Re-Reeducation oder: Kunst und Konditionierung

Was hat Kunst mit der amerikanischen Gameshow "Supermarket Sweep", Experimenten von Iwan Pawlow und mongolischen Wüstenrennmäusen zu tun? - Lesson # 2

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Beginnen möchte ich mit einer Frage: "Was hat Kunst mit der amerikanischen Gameshow „Supermarket Sweep“, Experimenten von Iwan Pawlow und mongolischen Wüstenrennmäusen zu tun?“ Dass sich mir einmal diese Frage stellen würde, war im Jahr 2000 noch nicht klar, als ich mit der Arbeit an meinem Film Das Netz begann. Zunächst wollte ich den Affären nachspüren, die moderne Kunst mit Computern und neuen Technologien in den 1960er Jahren eingegangen waren. Begriffe wie Loop, Feedbackschleife, System, Simulation oder Kommunikation verwendeten ja nicht nur Kybernetiker und Systemtheoretiker, sondern gehörten auch zum Programm einer in diesen Jahren revoltierenden Avantgarde die alle Grenzen zwischen Kunst und Leben auflösen wollte: CHANGE NOW!

Ausstellung "Re-Reeducation", Berlin 2007, c Lutz Dammbeck/Foto: Bertram Kober

Pop- und Op-Art, Mixed Media, Happenings, Künstler wie John Cage, Nam June Paik oder Andy Warhol, Bands wie Grateful Dead und Velvet Underground - das war ein Cocktail aus Revolte, Rock und Pop, der mich faszinierte. Die Botschaft war: alles ist möglich, Realität ist beliebig veränderbar. Du bist, was du sein willst!

Bei näherer Betrachtung schien mir dieser Mix aber nur Teil eines viel komplexeren „Meta-Systems“ zu sein, das zwar Kunst und Computer mit einschloss, aber noch viel mehr umfasste.

Zunächst war ich von einer zumindest gleichberechtigten Rolle der Kunst im Verhältnis zur Wissenschaft und den neuen Technologien ausgegangen. Doch je länger ich recherchierte, desto blasser wurde das Bild von einer Multimedia-Moderne mit der Aura des kritischen „Anderen“. Mir schien, dass diese Kunst nicht Störgeräusch, sondern eher Systemverstärker gewesen war, und das lange bevor „aus der Gegenkultur die Kultur wurde“, wie es Stewart Brand in „Das Netz“ formulierte.

So begann ich mich mehr und mehr für die Vordenker und Konstrukteure dieses wissenschaftlich-technisch basierten „Meta-Systems“ zu interessieren - und für deren Auftraggeber. Meine Recherche führte mich so zu den Anfängen der Kybernetik, der Systemtheorie, der Bionik, des parallelen Rechnens, der künstlichen Intelligenz, dem Bau von Computern und dem Konstruktivismus als Denktradition.

Bald stieß ich auch auf die legendären Macy-Konferenzen, auf denen zwischen 1946 und 1953 Elitewissenschaftler, Science-Manager und Beamte verschiedener amerikanischer Behörden (gelegentlich auch der CIA) teilnahmen, und die Grundrisse für eine symbolische Welt als „offenes System“ entwickelten. Im Rückblick erscheinen die Macy-Konferenzen als der Ort, wo "ein Theorie-Werden im Vollzug beobachtet werden konnte".

Teilnehmer der Macykonferenz. Bild: Aus dem Film "Das Netz"

Die drei entscheidenden Bausteine für dieses Theorie-Werden stammten allesamt aus den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts: Warren McCullochs A Logical Calculus of the Ideas Immanent in Nervous Activity, Norbert Wieners Behavior, Purpose, and Teleology und Claude Shannons Mathematical Theory of Communication. Sie lieferten die theoretischen Anstöße, aus denen die Teilnehmer der Macy-Konferenzen eine universale Theorie der Regulation, Steuerung und Kontrolle zu entwickeln suchten. Diese Theorie beanspruchte, für Lebewesen ebenso wie für Maschinen, für ökonomische wie für psychische Prozesse und für soziologische ebenso wie für ästhetische Phänomene zu gelten.

Der Mensch erschien nun als ein besonderer Fall der Informationsmaschine, und die Informationsmaschine als ein besonderer Fall des Menschen. Mit Hilfe der von Norbert Wiener entwickelten Kybernetik setzte sich eine neue Denkweise durch, die eng mit der Entwicklung von Waffenlenk- und -kontrollsystemen einherging, wobei sich die Unterschiede zwischen Belebtem und Unbelebtem - zwischen Tier, Mensch und Maschine - verwischten.

Utopien von einer „Weltheilung“ durch neue Technologien und Wissenschaft

Mich interessierte an den Macy-Konferenzen aber nicht nur der interdisziplinäre Ansatz im Geist des Wiener Kreises, sondern auch die Tatsache, dass zahlreiche Teilnehmer der Konferenzen schon wenig später wichtige Schlüsselpositionen bei der Entwicklung von Computern, beim Bau von Waffen, in der Verhaltensforschung oder in der Soziologie besetzten: Jerome Wiesner als Direktor des M.I.T. und Mitbegründer des Center for Advanced Visual Studies, J. C. R. Licklider in der ARPA und am M.I.T., John von Neumann beim Manhattan-Projekt, der Gestalt- und Sozialpsychologe Kurt Lewin bei der Entwicklung neuer Modelle von »Führung als Gestaltung komplexer Systeme« oder der Soziologe Paul Lazarsfeldt in der angewandten Sozialforschung.

