Vom hinausgezögerten Erwachsensein

Die Lebensphasen verändern sich, sagt ein US-Wissenschaftler, zwischen Jugend und Erwachsensein schiebt sich die prekäre Odyssee-Phase: wechselnde Partner, keine festen Jobs, keine Kinder, keine wirtschaftliche Selbständigkeit

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Unser Leben verändert sich, sagen amerikanische Wissenschaftler. Früher soll es vier Lebensphasen gegeben, die einigermaßen klar die Biographie der Menschen gliederte. Nach der Kindheit kam die Jugend, dann wurde man erwachsen und schließlich alt. Zwischen Jugend und Alter soll nun aber einiges in Bewegung gekommen sein. Der Weg bis zum Erwachsensein werde länger – zur "Odyssee" -, die Lebensphase womöglich überhaupt ungewiss, während auch das Nichtstun im Greisenalter nach hinten verschoben werde.

William Galston von der Brookings Institution hat zumindest einen neuen Begriff für eine Lebensphase gefunden, die tatsächlich in den letzten Jahrzehnten uns Schwimmen geraten ist, nachdem die Zahl der jungen Menschen, die sich für eine lange Ausbildung entschieden haben, sich vervielfacht hat. Die an sich Erwachsenen bleiben aber aus der wirtschaftlichen Perspektive unselbständig, weil sie oft nicht ausreichend Geld für ihren Lebensunterhalt verdienen und sowohl beruflich wie familiär oder beziehungsmäßig für lange Zeit in prekären Umständen leben. Allerdings muss man sich auch fragen, ob Einkommen, das über Stipendien oder Eltern, ergänzt durch Jobs, beispielsweise für Leistungen im Studium erzielt wird, so viel unselbständiger macht als Erwerbsarbeit eines Arbeiters oder Angestellten, der ja auch "nur" ein abhängig Beschäftigter ist.

Wie auch immer, David Brooks von der New York Times hat der Begriff der Odyssee-Lebensphase gefallen, in der die jungen Menschen nicht mehr Jugendliche sind, aber auch noch nicht Erwachsene. Da sei man, weil das soziale Leben und der Arbeitsmarkt flüssiger geworden seien, auf der Wanderschaft, habe Freunde, wechselnde Partner, wechsle die Studien, lebe oft noch Zuhause, habe noch keinen klaren Weg gefunden. Es wird nicht geheiratet, man hat noch keine Kinder, vermeidet feste Anstellungen. Das sei ganz anderes als noch vor 40 Jahren. Da sei man erwachsen geworden, indem man von Zuhause weggegangen ist, finanziell unabhängig wurde, man geheiratet, Kinder gezeugt und gearbeitet hat. Den Takt vorgeben angeblich die Europäer. Die heiraten noch später, wenn überhaupt, und wechseln noch häufiger zwischen dem Arbeitsmarkt und der Ausbildung als die Menschen in den USA.

Brooks beruft sich auf eine Studie, die Galston über die "Changing Twenties" durchgeführt hat. Danach waren 1970 in den USA nur 21 Prozent der Menschen über 25 Jahre unverheitatet, 2005 waren es 60 Prozent. Die Mehrzahl der Paare leben jetzt zusammen, bevor sie heiraten – wenn sie das denn tun. Bei ihren Eltern leben nämlich noch 18 Prozent der Männer und 14 Prozent der Frauen im Alter zwischen 25 und 29 Jahren. Da erscheint nur sinnfällig – aus der alten Perspektive -, wenn ein Viertel der Menschen zwischen 26 und 35 Jahren auf die Frage, ob sie bereits erwachsen sind, unentschieden antworten.

Falls das zutrifft und verallgemeinerbar ist, wäre natürlich die Frage: Wollen die jungen Menschen nicht mehr "erwachsen" werden (so, wie man dies früher, siehe oben, verstanden hat), können sie es nicht mehr oder hat sich die Gesellschaft so verändert, dass sie schlicht neue Anforderungen stellt. Wer länger lebt, kann auch länger in die Schule gehen, länger Kinder unterhalten und später zu arbeiten aufhören? Werden die Arbeitsplätze in den Wissensgesellschaften weniger, verlangen sie mehr Ausbildung und werden immer mehr einfache Arbeiten durch Maschinen oder billige Arbeitskräfte in anderen Ländern ersetzt? Stehen die jungen Menschen unter ungleich höherem Druck als früher und haben auch größere Erwartungen? Stören frühe feste Beziehungen und Kinder die Karriere und den Lebensgenuss oder erschweren sie Karriere und berufliche Selbständigkeit? Ist der hinausgezögerte Eintritt in das "Erwachsenenleben" also Ausdruck des Erwachsenseins, kluge Anpassung an das Notwendige, oder hedonistische Verweigerung?

Nach Galston hat sich auch der Abstand zwischen den Erwachsenen und den Jugendlichen verkleinert, die Erwachsenen sind eben auch weniger erwachsen, weswegen sie auch länger sich verweigern, alt zu werden, also nicht mehr den Horizont zu haben, ihr Leben noch einmal anders zu gestalten, auf einer Odyssee zu sein. Wo die einen noch nicht ankommen wollen, versuchen die Erwachsenen den Übertritt in die Lebensphase noch zu vermeiden, in der es zu akzeptieren gilt, dass die Würfel gefallen sind. Wäre allerdings alles kein Problem, wenn die Biologie nicht dazwischen funken würde. Irgendwann ist die biologische Reproduktionsfähigkeit zumindest für Frauen zu Ende (auch wenn dann die künstliche Reproduktion Abhilfe leistet und Greise noch Kinder bekommen können), irgendwann sind auch Schönheitsoperationen nicht mehr möglich und setzt der körperliche und geistige Verfall ein (da helfen dann in aller Regel auch alle Implantate und Roboter nichts mehr). Mit der verlängerten Jugend träumt von der technisch-medizinischen Verlängerung des Lebens, die ersten Zellen, die embryonalen Stammzellen, sollen dann den biologischen Jungbrunnen bringen und Siechtum verhindern.

Europa als Avantgarde

Was auch immer gesellschaftlich sich verändert hat, so ist die lange Lebensdauer sicherlich auch ein Grund für den verzögerten oder verhinderten Eintritt ins Erwachsensein. Dazu gehört nicht nur vielleicht, eine Familie zu gründen, Einkommen zu haben und Kinder zu kriegen (immerhin ein ebenso vertrauensvolles wie furchterregendes Abenteuer der Dauer), sondern auch, dass irgendwann die Eltern nicht mehr da sein und man selbst dem Tod ausgesetzt ist. Wer mit 50 oder 60 Jahren noch Eltern hat – und das sind nicht wenige -, tut sich schwer mit dem Erwachsenwerden, weil er immer noch Kind ist und der kalte Wind aus der Zukunft noch abgeblockt wird. Und wer selbst keine Kinder hat, kann sich wahrscheinlich auch sehr viel schwieriger erwachsen fühlen, weil er nicht dazu gezwungen wird.

Nach Galston, um auf die Studie zurückzukommen, kommt in den USA die Odyssee angeblich so um die 35 Jahre zu Ende. Die Entscheidung findet also 10 Jahre später statt, auch wenn der Unterschied zwischen einem 15-Jährigen und einem 35-Jährigem sich nicht groß von der Situation vor 20 Jahren unterscheide. Nach seiner Meinung leben die Amerikaner noch ziemlich abgeschirmt: "Die Amerikaner neigen zu dem Glauben, dass wir am Rande einer sozialen Revolution stehen, aber nach europäischen Maßstäben kleben wir noch an der Vergangenheit."