Gegen kinderlose Trittbrettfahrer

Mit mehr Kindernutzen und höherer Kinderqualität müsse man nach dem Volkswirtschaftler Gunter Steinmann den Bevölkerungsschwund stoppen, vor allem gelte es auch, Frauen aus der Mittelschicht stärker zu fördern

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der Trend zur alternden und schrumpfenden Gesellschaft ist ungebrochen: 2006 wurden in Deutschland rund 672.700 Kinder geboren, wie das Statistische Bundesamt Anfang September 2007 mitteilte. Das waren noch einmal 13.100 Geburten weniger als 2005. Vorschläge, wie den Negativfolgen der demographischen Entwicklung zu begegnen sei, gibt es viele. Jetzt hat Gunter Steinmann, Professor für Volkswirtschaft in Halle-Wittenberg, in seinem Buch Kindermangel in Deutschland Lösungsansätze aus bevölkerungsökonomischer Perspektive vorgelegt. Im Interview stellt er sie vor.

Herr Prof. Steinmann, seit Jahren schon wird auf verschiedenen Ebenen das Problem des Bevölkerungsschwundes und seiner möglichen Negativfolgen erörtert und zu lösen versucht, etwa in der Soziologie, Medizin und Psychologie. Bislang allerdings bestenfalls mit minimalem Erfolg. Sie fordern nun eine neue Familienpolitik unter Berücksichtigung bevölkerungsökonomischer Aspekte. Waren die bisherigen Ansätze alle falsch?

Gunter Steinmann: Es ist richtig und auch notwendig, dass die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen sich mit der aktuellen demographischen Entwicklung und ihrer Problemstellung auseinandersetzen. Nur alle Disziplinen zusammen können die Wirklichkeit voll erfassen und abbilden. Allerdings - die bevölkerungsökonomische Perspektive ist bislang, vor allem in der Politik, weitgehend ausgeklammert oder doch zumindest vernachlässigt worden.

Familienpolitik mit demographischer Nachhaltigkeit

Vernachlässigt möglicherweise deshalb, weil die bevölkerungsökonomische Analyse einerseits mit Begriffen wie Kindernutzen und Kinderqualität oder Humankapital vielen unangemessen erscheint und andererseits auch historisch belastet ist?

Gunter Steinmann: Nun, die bevölkerungsökonomische Herangehensweise ist notwendig, da sie Ursachen und wahrscheinliche Konsequenzen einer Bevölkerungsstruktur recht präzise aufzeigt und den Blick für notwendige politische Maßnahmen schärft.

Grundsätzlich kann Familienpolitik sozialpolitisch und bevölkerungspolitisch begründet werden. Und zwar können diese Aspekte gemeinsam oder alternativ in Betracht gezogen werden. In den meisten Industrieländern spielen beide Komponenten eine mehr oder minder gleich wichtige Rolle. In einigen Ländern allerdings, etwa in Frankreich, werden vorrangig die bevölkerungspolitischen Anliegen bedient. Die deutsche Familienpolitik dagegen wurde bisher nahezu ausschließlich von sozialpolitischen Aspekten bestimmt. Was vor allem historische Ursachen hat, denn im Dritten Reich wurde die Bevölkerungspolitik für rassenpolitische und eugenische Zwecke missbraucht.

Welche Vorteile bringt eine stärker bevölkerungsökonomisch ausgerichtete Familienpolitik?

Gunter Steinmann: Wir müssen doch zur Kenntnis nehmen, wo die niedrigsten Geburtenraten anzutreffen sind. Nämlich vor allem bei gut ausgebildeten Frauen mit günstigen Beschäftigungs- und Verdienstmöglichkeiten, etwa bei Akademikerinnen. Und hier wird die sozialpolitische Komponente die Fertilitätsraten nicht erhöhen. Sie führt allenfalls zu überdurchschnittlichen Fertilitätsraten bei gering qualifizierten Frauen, besonders bei Zuwanderinnen. Daher muss sich die Familienpolitik neu orientieren, und zwar mit dem Ziel einer demographischen Nachhaltigkeit. Das neue Elterngeld ist die erste familienpolitische Maßnahme in der Bundesrepublik, die auf die Zielgruppe gut ausgebildeter Frauen besonders abstellt.

Wie definieren Sie demographische Nachhaltigkeit?