Spannend fand ich aber nicht nur die zu Fragen der Kybernetik abgehaltenen ersten Konferenzen, sondern auch die späteren Treffen, die sich dem Einsatz der Psychiatrie oder der Wirkung von LSD und Psychopharmaka im Zeichen einer Doktrin des "Mental Health Movement" widmeten, mit dem Ziel der Heilung einer durch Faschismus und Totalitarismus „kranken“ Welt. Damit einher ging die dynamische Suche nach einem immerwährenden Zustand von Harmonie - und einer neuen Ordnung für diese Welt.

Von Margaret Mead und Larry Frank, zwei der Säulen der Macy-Konferenzen, ist durch Steve Josuah Heims in seinem Buch „CONSTRUCTING A SOCIAL SCIENCE FOR POSTWAR AMERICA. THE CYBERNETICS GROUP“ im Zusammenhang mit einer 1947 in London abgehaltenen Konferenz zum Thema „Weltgesundheit“ folgendes Zitat überliefert:

Das Ziel von geistiger und seelischer Gesundheit erweitert sich, von der Vorsorge für die Entwicklung von gesunden Persönlichkeiten hin zu den größeren Zielen von einer gesunden Gesellschaft. Das Konzept von geistiger Gesundheit steht im engen Zusammenhang mit einer neuen Weltordnung und Weltgesellschaft.

Unstrittig unter den Teilnehmern der Konferenzen war, dass die USA das Modell dieser neuen Weltordnung und Weltgesellschaft sein sollten: Das kommende Jahrhundert würde das einer "Pax Americana" sein, einer "One World" unter Führung der USA.

Geboren waren diese Utopien von einer „Weltheilung“ durch neue Technologien und Wissenschaft auch aus der tiefsitzenden und existienziellen Angst einiger Teilnehmer der Konferenzen und ihres Umfelds.

Zum einen verursacht durch die Konstellationen des Kalten Kriegs, zum anderen war es auch die Angst der Emigranten vor der Vernichtung durch Lager und Gaskammern auf Grund der Zugehörigkeit zu einer Rasse: zur jüdischen Rasse.

Die Ursachen dafür suchten sie nun sowohl im repressiven Charakter wie in autoritären und rassistischen Strukturen, die durch Erziehung und Tradition verursacht und begünstigt wurden. Erscheinungen und Begriffe wie Familie, Nationalismus, Religion und Mythos schienen unauflöslich verbunden mit Faschismus und Rassismus in einer Angst machenden Synthese und fest verknüpft mit der metaphysischen Vorstellung von einer „übernatürlich geschaffenen Natur“. Diese Natur erschien so betrachtet gefährlich und verdächtig, ebenso wie Schönheit und Harmonie, Träger dunkler und irrationaler Mächte zu sein. Statt dessen sollte es nun eine neue Natur geben: von Menschen gemacht, programmiert und kontrollierbar - eine neue Evolution.

Dafür schien es allerdings notwendig, die Natur des Menschen und dessen kulturelle Muster so zu verändern, dass die Welt in eine postnationale und multi-ethnische Weltgesellschaft ohne festgeschriebene Grenzen verwandelt werden konnte. Das hieß: Aufbrechen alles "Homogenen" und Verflüssigen aller "festen" Werte und Konsistenzen, und auch das Auflösen nur einer Perspektive auf die Wirklichkeit in eine Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven.

Die erforderlichen Werkzeuge und Baupläne für diese neue Weltordnung glaubte die „Macy-Gruppe“ anbieten zu können: neue und schnellere Rechenmaschinen, Systemtheorie und kybernetische Modellwelten, mit denen alle Bereiche von Wissenschaft, Kultur und Politik kontrollier- und steuerbar erschienen. Das versprach auch die Programmierung neuer Menschen - anti-autoritärer Menschen nach Maß.

Diese wohlbegründete Angst vor einem ideologisch geprägten Totalitarismus gepaart mit der Suche nach einem geeigneten „Gegengift“ fand allerdings auch nach dem Sieg über den Faschismus und der sich daran anschließenden Phase einer „Reeducation“ im Kalten Krieg schnell wieder neue Nahrung.

Krieg um das Unterbewusste

Vom 3. bis zum 5.Februar 1949 fand in Budapest vor einem Volksgericht der Schauprozess gegen den damaligen Primas von Ungarn, József Kardinal Mindszenty, statt. Ihm wurde Spionage für imperialistische Mächte und die Planung eines Komplotts gegen die ungarische Volksrepublik vorgeworfen. Nach seinen eigenen Angaben wurde er wochenlang gefoltert und durch Verabreichung von Drogen dazu gebracht, Schuldgeständnisse zu unterschreiben. Für die amerikanischen Prozessbeobachter schien klar, dass dabei mit russischer Unterstützung „Gehirnwäsche“ angewendet worden war.

Wenig später, von Juni 1950 bis Juli 1953, fand der Koreakrieg statt, in dem auch amerikanische Soldaten eingesetzt wurden. Einige wurden Gefangene der nordkoreanisch-chinesischen Truppen und gaben nach ihrer Rückkehr „pro-kommunistische“ Statements ab. Die amerikanischen Behörden und Medien führten das vor allem auf den Einsatz von „Gehirnwäsche“ und „Wahrheitsdrogen“ durch die chinesischen Kommunisten sowie auf den Einsatz von Konditionierungs-Methoden des russischen Nobelpreisträgers Iwan Pawlow zurück, und bezeichneten das - ihnen anders nicht erklärbare - Phänomen als „Mindszenty-Effekt“.

