"Es wäre kriminell, auf die Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen zu verzichten"

Telepolis-Gespräch mit dem diesjährigen Nobelpreisträger Mario Capecchi über seine Forschung, die Bedeutung von Mäusen als Tiermodelle und seine Ansichten über die künftigen Forschungsziele

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Mario R. Capecchi (70) hat zusammen mit Oliver Smithies (82) und Martin J. Evans (66) den diesjährigen Nobelpreis für Medizin erhalten. Gewürdigt wird damit die Forschung der Wissenschaftler bei der Erzeugung von so genannten "Knock-out-Mäusen", bei denen einzelne Gene gezielt ausgeschaltet werden. Dadurch können auch "Tiermodelle" für bestimmte menschliche Krankheiten herstellen. Davon wurden bislang bereits 500 geschaffen. Capecchi wird insbesondere deswegen gewürdigt, weil er zeigen konnte, dass defekte Gene durch homologe Rekombination mit der Einführung von DNA repariert werden können. Daraus ergab sich die von Smithies aufgezeigte Möglichkeit, Gene zu modifizieren und eben auch auszuschalten. Evans entwickelte die Methode, Gene mittels embryonaler Stammzellen in Blastozyten einzuführen. Matthias Gräber hatte die Gelegenheit, mit dem Nobelpreisträger für Telepolis ein Gespräch zu führen.

Der heutige US-Bürger Mario Capecchi kam 1937 in Verona auf die Welt. Als er vier Jahre alt war, wurde seine Mutter ins Konzentrationslager Dachau gebracht - Capecchi schlug sich als Straßenkind durch. Erst als Neunjähriger traf er seine Mutter wieder und wanderte mit ihr in die Vereinigten Staaten aus. Er studierte Chemie und Physik, erwarb später einen Doktortitel in Biophysik in Harvard. Capecchi arbeitet seit langem an der University of Utah.

Mario Capecchi

Unsere Glückwünsche, Dr. Capecchi, zum Nobelpreisgewinn! Wann haben Sie davon gehört?

Mario Capecchi: Am Montag um drei Uhr nachts.

Und was war Ihre erste Reaktion?

Mario Capecchi: Zuerst musste ich mal wach werden. Ich war extrem überrascht. Jedes Jahr kommen Hunderte von Leuten in Frage, so dass die Wahrscheinlichkeit sehr niedrig war. Selbst wenn man weiß, einen wichtigen Beitrag geleistet zu haben, kann man nie wirklich erwarten, den Nobelpreis zu bekommen.

Als Sie Ihre Arbeit in den 70ern begannen, hätten Sie da jemals ein solches Ergebnis erwartet?

Mario Capecchi: Ganz sicher nicht. Wir hatten natürlich eine Vision, was wir erreichen wollten, sobald ich wusste, dass ich in der Lage war, Gene in Mäusen auszutauschen. Es brauchte noch viel Zeit, das in die Tat umzusetzen, aber wir waren überzeugt, dass es klappen müsste, weil die Maschinerie, die wir dafür nutzen wollten, in der Zelle bereits vorhanden war.

Sie waren damals ziemlich allein mit dieser Vision, selbst das National Health Institute der USA lehnte Ihren Antrag auf Forschungsgelder ab.

Mario Capecchi: Das stimmt. Unser Labor bestand damals aus mir und zwei Technikern. Dass das NIH meinen Antrag ablehnte, war gar nicht mal so unverständlich. Sie meinten einfach, das Projekt sei nicht umsetzbar. Bis man etwas bewiesen hat, ist Scheitern ja immer möglich. Es ging ja darum, ein Stück fremder Gene in die DNS einzufügen, um diese Sequenz irgendwie zu ändern. Dann führen Sie das in die Zelle ein - und das erste, was passieren muss, damit das Verfahren funktioniert, ist, dass dieses DNS-Stück ihr exakt gleiches Gegenstück unter drei Milliarden Basenpaaren findet. Das ist eine enorme Auswahl, der Text von eintausend 1000-seitigen Folianten, ein enormer Informationswust, den die DNS durchgehen muss, um ihr Gegenstück zu finden. Und das NIH meinte, die Wahrscheinlichkeit, dass das funktioniert, wäre zu gering. Mir war auch klar, dass so etwas sehr selten passiert, aber ich wusste, wenn man nur genau genug hinschaut, dann bemerkt man auch ein sehr seltenes Ereignis.