Gunter Steinmann: Ziel muss es sein, allen Bürgerinnen und Bürgern - und nicht nur den gering Qualifizierten und gering Verdienenden - die Entscheidung für Kinder zu erleichtern. Vor allem aber müssen die gut ausgebildeten Frauen erreicht werden, die in dieser Hinsicht bisher vernachlässigt wurden. Das ist umso wichtiger, da nicht nur die Kinderquantität, also die Anzahl der Kinder, erhöht, sondern auch und vor allem die so genannte Kinderqualität, also deren Erziehung und Ausbildung, verbessert werden soll. Da bei den aktuellen Maßnahmen die Abwägung zwischen Kindernutzen und Kinderkosten für die gut verdienenden Frauen der Mittelschicht ein besonders unvorteilhaftes Verhältnis ergibt, muss die Kluft zwischen der optimalen Kinderzahl der Haushalte, was als individuelle Rationalität bezeichnet wird, und der gesellschaftlich wünschenswerten Kinderzahl, also der kollektiven Rationalität, geschlossen werden.

Anders ausgedrückt: Eine rein sozialpolitisch ausgerichtete Familienpolitik strebt prinzipiell die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation von Familien an. Eine bevölkerungspolitisch ausgerichtete, nachhaltige Familienpolitik will darüber hinaus Einfluss nehmen auf die Zahl, die Erziehung und die Ausbildung der Kinder. Nehmen wir als Beispiel für eine sozialpolitische Maßnahme die Ermäßigung von Eintrittspreisen für kinderreiche Familien in Museen. So verdienstvoll und wünschenswert solche Maßnahmen auch sind, so werden sie doch kaum potentielle Eltern dazu veranlassen, ihre Lebenspläne zu revidieren und sich für mehr Kinder zu entscheiden. Dazu bedarf es anderer Grundlagen.

Welche Anreize könnten Ihrer Ansicht nach die Zielgruppe der gut ausgebildeten und gut verdienenden Frauen der Mittelschichten zur Entscheidung für mehr Kinder motivieren?

Gunter Steinmann: Dafür bedarf es mehrerer Maßnahmen, zu denen das Erziehungs- bzw. Elterngeld und das Familiensplitting - als Erzeugung eines Einkommensnutzens von Kindern - ebenso zählen wie die Rückübertragung eines Teils der Unterhaltspflichten für die älteren Menschen vom Staat auf deren Kinder, also eine Teilreprivatisierung des sozialisierten Sicherungsnutzens von Kindern. Das bisherige Kindergeld und die Anrechnung von Kindern bei der späteren Rente sind für alle gleich, und bringen nur einkommensschwachen Müttern und Familien, etwa gering Qualifizierten oder Zuwanderern, signifikante Einkommens- und Sicherungsnutzen und entsprechende pronatalistische Effekte. Dagegen erzielen gut verdienende Frauen gegenwärtig größere Vorteile, wenn sie auf Kinder, Kindergeld und Rentenentgeltpunkte verzichten und stattdessen alle Karriere- und Einkommenschancen wahrnehmen. Die Vorteile dieser Frauen durch Kindergeld und Rentenentgeltpunkte erreichen nur einen Bruchteil ihres Einkommenspotentials im Fall eines Verzichts auf Kinder. Für diese Adressatengruppe sind daher beide Maßnahmen bevölkerungspolitisch ineffizient.

Wir brauchen ein ganzes Arsenal von Maßnahmen, um den Mittelschichten eine Fülle von Anreizen zur Entscheidung für mehr Kinder zu geben. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Kombination von Elterngeld, Familiensplitting und Steuerabzug der Kinderbetreuungskosten bei gut Verdienenden, Kindergeld und Kinderbetreuungsgutscheine bei gering Verdienenden, Vorschulerziehung und Ganztagsschulen mit Hausarbeitenbetreuung, Begrenzung der Finanzierungspflicht der Eltern auf die Schulausbildung ihrer Kinder, Reprivatisierung von Teilen der Alterssicherung, also eine private Kinderrente, die gewünschten pronatalistischen Resultate hervorbringen würden.

Individuell brauchen wir heute keine eigenen Kinder als Sicherheitsgaranten, aber kollektiv schon

Wie sollte die von Ihnen geforderte teilweise Reprivatisierung der Alterssicherung, also die "kinderfreundliche" Rente, strukturiert sein?

Gunter Steinmann: Gestatten Sie eine längere Vorbemerkung, bevor ich auf Ihre Frage direkt eingehe.