Eine Ideologie wie die des Kommunismus, die über Techniken verfügte, die das Bewusstsein verändern konnten, erschien nun als Fortsetzung der Bedrohung durch den Faschismus im kurz zuvor beendeten zweiten Weltkrieg.

Die Vorgänge in Budapest und Korea wurden von amerikanischen Politikern und Militärs mit Unterstützung der Medien nun genutzt, um einen „Krieg um das Unterbewusste“ auszurufen. Die schon während des Zweiten Weltkriegs durch den OSS (Office of Strategic Services, einem Vorläufer der CIA) begonnenen Forschungen im Bereich psychologische Kriegsführung und Bewusstseinskontrolle wurden dafür intensiviert. Dazu diente auch ein weit verzweigtes Netz von staatlichen, halbstaatlichen und privaten Institutionen und Organisationen, durch das die Gelder von Regierung, Militär und Geheimdiensten flossen und verteilt wurden.

In einer Rede vor der National Alumni Conference an der Princeton University am 10. April 1953 gab der neuberufene CIA-Direktor Allen Dulles unter dem Eindruck der Ereignisse des Korea-Krieges seinem Publikum einen Vortrag darüber, „wie finster der Kampf der Sowjets um den Verstand des Menschen geworden ist“. „Der menschliche Verstand“, so warnte Dulles, sei ein „geschmeidiges Werkzeug“, und die Kommunisten hätten insgeheim „Gehirnpervertierungstechniken“ entwickelt:

Die Leute, die einer derartigen Behandlung ausgesetzt wurden, sind der Fähigkeit, Aussagen über ihre eigenen Gedanken zu machen, beraubt. Wie Papageien können jene Individuen nur noch Gedanken wiederholen, die in ihre Gehirne von außerhalb durch Suggestionen eingepflanzt wurden. Die Auswirkung ist, dass das Gehirn zu einem Plattenspieler wird, der eine Platte spielt, die von außerhalb, von einem fremden Genius, über den er keine Kontrolle hat, aufgelegt wird...

Allan Dulles

Drei Tage nach dieser Ansprache genehmigte Dulles die Operation MK-ULTRA, das große Drogen- und Bewusstseins-Kontrollprogramm der USA während des Kalten Krieges, das von 1953 bis 1964 durchgeführt wurde. Für MKULTA-Projekte arbeiteten 185 „regierungsunabhängige“ Forscher und Assistenten, 80 Institutionen, davon 44 Universitäten, 15 private Stiftungen die im allgemeinen wissenschaftliche Forschungen unterstützten und Chemische und Pharmazeutische Firmen, 12 Krankenhäuser und Kliniken, und 3 Strafvollzugsanstalten.

In dem von Dulles am 16.April 1953 in der New York Times ausgerufenen „Warfare for the Brain“ wurden aber nicht nur Verhaltensforscher, Psychologen, Kybernetiker, Waffenhersteller oder Ingenieure als „Schock-Troops“ mobilisiert, sondern auch Künstler.

LSD-Versuche in den 60er Jahren. Bild aus dem Film "Das Netz"

Kultur und Kunst als Propagandawaffen

1950 besuchte der britische Premier Winston Churchill Boston und das M.I.T. Während seines Besuchs kam es zu heftigen Diskussionen über die Frage: „Erziehen wir etwa unsere Ingenieure zu Kommunisten?“, als man feststellte, dass das Curriculum für Ingenieure in den USA und der UdSSR gleich ist. Das M.I.T. dürfe aber keine wertfreie Technikmaschine sein, und „westliche Werte“ müssten die Differenz zum „unfreien Osten“ ausmachen. Diese gelte es nun zu entwickeln, vor allem und auch mit Hilfe von Kultur und Kunst.

Bald nach Churchills Besuch kommt es zur Gründung der „School of Humanities and Social Studies“ am M.I.T., die später in „School of Humanities, Social Studies and Arts“ umbenannt wurde. So sollte die Ausbildung von Ingenieuren und Wissenschaftlern durch Kultur ergänzt werden. Um Techniker, Wissenschaftler und Künstler enger zusammen zu bringen und vor allem letzteren den Zugang zu den bisher „geheimen“ technischen Geräten und neuen Technologien zu ermöglichen, entstanden in den 1960er Jahren darüber hinaus eine Reihe von Projekten, die zum Teil von staatlichen Institutionen, zum Teil von privaten Stiftungen (Ford, Rockefeller) finanziert wurden. Sie waren Bestandteil einer Initiative „Art & Technology“, die letztlich und endlich Teil einer „Pax Americana Technocratica“ war.

EAT (Experiments in Art and Technology), 1966 von dem Ingenieur Billy Klüver (Bell Lab) gegründet, um Techniker und Künstler zusammenzubringen. Beteiligte Künstler waren u.a. Andy Warhol, Robert Rauschenberg, John Cage oder Jasper Johns

Ein Vorbild und Muster für diese Initiative war Ende der 1940er Jahre entwickelt worden, als die „neue Malerei“ (action painting) ein Bild des „neuen Amerika“ geben sollte: kraftvoll, international, und besessen von der kommunistischen Gefahr. Der neue Liberalismus identifizierte sich mit dieser Malerei, weil sie die Merkmale der internationalen modernen Kunst verkörperte: Individualismus, Risikobereitschaft und Freiheit des Ausdrucks. Das Risiko erschien als notwendige Bedingung für Freiheit und als das Erkennungszeichen einer freien Gesellschaft – dem Gegenbild zum autoritären und totalitären Menschen des alten Europa, speziell in Deutschland.

