungen zum "vorsorgenden Sozialstaat" ebenso wiederfinden können, wie der Kritiker von Hartz-IV darin zumindest eine vorsichtige Rückkehr zu Armut verhindernder Solidarität erblicken können.

Es fehlt die klare Linie zur Einschätzung unserer ökonomischen Realität: Statt einer stringenten Gesellschaftsanalyse – sei es im Sinne der Schröderschen "Marktsozialdemokratie" oder im Sinne einer fundierten, linke Marktkritik jenseits der marxistischen Systemfrage – wird mit dem unregulierten internationalen Kapitalmarkt nur ein Strohmann geboten, auf den sich prima einschlagen lässt. Damit läuft die SPD keine Gefahr, ihre Positionen zur nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitik allzu sehr schärfen zu müssen, denn die linke Kritik kann an den internationalen "Heuschrecken" festgemacht werden. Und zweifellos sind die Auswüchse des "Casino-Kapitalismus" Anfang des 21. Jahrhunderts zu kritisieren2, doch ersetzt dies nicht die klare Positionierung zur "Marktfrage": Impliziert das angemahnte Primat der Politik über die Ökonomie nun eine grundsätzliche Marktkorrektur oder nur eine Marktergänzung und, höchstenfalls, eine Marktregulierung?

Um diese Entscheidung drückt sich die Partei herum, dem Programm merkt man es an, wenn eine "moderne Dienstleistungs-" und strategische und ökologische Industriepolitik als Herzstücke sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik angeboten werden. So jedenfalls wird die Orientierung nicht zu leisten sein, die die Partei so dringend braucht: Weder für die verunsicherten Stammwähler, noch für die handelnden Politiker, die "Rente mit 67" und das Festhalten an den sozialen Einschnitten der Hartz-IV-Gesetzgebung tatsächlich weiterhin als notwendige Wende sozialdemokratischer Sozialpolitik preisen können und sich damit sanktionslos gegen die Positionierungsversuche ihres Vorsitzenden stellen.

3. Nur die Einheit von Programm, Politik und Personen kann die SPD aus dem Tief herausführen

Als sachbezogene Volkspartei hat die SPD immer mehr oder weniger intensive Debatten über den richtigen Weg – programmatisch, wie realpolitisch – erlebt. Und selbstverständlich müssen sich die unterschiedlichen Grundüberzeugungen, die in einer Partei gebündelt werden müssen, die anstrebt, über 40 Prozent der Bevölkerung zu vertreten, Berücksichtigung finden. Doch was die SPD gegenwärtig ausmacht, ist ihre ausgeprägte Orientierungslosigkeit – sie hat schlicht jede Peilung für eine eigenständig markierbare, nach außen gemeinsam vertretbare und nach innen zusammenhaltende Position verloren. Und der Verlust dieses "sozialdemokratischen Gefühls" ist die Folge eines politischen Crashs, der Agenda 2010 heißt.

Oliver Nachtwey3 hat jüngst zu Recht die Architekten der Agenda 2010-Politik als "politische Geisterfahrer"4 bezeichnet. Gerhard Schröder war der eigentliche Geisterfahrer der SPD, die Programmatik des "Blair-Schröder"-Papiers das Vehikel der Geisterfahrt und die Agenda 2010 der fast unvermeidliche Crash.

Hiervon wird sich die SPD nur erholen können, wenn sie eine klare, in sich konsistente Analyse der Errungenschaften, aber eben auch massiven Mängel der kapitalistischen Marktwirtschaft leistet und eine sozial-interventionistische Reformulierung des solidarischen Sozialstaats anbietet, die den Gerechtigkeitsvorstellungen des eigenen Wählerpotentials entspricht, ohne der Machbarkeitseuphorie früherer Jahrzehnte zu erliegen. Die "Weiterentwicklung" der Hartz-Gesetzgebung (Kurt Beck) wird da schon als "klarer Schwenk" (Franz Müntefering) wahrnehmbar sein müssen – dass dies trotz aller Anpassungsfähigkeit heutiger Politiker nicht mit dem gegenwärtig für die SPD handelnden Personal geht, scheint ebenso offensichtlich wie die in dieser Hinsicht verbleibenden Mängel des Beschlussentwurfes zum künftigen "Hamburger Programm".

Arne Heise ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg. Der Beitrag ist in der Reihe Standpunkte zur Staatswissenschaft erschienen.