In den Entwicklungsländern sichern Kinder den Lebensunterhalt ihrer Eltern im Alter, bei Krankheit und in Notfällen, d.h. sie bieten Sicherungsnutzen. Auch für unsere Vorfahren war der Sicherungsnutzen das Hauptmotiv für Kinder. Dieser Aspekt wird in der gegenwärtigen politischen Debatte weitgehend übersehen. Kaum jemand weiß, dass der Geburtenrückgang in Deutschland schon Ende des 19.Jahrhundert einsetzte und viel stärker ausfiel als beim sogenannten Pillenknick im letzten Drittel des 20.Jahrhunderts. Hatten die Frauen des Geburtsjahrgangs 1865 noch durchschnittlich 4,7 Kinder, waren es bei den Frauen des Geburtsjahrgangs 1890 nicht einmal mehr halb so viele Kinder. Der Rückgang wurde verursacht durch die Einführung des sozialen Sicherungssystems ab 1881, wodurch die Menschen keine eigenen Kinder mehr zur Sicherung im Alter und bei Krankheit benötigten.

Der enge Zusammenhang zwischen Geburtenrückgang und schwindendem Sicherungsnutzen von Kindern ist nicht auf Deutschland beschränkt, sondern ist überall auf der Welt zu beobachten, sobald die Sicherung im Alter und bei Krankheit durch soziale Sicherungssysteme und/oder durch Bildung privaten Vermögens möglich wird. Die Individuen benötigen heute für ihre Altersicherung zwar keine eigenen Kinder, aber sie brauchen auf jeden Fall Jüngere, die ihre Leistungen durch Beiträge finanzieren, etwa beim Umlagesystem, oder ihr Rentenkapital produktiv einsetzen und die Verzinsung und Tilgung zur Finanzierung der Rentenzahlungen sicherstellen, wie beim Kapitaldeckungsverfahren. Individuell brauchen wir heute also keine eigenen Kinder als Sicherheitsgaranten, aber kollektiv schon. Die kollektive Rationalität verlangt eine Entscheidung für Kinder, auch wenn die individuelle Rationalität oft eine Entscheidung gegen Kinder nahelegt. Die Anpassung der individuellen Rationalität an die kollektive Rationalität kann jedoch nur gelingen, wenn der Sicherungsnutzen teilweise wieder an das Vorhandensein eigener Kinder gebunden und das "Trittbrettfahrerverhalten" Kinderloser auf Kosten der Familien bei der Alterssicherung eingeschränkt wird.

Gesetzliche Familienversicherung gegen kinderlose Trittbrettfahrer

Wie wollen Sie dem Trittbrettfahrerverhalten begegnen?

Gunter Steinmann: Ich schlage eine Aufspaltung des bestehenden umlagefinanzierten Alterssicherungssystems in zwei Systeme vor. Ein Teil des Rentenbeitrags soll weiterhin in die gesetzliche Rentenversicherung fließen, als "allgemeiner Rentenbetrag", und eine umlagenfinanzierte, allgemeine Rente für alle Versicherten unabhängig von ihrer Kinderzahl finanzieren. Die durchschnittliche allgemeine Rente würde jedoch niedriger ausfallen, weil die bisherigen Rentenbeiträge nicht mehr vollständig in dieses Teilsystem einfließen. Der zweite Teil des Rentenbeitrags soll in eine neu zu gründende gesetzliche Familienrentenversicherung fließen und für eine zusätzliche, direkt aus den Beiträgen der eigenen Kinder finanzierte Altersrente ihrer Eltern verwendet werden, als Beitrag zur "privaten Kinderrente". Auf diesem Weg erhalten die Eltern von ihren beitragsverpflichteten Kindern eine Gegenleistung für ihre Geld- und Zeitaufwendungen in der Vergangenheit.

Bei meinem System bekommen also Rentner ohne bzw. mit weniger Kindern keine bzw. eine niedrigere private Kinderrente als Rentner mit mehr Kindern. Bei gleichem Lebenseinkommen müssen daher Kinderlose bzw. Kinderarme im Vergleich zu Kinderreichen entweder mit der niedrigen allgemeinen Rente bzw. der geringeren privaten Kinderrente vorlieb nehmen oder während ihres Erwerbslebens mehr sparen, um die gleiche Gesamtrente zu erhalten. Bei meinem Konzept werden die Pflichtbeiträge zur privaten Kinderrente in eine "gesetzlichen Familienversicherung" eingezahlt und für den Aufbau einer kapitalgedeckten Alterssicherung ihrer Eltern angespart. Sobald die Eltern das Renteneintrittsalter überschreiten und Rentenzahlungen benötigen, erhalten die Eltern Kinderrenten aus der gesetzlichen Familienversicherung. Die Einrichtung der gesetzlichen Familienpflichtversicherung garantiert, dass Kinder die Sicherungsfunktion gegenüber ihren Eltern auch erfüllen.