Nach 1951 wurde der Einsatz von Kultur als Propagandawaffe offen und aggressiv, und lief im Kalten Krieg auf Hochtouren. Auch Künstler wurden Teil der „Stoßtrupps“ in einem von Präsident Dwight D. Eisenhower so benannten „psychologischen Krieg". 1958 konnte so das 11 Jahre zuvor in Washington gegründete Institute of Contemporary Arts mit Hilfe einer großen Summe von der Ford-Foundation sein internationales Programm ausweiten, und auch das MOMA (Museum of Modern Art in NY) wurde in Regierungsprogramme zur (psychologisch-) kulturellen Kriegsführung eingebunden.

So unterstützten auch konservative Politiker und politische Falken wie etwa Dean Rusk, der während des Vietnam-Kriegs vom Board of Trusties der Rockefeller Foundation in das Kriegskabinett der Johnson-Regierung wechselte, neue Formen moderner Kunst. Auch mit deren Unterstützung wurden nun dem „abstrakten Expressionismus“ nachfolgende Kunstformen wie „Intermedia“ und „Multimedia“ als Teil eines „american way of life“ nach Europa re-exportiert. Diese später auch digitalen Varianten von Dada, Surrealismus und Collage stellten in außerordentlicher Art und Weise alle Formen von Kanon und Normen in Frage, und setzten dagegen Fragilität, das Flüchtige, „die Angst des Augenblicks“ und Transitorisches. Mit ihrem Verzicht auf ein abgeschlossenes Werk strebten sie sowohl nach der Auflösung des statischen Werkbegriffs, der Rolle des Autors, wie der Bindung an Raum, Zeit und Identität.

Dafür adaptierten sie Rollenmodelle der vorangegangenen technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen in den Kriegs- und Nachkriegslaboren der USA, wie z.B. dem Lincoln Lab oder der Stanford Universität, wo die Modelle für den Interaktivitätsbegriff entwickelt wurden, den später die Medienkunst der 1990er Jahre adaptierte.

1967 wird am M.I.T. das Center for Advanced Visual Studies mit einem „graduate program for art“ gegründet, um eine Brücke zwischen Bildender Kunst und den Naturwissenschaften zu schlagen. Leiter wird der ehemalige Assistent von Moholy-Nagy am Bauhaus Dessau, Gyorgy Kepés, der vorher „Licht“ am Department für Architektur am M.I.T. gelehrt hatte. Die von ihm berufenen Dozenten waren u.a. der Filmemacher Richard Leacock, der junge Architekt Nicolas Negroponte und der deutsche Künstler Otto Piene, Mitglied der Zero-Gruppe.

Studenten und Dozenten erhielten nun Gelegenheit, als „Artist in Residence“ oder als „Fellow for Art and Technology“ modernste Technologien kennenzulernen und experimentell zu nutzen. Die Devise war, zumindest bis zu Beginn des Kriegs in Vietnam, „...nichts, auch nicht das Verrückteste, den Russen zu überlassen“, so der damals für Video- und Medienkunst bei der Rockefeller-Stiftung zuständige Kurator Howard Klein.

Wie das 1967 von dem Ingenieur der Firma Bell, Billy Klüver, zusammen mit Robert Rauschenberg gegründete „Experiments in Art and Technology“ (E.A.T.) waren etwa die Bostoner Experimental-Fernsehsender WNET und WGBH, das „Center for Advanced Visual Studies“ am M.I.T., oder die Howard Wise Gallery in New York (aus der später das Electronic Arts Intermix hervorging), nicht nur Wegbereiter für die Konzept- und Medienkunst der 1990er Jahre, sondern darüber hinaus auch für heutige kommerzielle Formen „interaktiver“ Medien wie z.B. „Triple Play“, wo Fernsehen, Internet und Telefon auf einer Plattform vereint sind.

Eine wichtige Auswirkung dieser Experimente sei aber nicht vergessen: Sie dienten auch dazu, die neuen Technologien im Alltagsbewusstsein eines breiten Publikums zu verankern. Kunst war dabei Cheerleader wie Gleit- und Schmiermittel, um den zunächst militärisch konnotierten Maschinen- und Maschinensystemen eine nicht-militärische Aura zu verschaffen, ganz im Sinne des Bonmots von Buckminster Fuller: „Die Rakete von heute ist die Waschmaschine von morgen.“

Die in vielen Hinsichten bahnbrechende Ausstellung "Software"

Eine wesentliche Rolle in diesem Kontext spielte die Ausstellung „SOFTWARE. Information technology: its new meaning for art“, die 1970 im Jewish Museum New York und 1971 im Smithsonian Institut stattfand. Kurator war der Künstler und Autor Jack Burnham, teilnehmende Künstler waren u.a. Vito Acconi, David Antin, John Baldessari, das Giorno Poetry System, Hans Haacke, Allan Kaprow, Josef Kosuth, Nam June Paik – aber auch Wissenschaftler wie John Negroponte vom MIT, Ted Nelson oder der Mathematiker Jack Nolan.

Die Ausstellung SOFTWARE kann als Schnittpunkt betrachtet werden, an dem die Anstrengungen zur Erforschung des kreativen Potentials der Informationstechnologie und Formen der Konzeptkunst zusammenflossen. Sie war so wichtiges Ereignis in der noch jungen Geschichte einer Kunst, die in der Vorstellung ihrer Protagonisten und deren Sponsoren künftig von „Software“ und dem „Code“ bestimmt sein würde.