Den nötigen Mechanismus haben wir dann ausgearbeitet. Dazu mussten wir für ein anderes Forschungsvorhaben genehmigte Ressourcen verwenden. Wenn wir gescheitert wären, hätte uns das ziemlichen Ärger eingebracht. Zwei Jahre später hätten wir dann mit leeren Händen dagestanden. Zum Glück war das Timing perfekt. Die Gelder wurden auf fünf Jahre vergeben, aber man muss sie alle vier Jahre neu beantragen. Vier Jahre später hatte ich genug Beweise gesammelt, dass es tatsächlich funktionieren könnte. Ich stellte im Prinzip denselben Antrag erneut, an dasselbe Komitee, und dieses Mal schickten sie den pinken Bewertungsbogen zurück mit der Ergänzung „Wir sind froh, dass sie unserem Rat nicht gefolgt sind“.

Welche Rolle spielte damals die Zusammenarbeit mit Evans und Smithies, die mit Ihnen gemeinsam den Nobelpreis bekommen haben?

Mario Capecchi: Ohne die wären wir nicht weit gekommen. Wir studierten ja damals die homologe Rekombination in Zellkulturen, aber wir wollten das auf Mäuse ausdehnen. Es gab zunächst noch keinen Weg dahin, aber es gab eine interessante Zellart, die embryonalen Krebszellen oder EC-Zellen. Sie kommen aus Tumoren, die pluripotente Stammzellen enthalten. Forscher hatten diese Zellen in Embryos eingepflanzt, und sie hatten sich in ganz verschiedene Gewebe differenziert. Allerdings beteiligten sie sich nicht daran, Spermien und Eier zu produzieren. Das beschränkte ihren Einfluss auf eine Generation und brachte uns nicht weiter.

Ich behielt die Literatur im Auge und traf ab und zu Forscher, die sich mit diesen Zellen befassten. 1984 hörte ich von Martin Evans Labor, dass es sich mit Zellen befasste, die wie EC-Zellen aussahen. Man nannte sie damals noch EK-Zellen, heute sagt man ES-Zellen dazu - embryonale Stammzellen. Ihr Unterschied zu den EC-Zellen war, dass sie auch zu Spermien und Eizellen beitrugen. Ich schrieb an Martin Evans, oh, diese Zellen sehen großartig aus, kann ich in Ihr Labor kommen und damit arbeiten? Martin war einverstanden, also fuhren meine Frau, die damals mit mir forschte, und ich nach Cambridge (UK) und arbeiteten in Evans Labor.

Das ganze Gebiet ist mittlerweile ein Wirtschaftsfaktor.

Mario Capecchi: Oh ja, es gibt aberhunderte Labors.

Hat sich denn damit die Art und Weise geändert, wie man forscht?

Mario Capecchi: Die Maus ist heute sicher das Paradigma dafür, wie man jede andere Spezies modelliert. Wir sind heute an einem Punkt, wo wir sie meist nutzen, um eine Krankheit zu studieren. Aber in der Zukunft werden wir sie auch zum Screenen von Medikamenten einsetzen, die die betreffende Krankheit heilen können. Die Maus wird also zu einem Mechanismus mit hoher Durchlaufrate werden, an dem man sehr spezifische Medikamente testen kann.

Die Maus wird aber immer im Zentrum der Forschung bleiben - und nicht etwa durch Computersimulationen oder eine andere Tierart ersetzt?