Die Höhe der privaten Kinderrente der Eltern ist also abhängig von der Zahl und dem Einkommen ihrer Kinder. Für diese Verknüpfung sprechen neben den pronatalistischen Anreizen zwei weitere Gründe. Erstens, weil im Regelfall hohes Einkommen an die Voraussetzung einer guten Bildung und Ausbildung geknüpft ist, und die Eltern für einen höheren Bildungs- bzw. Ausbildungsabschluss ihrer Kinder mehr Geld- und Zeitaufwendungen zu tragen haben, sollen sie auch an den Erträgen ihrer Bildungsinvestitionen in ihre Kinder partizipieren. Zweitens wächst damit auch das elterliche Interesse an einer besseren Ausbildung der Kinder. Das Modell einer privaten Kinderrente schafft also Anreize für eine höhere Zahl von Kindern, die höhere ?Kinderquantität?, und setzt darüber hinaus Anreize für eine bessere Bildung bzw. Ausbildung der Kinder, die höhere "Kinderqualität".

Aus welcher politischen Richtung erwarten Sie eine positive Resonanz?

A Ich habe meine Vorschläge auf verschiedenen Parteiveranstaltungen präsentiert. Sie wurden interessiert zur Kenntnis genommen, aber dabei blieb es. Ich hoffe, dass die Politiker sich intensiver mit dem Gedanken der Wiederherstellung des Sicherungsnutzens von Kindern befassen. Denn so notwendig und wünschenswert bessere Kinderbetreuung und bessere Vereinbarkeit von Beruf und Kind sind, beides reicht nicht aus für eine signifikante Erhöhung der Geburtenziffern, wie die Erfahrungen zeigen. Sachsen-Anhalt hat die höchste Quote der Kinderbetreuung in Deutschland, und dennoch die geringste Geburtenziffer. Deutschland und Frankreich haben nahezu die gleichen Raten der Erwerbsbeteilung von Frauen, und doch liegen die Geburtenziffern so weit auseinander.

Die Singularisierung destabilisiert die Gesellschaft

Ihr Modell einer privaten Kinderrente würde deutliche gesellschaftliche Veränderungen bewirken. Oder anders formuliert: Es erfordert eine wesentlich stärkere familiäre Bindungsbereitschaft, als es dem Zeitgeist entspricht, und läuft damit aktuellen Tendenzen zuwider. Erwarten Sie, dass sich eine solche Kehrtwendung zu einer streckenweise fast paternalistischen Sozialpolitik in absehbarer Zeit erreichen lässt?

Gunter Steinmann: Ich betrachte mein Konzept nicht als paternalistisch. Ich plädiere nur für eine Teilreprivatisierung des sozialisierten Sicherungsnutzens von Kindern und für eine Verbesserung des Status der Eltern. Darüber hinaus glaube ich, dass der Zeitgeist der Singularisierung uns nicht hilft. Die Singularisierung macht die Menschen einsam und unglücklich und destabilisiert die Gesellschaft. Ich hoffe und wünsche, besonders für unsere Kinder, dass die familiäre Bindungsbereitschaft wächst. Niemand, und schon gar nicht der Staat, kann uns in Notlagen so helfen und stützen wie die Familie.

Kritik an diesem Modell könnte lauten, dass Kinder tendenziell wieder mehr zum "Eigentum" oder zur "Verfügungsmasse" ihrer Eltern würden - mit allen Folgen, die hierzulande aus der Vergangenheit oder heutzutage aus anderen Kulturkreisen ohne modernes Rentensystem bekannt sind, etwa Einschränkungsversuche der biographischen und beruflichen Wahlfreiheit der Kinder durch die Eltern oder eine Bevorzugung von Söhnen gegenüber Töchtern. Umgekehrt begeben sich alte Menschen wieder in eine deutlich stärkere Abhängigkeit von ihren Nachkommen.

Gunter Steinmann: Wenn Sie mein Konzept mit dem Argument abqualifizieren, dass es Kinder zum Eigentum ihrer Eltern mache, dann entgegne ich auf der gleichen Argumentationslinie und bezeichne das gegenwärtige Alterssicherungssystem als ein System, das Kinder zum Eigentum der Rentenversicherung und fremder Rentner macht.

Gunter Steinmann: Kindermangel in Deutschland - Bevölkerungsökonomische Analysen und familienpolitische Lösungen. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2007. 150 S., ISBN 978-3-631-56857-6, 34.00 Euro.