Die Besucher der Ausstellung sollten mit verschiedenen technischen Objekten interagieren, ohne diese zwangsläufig als Kunstwerke zu betrachten. Die Ausstellung sollte so zur Durchsetzung des systemischen und kybernetischen Denkens beitragen, dass sich die Welt als ein Über-System aus vielen kleinen miteinander interagierenden Sub-Systemen vorstellte.

Auch Kunst erschien nun als Informationssystem, und Mitspieler bei der Entwicklung von Methoden der Modellbildung und von Konzepten für die statistische Beschreibung von kulturellem und sozialem Verhalten auf der visuellen Ebene. Begriffe wie Virtualität, Networking, Simulation, Beschleunigung und die Kompression von Raum und Zeit versprachen einen Zustand, wo die Sprache zirkulär wird, aus Wahrheit Wahrscheinlichkeit wird, und die Realität zur Konstruktion.

Aufmerksamkeit und Interesse zog die Ausstellung auch dadurch auf sich, weil zur gleichen Zeit die Vernetzung von Mensch und Computer über benutzerfreundliche Interfaces eines der grundlegenden Ziele sowohl der militärischen und wissenschaftlichen Forschung, wie der digitalen Kultur allgemein war. So sah Jack Burnham sein Ausstellungskonzept als Teil der Vorstellung von einer Mensch-Maschine-Symbiose, deren ersten Realisierungen in Form von Computern und ersten Computernetzen bisher allerdings vorwiegend im militärischen Bereich stattgefunden hatten.

Auch für die Neubestimmung des ästhetischen Bewusstseins, das künftig von kybernetischen und systemtheoretischen Modellen, von Cognitive Science und sich selbst organisierenden intelligenten Systemen bestimmt sein würde, schienen nun Computer unentbehrlich.

Die Ausstellung war aber auch Avantgarde und Vorreiter für etwas heute sehr Gebräuchliches: die enge Verbindung von Kunst, Firmen-Sponsoring, Werbung und Public Relations. Der Sponsor der Ausstellung war die Firma American Motors Corporation, den Verkauf des Konzepts und der Ziele der Ausstellung hatte die Public-Relations Agentur Ruder Finn Arts & Communications Counselors übernommen, eine der ältesten und größten PR- und Marketing-Agenturen der Welt, die sich seit ihrer Gründung 1948 u.a. auf Marketing und Sponsoring bildender und darstellender Künste spezialisiert hatte. Der Gründer David Finn war selber Bildhauer und holte sich Mitarbeiter auch aus dem Kunstbereich, etwa von der American Federation of Arts.

R & F beriet aber nicht nur Unternehmen und kulturelle Institutionen, sondern auch Regierungsbehörden und Stiftungen in Fragen strategischer Kommunikationsbe-ratung, Markenbildung, Imagebildung und Positionierung bei der strategischen Planung und Krisenkommunikation. Konsequenterweise erweiterte R & F Ende der 1980er Jahre das Geschäftsfeld und bot nun auch Regierungen Strategien für den besseren „Verkauf“ der Ware Politik an. Während des Balkan-Kriegs 1992 gelang es R & Finn mit einer Kampagne für die Regierung Kroatiens „…in der öffentlichen Meinung auf einen Schlag die Serben mit den Nazis gleichzusetzen“. Der von R&F kreierte Vergleich der serbischen Kriegsführung mit der nationalsozialistischen Judenvernichtung fand 1999 sogar durch Rudolf Scharping seinen Weg bis in den Deutschen Bundestag.

SEEK: kybernetisches Weltmodell und behavioristisches Experimentallabor

Eine der Hauptattraktionen der Ausstellung aber war die Installation „SEEK“, die am M.I.T. von Studenten der Maschinenarchitektur-Gruppe unter der Leitung von Nicholas Negroponte entwickelt und gebaut wurde. Die Gruppe gehörte zum „Labor für Urbane Systeme“ und wurde u.a. von der Ford-Stiftung gefördert.

SEEK war eine Maschine, die sowohl als „kybernetisches Weltmodell“ wie als „behavioristisches Beobachtungs- und Experimentallabor“ konzipiert war. SEEK wurde von einem kleinen Allzweckrechner gesteuert, und im Gegensatz zu einem einfachen Ein-/Ausgabe-Peripheriegerät war Seek ein Mechanismus, der die physische Umgebung erfühlen, sie beeinflussen und darüber hinaus versuchen sollte, mit unerwarteten lokalen Ereignissen in seiner Umgebung zurechtzukommen.

Installation SEEK von Nicholas Negroponte und der Architecture Machine Group am MIT, 1969–70, in der Ausstellung “Software”, Jewish Museum, New York, 1970

Ein computergesteuerter Roboterarm war der Herr über eine kleine Stadt aus Würfeln, die in einem bestimmten Grundriss angeordnet waren, der im Rechner von SEEK gespeichert war. Die Würfel bildeten gleichzeitig das Aktionsfeld und den Lebensraum einer kleinen Gruppe von mongolischen Wüstenrennmäusen. Die Tiere stießen gegen die Würfel, zerstörten deren Aufbau und Konstruktion und brachten die Würfeltürme zum Einsturz. Das Ergebnis war ein beträchtlicher Unterschied zwischen der dreidimensionalen Wirklichkeit und dem gespeicherten Grundriss in Seeks Steuercomputer. Seeks Aufgabe war es nun, diese Abweichungen zu analysieren, und daraus Muster für die Vorhersage des Verhaltens der Mäuse zu entwickeln.