Mario Capecchi: Ja, sie wird uns noch eine ziemlich lange Zeit dienen müssen. Für robuste Computersimulationen fehlen uns noch zu viele Informationen, es gibt zu viele Variable. Natürlich ändert sich das mit der Zeit, aber für die nächsten 30 Jahre, schätze ich, wird die Maus die zentrale Rolle spielen.

Welches Forschungsgebiet erscheint Ihnen heute als am vielversprechendsten?

Mario Capecchi: Wir arbeiten gerade daran, das Prinzip auf andere Spezies auszudehnen. Wenn wir heute etwas über Molekularbiologie wissen, dann beschränkt sich das im wesentlichen auf Hefe, Bakterien, C. Elegans, Drosophila und die Maus. Diese repräsentieren die gesamte Biosphäre. Und der Schwerpunkt liegt dabei immer noch in der Frage, was diese Organismen vereint, was sie gemeinsam haben.

Ich denke, wir müssen mal auf ein breiteres Spektrum der Biosphäre schauen und herausfinden, was uns differenziert. Daraus, was uns unterschiedlich macht, kann man genausoviel lernen wie aus den Gemeinsamkeiten. Deshalb würde ich die Arena gern erweitern und mir zum Beispiel alle Säugetiere anschauen. Daran arbeiten wir gerade. Dafür werden wir die nächsten zwanzig Jahre brauchen. Zunächst müssen wir die nötige Technologie erarbeiten, und wenn die so weit ist, können wir anfangen, sie zu benutzen.

Wenn Sie darüber sprechen, die Biosphäre auszuweiten, schließt das den Menschen mit ein?

Mario Capecchi: Wir profitieren von Information. Heute können wir alles und jeden sequenzieren. Das menschliche Genom liegt schon vor, diese Informationsbasis haben wir. Das ist auch alles, mit dem ich arbeiten werde, diese Informationsbasis. Ich würde auf diese Informationsbasis aber gern funktionell zugreifen, statt einfach nur Gensequenzen zu vergleichen.

Ist es denn sinnvoll und wichtig, mit menschlichen embryonalen Stammzellen zu arbeiten?

Mario Capecchi: Ich habe eine sehr starke Meinung dazu - ich glaube, es wäre kriminell, darauf zu verzichten. Sie haben genausoviel Verantwortung für die Lebenden wie für die Ungeborenen. Ich finde sogar, dass wir den Lebenden gegenüber mehr Verantwortung haben. Zu sagen, wir kümmern uns nicht um Alzheimer, obwohl es bald die Hälfte der Bevölkerung betrifft, weil unsere Gesellschaft immer älter wird, das ist unmoralisch. Das heißt, wir müssen dazu alle verfügbaren Möglichkeiten nutzen. Ich sage nicht, dass wir es nicht mit adulten Stammzellen probieren sollten! Aber wir sollten embryonale Stammzellen nicht ausschließen und uns ansehen, was in welchem Kontext besser funktioniert. Es wird Fälle geben, wo eines von beiden besser geeignet ist - es wäre unverantwortlich, diese Möglichkeit auszuschließen.

Hilft es denn bei Ihrer Forschungsarbeit, ein Ergebnis mit einem Patent gesichert zu haben?

Mario Capecchi: Auf mein Konto geht keines der Patente, diese stehen meiner Universität zu. Ich bin da geteilter Meinung. Klar hilft ein Patent auf bestimmte Weise. Wichtig finde ich vor allem, den freien Informationsfluss mit individuellen Besitzrechten zu vereinbaren. Die Informatik war anscheinend gerade darin sehr erfolgreich. Die Biologie wird wohl noch eine Weile brauchen, bis sie einen Weg gefunden hat, Patente so anzuwenden, dass sie einerseits die Forschung nicht behindern, aber andererseits Leuten, die da investiert haben, auch ein paar Rechte verschaffen.