Die Maschine war lustig und unheimlich zugleich, war sie doch spielerisch-künstlerische Simulation eines Zukunftsmodells, dessen Realisierung sich schon am Horizont erahnen liess. Der Kurator Jack Burnham formulierte das im Interview für den Film „Das Netz“ wie folgt:

Es war irgendwie wie H.G. Wells, es war irgendwie futuristisch...sie wissen schon, man stellte sich vor, dass sowas in Zukunft vielleicht passieren könnte. Und zwar mit Menschen, nicht mit Ratten.

Einer der teilnehmenden Künstler, der Deutsche Hans Haacke, drückte das unbestimmte Gefühl und das Unbehagen einiger an der Ausstellung teilnehmender Künstler über die Vermengung von Kunst, mächtigen staatstragenden Institutionen und Public Relation so aus:

...man ließ sich möglicherweise auf etwas ein, worüber man die Kontrolle verlor und wo vielleicht auch der eigene Name für etwas verwendet wurde, mit dem man entweder nicht einig war, oder dessen Tragweite man nicht übersehen konnte.

Das provoziert ein schönes und böses Bild: Der kritische Künstler als Labormaus im Laufrad des Systems, im Glauben dieses mit systemtheoretischem Besteck nicht nur zu analysieren, sondern gar verändern zu können. Dabei blind für die Tatsache, als unfreiwilliger Agent zur Perfektionierung eben dieses Systems beizutragen.

Ausstellung "Re-Reeducation", Berlin 2007, c Lutz Dammbeck/Foto: Bertram Kober

Ich habe nun mit einer Gruppe von Technikern, Programmierern und einem Verhaltensbiologen SEEK nachgebaut, und ein Replikat erstellt, das in der Ausstellung „Re-Reeducation“ im Frühjahr diesen Jahres in Berlin ausgestellt wurde.

Man könnte fragen, warum?

Die Gründe dafür waren vielfältig. Zum einen war es die Lust an der Verdinglichung und Veranschaulichung von Ideen und Visionen, die sich im Falle von Kybernetik und anderer Philosophien nur durch Mathematik und mittels Zahlen und Berechnungen darstellen lassen – denn in der Kybernetik oder Cognitive Science gibt es meines Wissens keine veranschaulichenden Präparate mehr, sondern nur auf Zahlen basierende abstrakte Visualisierungen. Zum anderen war es die Neugier, eine Versuchsanordnung nach über 35 Jahren mit ganz anderen Informationen und Perspektiven auf das technische und biologische Versuchsmaterial zu wiederholen, und damit die Verlaufsform eines avantgardistischen und utopischen Kunstkonzepts zu dokumentieren.

Das System der Mäuse

Den Ausschlag, mit der doch umfangreichen Rekonstruktion zu beginnen, gab allerdings die persönliche Begegnung mit zwei Wüstenrennmäusen, die ich mir bei ersten Recherchen in einer Altonaer Tierhandlung angeschaut hatte. Mir gefielen die Tiere, und so fuhr ich nach mehreren Kontaktversuchen zu Forschungsinstituten, die mit diesen Tieren wissenschaftlich arbeiteten, nach Halle ins Institut für Biologie und Zoologie, wo ich mit dem Verhaltensbiologen Dr. René Weinandy einen interessierten Fachberater und Unterstützer für mein Vorhaben fand. Ich hatte das Glück, dass er „nur“ in der Grundlagenforschung tätig war, und nicht in der Anwendungsforschung – denn dann hätte ich wohl kaum Zutritt zum Keller des Instituts erhalten, wo Versuchstiere für verschiedene Versuche und Experimente bereitgehalten werden.

Diese mongolischen Wüstenrennmäuse, auf englisch Gerbils, sind der Wissenschaft erst seit etwa 140 Jahren bekannt.1867 entdeckte und fing der französische Pater Abbé Armand David drei Exemplare einer bis dahin unbekannten Art von „gelben Ratten mit langen behaarten Schwänzen“. Er sandte diese Tiere an Monsieur Milne Edwards, welcher als Direktor am Naturkundemuseum in Paris tätig war. Der gab den Tieren den Namen Meriones unguiculatus (Krieger mit Krallen). 1935 fing ein Forscher im Amur-Flusstal auf der Grenze zwischen Mandschurei, Mongolei und der Sowjetunion 20 Paare der Mongolischen Wüstenrennmaus und brachte diese Tiere nach Japan in das Kitasato-Institut. 1949 wurde im „Zentrallabor für Versuchstiere“ in Tokio eine weitere Kolonie gegründet.

Aus dieser Zucht wurden 1954 elf Paare in die USA verkauft, wo in der Tumblebrook-Farm mit fünf Weibchen und vier Männchen die Zucht gelang. Diese Tiere bildeten den Grundstock der Kolonie, von der alle mongolischen Wüstenrennmäuse der Tumblebrook-Farm abstammen. Von dort gelangten sie an viele Forschungsinstitute, Universitäten und pharmazeutische Industrien sowohl in den USA als auch später in Europa. Auch Nicholas Negroponte vom M.I.T. bezog die Gerbils für die Ausstellung „SOFTWARE“ aus der Tumblebrook-Farm. Somit wären, über mehrere Generationen hinweg, die Gerbils für SEEK mit denen in meiner Ausstellung „Re-Reeducation“ verwandt.

Je intensiver ich mich während der Ausstellungsvorbereitungen mit den Tieren beschäftigte, desto komplexer und kunstvoller erschien mir das System dieser Mäuse, und desto fragwürdiger erschienen mir sowohl die Ziele der Versuchsanordnung von Nicholas Negroponte in der SOFTWARE-Ausstellung, wie auch das seinerzeitige Desinteresse an den Tieren und die ausschließliche Fokussierung auf Soft- und Hardware, die zum Tod zahlreicher Tiere in der Ausstellungszeit führte.

Schon nach kurzer Beschäftigung mit den Mäusen schien mir klar, dass jedem, der sich mit den Tieren beschäftigte, auffallen müsste, dass das System der Mäuse viel durchdachter und intelligenter war, als es ein Rechner oder ein System von miteinander vernetzten Rechnern je sein könnte. Und eine Frage drängte sich mir erneut auf, über die ich schon während der Arbeit am Film "Das Netz" nachgedacht hatte, und auf die ich keine befriedigende Antwort gefunden hatte: Was war die Triebfeder für Wünsche, eine künstliche Natur, eine künstliche Intelligenz zu konstruieren, und was war es, das zu solcher Hybris anstachelte?

Das System der Mäuse hat mich, und das klingt vielleicht ein bisschen pathetisch, erneut auf den nötigen Respekt vor der Natur und der Schöpfung hingewiesen, und verweist die eingangs beschriebenen Visionen und Träume der "cybernetics group", Pavlows oder der Konstruktivisten von der Erschaffung einer neuen und künstlichen Natur von Menschenhand ins Reich der von Anmaßung inspirierten Träume, oder besser: ins Reich der Alpträume.

Diese mögen zwar theoretisch (und vielleicht auch künstlerisch) faszinierende Visionen sein, in ihrer bisher realisierten Erscheinungsform sind es aber leider nur ganz triviale und sich weltweit ausdehnende Handelsnetze, für die Wissenschaft und Technologie die Modelle der Regeln und Normen liefert, die der "flow" in diesen Netzen benötigt. Alles, was ihn behindert, wird als Irregularität und Systemstörung behandelt. "Formatieren" und "Ruhigstellen" sind deshalb Aufgaben, für die von der Psychologie, der Psychiatrie, der Verhaltensforschung und zunehmend von der Entertaínment- und Medienindustrie effektive und praktikable Lösungen erwartet werden. Versuche mit Mäusen und Ratten sind dafür nötig, auch gesetzlich vorgeschrieben – die Ergebnisse werden allerdings auch auf uns Menschen angewandt.

So führt für mich ein nicht nur diagrammatisch nachvollziehbarer Weg von Norbert Wieners "Cybernetics" hin zu Konzepten für "Worldwide Mental Health", der Politik des "Containment" oder des "Electronic Battlefield" im Vietnamkrieg, zur US-Strategie des "Grand Chessboard" und George Bushs "Neuer Weltordnung" bis hin zu einer "Consumer-Mäuse-Demokratie" in Gegenwart und Zukunft.

Der Einzelne fungiert hier nur noch als "Information" oder "Datenkörper" in einer unendlichen kybernetischen Feedbackschleife, der modernsten und bislang effektivsten Form des Lagers - in einer digitalen Diktatur.

Diese Diktatur ist eine „WELT IN HÖCHSTER AUFLÖSUNG“, wie es sehr schön und zweideutig kürzlich in der Überschrift eines Berichts von einer großen Fernseh- und Elektronikmesse hieß. Systemtheorie, Kybernetik oder Cognitive Science, Biogenetik oder die Hirn- und Verhaltensforschung sind nun nicht mehr exotische Forschungsbereiche in der Experimentierphase, sondern in Anwendungen erprobte Werkzeuge, um diesen Prozess der Auflösung voranzutreiben. Sprache ist nun wirklich zirkulär, Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit geworden, Realität zur Konstruktion, und Menschen mehr und mehr in Interaktion mit Maschinen.

Diktatur des Digitalen

Den Ankündigungen für dieses Symposium wurde ein kurzer Text vorangestellt, in dem es hieß:

Unsere Anrufung gilt dem Konstruktivismus der russischen Avantgarde. Er betritt die Gegenwart als Wiedergänger, als Untoter...

Das ist sicher lieb gemeint, und ich verstehe es als Suche nach einer Alternative, einer integren Plattform, von der aus Kritik am Bestehenden möglich ist. Aber die Anrufung des Konstruktivismus ist naiv. Der Konstruktivismus, sei es nun der russische oder der von Heinz von Foerster, Maturana, von Glasersfeld, Varela oder von Watzlawick ist nicht die Lösung oder gar Er-lösung, sondern Teil des Problems.

Heinz von Förster erklärt die Retina des Frosches. Bild aus dem Film "Das Netz"

Das gleiche gilt auch für die auf Erlösung durch neue Technologien und eine wissenschaftliche Weltanschauung hoffenden Künstler der Nachkriegsmoderne, die sich von Konstruktivismus und Dekonstruktivismus berauschen und faszinieren ließen, um dann als deren Agenten mitverantwortlich für die Entwicklung einer zunächst alle Objektivität und Wahrheiten abstreifenden Weltsicht zu werden, die zwar e i n e Perspektive auf die Wirklichkeit in v i e l e mögliche Perspektiven aufgelöst hat, aber mittlerweile selbst zu einem Dogma geworden ist, zu einer Norm, zu einem Glaubensbekenntnis, das reale Machtsysteme und von ihr abhängige Wirtschaftsformen und politische Doktrinen, legitimiert und stützt.

Dogmen und Machtsysteme des Glaubens aber verlangen nach einer Aufklärung. Heute hieße das: nach einer Aufklärung der Aufklärung. Was geschichtlich geworden ist, und sei es eine digitale Diktatur, wird irgendwann auch wieder vergehen. Dann muss neu verhandelt werden, und es ist zu fragen, welche Rolle Kunst dabei spielen will, kann - und darf.

Denn Kunst ist heute für viele nicht mehr anders denk- und vorstellbar als ein Bestandteil des Kunstmarkts. Der Kunstmarkt ist bekanntlich Teil des internationalen Finanzmarktes und von dessen Kreisläufen. Kunst ist also Ware und Anlageobjekt wie Schrauben, Schiffe oder Grundstücke. Künstlern fällt dabei in der Regel die Rolle des kritischen Klassenkaspars oder glücklichen Hausschweins zu.

„Zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennungsstrich ziehen“, hieß das Motto des allerersten Positionspapiers der RAF. Das beinhaltete noch die romantische Vorstellung von einem „Draußen“, von dem ein „Innen“ bekämpft werden könnte, und war schon damals eine unmögliche Forderung, da der vermeintliche Feind im eigenen Innern saß. Heute ist klarer zu sehen als zu RAF-Zeiten, dass die Vorstellung eines „Draußen“, von dem aus ein „Drinnen“ verändert werden könnte, angesichts der von Kybernetik und Systemtheorie designten Muster und Strukturen naiv ist, da jeder Punkt an der Peripherie zugleich das Zentrum ist, und ein „Draußen“ nicht mehr existiert. Und wir wissen auch: Selbst der Gedanke an eine mögliche Veränderung produziert schon eine Energie, die dieses System wie jeden Angriff und jede Störung umgehend als Energiezufuhr für seine weitere Perfektionierung nutzen kann.

Demnach wäre es sinnlos, dagegen vorzugehen, weil jede Kritik dieses System ja nicht nur am Leben erhält, sonder sogar noch stärker macht. Bildlich gesprochen: Wer die Maschine anfasst, ist schon ein Teil von ihr und ihrer Codes.

Was ist nun angesichts dieser Wirklichkeiten die Aufgabe des Künstlers? Wie definiert er sich und seine Kunst im Kontext einer systemischen Diktatur, was bedeutet unter diesen Bedingungen "Kritik“ oder „kritische Kunst“?

Hieße das zum Beispiel, dass der Künstler über seine Beteiligung am Kunstmarkt nachdenkt? Denn der Markt ist ja die präziseste und genaueste Ausformung jener kapitalistischen Regularität, für deren Fortbestand die „Diktatur des Digitalen“ und all die vorab genannten Systeme und Sub-Systeme und die ihnen immanenten Werkzeuge letztlich dienen.

Heute ist diese digitale Welt oder Diktatur, wie man will, zum Schnittpunkt der verschiedenen Kunstgattungen geworden. Formatieren und passend machen gilt nicht nur im Computing, Fernsehen oder im Containerverkehr, sondern ist auch die Voraussetzung für Kunst und Künstler, um im Flow des Marktes funktionieren zu können, und Erfolg zu haben. Die Grundvoraussetzung dafür ist natürlich die Bereitschaft, am Markt teilzunehmen, wobei die Bandbreite der Formatanforderungen dann – fast - unendlich ist und bis zum Label „Marktferne“ reicht.

Und so steht plötzlich wieder eine uralte Frage im Raum: Traue ich mir als Künstler zu, die Hand zu beißen, die mich füttert? Sind Künstler in der Lage, ihre Bindung an den Markt zu kappen? Ihre Konditionierung und Zurichtung für diesen Markt in Frage zu stellen und zu verweigern? Für ein System, in dem heute junge Leute unbefangen an die Kunstakademien kommen, um diese indoktriniert wieder zu verlassen, angehalten, sich einen Platz auf diesem Markt zu suchen, wo der letzte Schrei, so kürzlich Ulf Erdmann Ziegler in der FR, "Marktferne" ist, und jede(r) Zweite unter dem Fähnchen der „Globalisierungskritik“ segelt?

Und gäbe es etwas, mit dem Künstler und ihre Kunst eine neue Bindung eingehen könnten - statt mit ihrer genormten Individualität in einem einer Feedback-Schleife gleichenden Sub-System nur um sich und umeinander zu kreisen?

Das sind natürlich „große“, auch vielleicht pathetische Fragen, die aber letztlich nicht größer, wichtiger und interessanter sind wie anscheinend kleine Fragen wie diese, ob ich eine Linie mit dem Bleistift - oder nur noch im und mit dem Rechner herstelle.

Meine Gedanken zu diesen und anderen Fragen werde ich versuchen, in „Re-Reeducation“: Lesson # 3 zu formulieren.

Lutz Dammbeck trug diesen Text auf dem Symposium "Von den Psychotechniken der Avantgarde zu Medienkunst und Neurowissenschaft im 21. Jahrhundert" im Rahmen des Medienfestivals Die Elektrifizierung der Gehirne - 90 Jahre Roter Oktober (21.9. – 3.11.) am 6. Oktober in Dresden vor. Lutz Dammbeck ist Künstler und Filmemacher, seit 1998 hat er eine Professur an der Hochschule für Bildende Künste Dresden inne und leitet die Projektklasse "Neue künstlerische Medien". 2004 entstand sein Dokumentarfilm Das Netz, für den er zahlreiche Auszeichnugen erhielt. 2005 erschien sein Buch Das Netz. Die Konstruktion des Unabombers.