Der afrikanische Patient

Weltweit hat sich der Anteil armer Menschen mit Tageseinkünften unter einem Dollar seit 1981 mehr als halbiert. Nur das kontinentale Afrika ist von diesem Trend ausgeschlossen. Warum profitiert der Erdteil nicht vom globalen Aufschwung?

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1981 war die Welt zwar nicht gerechter als heute, aber die Ungerechtigkeit war ausgeglichener: Fast 1,5 Milliarden Menschen mussten Tag für Tag mit umgerechnet weniger als einem Dollar auskommen. Das waren damals rund 40 Prozent der Menschheit. Das Afrika unterhalb der Sahara spiegelte diese Verhältnisse recht genau wider: Hier betrachtete man 42 Prozent der Bewohner als extrem arm. Allerdings hat sich seitdem viel getan - der Menschheit insgesamt geht es deutlich besser.

Für die knapp eine Milliarde Männer, Frauen und Kinder mit weniger als einem Dollar Tageseinkommen ist das zwar kein Trost, doch die Rate extremer Armut hat sich insgesamt mehr als halbiert. Nur nicht in Afrika. Dort hat sich zudem auch die Lebenserwartung seit 1990 auf 46 Jahre verringert - in den Entwicklungsländern weltweit liegt sie bei 65 Jahren, Tendenz steigend. Doch warum geht es ausgerechnet dem Kontinent so schlecht, in dem die Menschheit ihren Ursprung hat? Das Wissenschaftsmagazin PNAS befasst sich in der aktuellen Ausgabe in einem Special mit den Ursachen.

Falsche Modelle

Eine dieser Ursachen, das erklärt der Politikwissenschaftler Goran Hyden von der University of Florida, liegt wohl in den allzu westlichen Annahmen. Die Modelle, mit denen man die Zustände in Afrika analysiert, resultieren aus den historischen Erfahrungen bei der Industrialisierung des Westens. Sie ziehen nicht in Betracht, dass der größte Teil der afrikanischen Bevölkerung heute noch gar nicht von Staat oder Wirtschaft erreicht werden. Wer mit einem Dollar pro Tag auskommen muss, kann seine Überlebensstrategien nur an Institutionen und Wirtschaft vorbei entwickeln. Institutionelle Praxis aus dem Westen ohne Anpassung nach Afrika zu transportieren, kann nicht von Erfolg gekrönt sein, meint Hyden.

Auf dem Kontinent haben zum Beispiel formale Institutionen eine viel geringere Rolle inne als die persönlichen Beziehungen innerhalb eines Clans. Hyden nennt dies eine „Ökonomie der Anhänglichkeit“: Es ist einfacher und mit geringeren Transaktionskosten versehen, einen Verwandten um Hilfe zu bitten, als den Versuch zu unternehmen, gemeinsam mit Unbekannten eine bestimmte Ressource zu erstreiten. Dieses, aus den schwierigen Umständen geborene Verhalten unterminiert formale Institutionen, deren Effizienz dadurch schwindet. In diesem Licht muss man auch die Korruption betrachten: Anderswo resultiert sie gerade aus der Stärke und Macht der Institutionen - in Afrika ist sie eher ein Mittel, die eigene Position in der schwachen Institution zu festigen, indem man sich andere gewogen und abhängig macht.

Institutionelle Beziehungen werden so zum Teil durch informelle Beziehungen ergänzt und ersetzt, die aber in diesem Kontext wirksamer sind. Darauf aufbauend schlägt Hyden drei Handlungsmodelle vor: nämlich erstens die informellen Institutionen zu finden und zu unterstützen, die sich am stärksten in formelle Richtung entwickeln. Zweitens sollte man sich die wenigen, aber vorhandenen Erfolgsbeispiele heraussuchen, diese fördern und auf weitere Bereiche ausdehnen. Drittens sollte man Fonds schaffen, die von einer Troika aus Regierung, Zivilgesellschaft und Wirtschaft kontrolliert werden - und bei denen die NGOs dann um Mittel konkurrieren.

Ungünstige Geographie

Eine andere Herangehensweise hat der Ökonom Paul Collier von der Universität Oxford gewählt. Er analysierte Afrikas Geografie - und deren Voraussetzungen für Wachstum. Weltweit haben demnach Länder mit Küstenanbindung und ohne natürliche Ressourcen (siehe etwa die südostasiatischen Tiger-Staaten) statistisch gesehen die größten Wachstumschancen, gefolgt von ressourcenreichen Regionen ohne Meeresanbindung. Außerhalb von Afrika ist es allen Staaten, entweder Meeresküsten oder Ressourcen besitzen, gelungen, die Armutsgrenze zu überwinden. Das hat vor allem auch deshalb deutliche Auswirkungen, weil dort 99 Prozent der Bevölkerung in solchen Ländern leben. In Afrika sind die Menschen jedoch gleichmäßiger verteilt; nur ein Drittel der Afrikaner wohnt in der am schnellsten wachsenden Gruppe der Küstenstaaten.

Der Kontinent, so die Schlussfolgerung, hat deshalb im Prinzip keine anderen Probleme als der Rest der Welt - er hat diese Probleme nur in viel stärkerem Ausmaß. Das Problem, so Collier, besteht vor allem in den einseitigen Abhängigkeiten der Inland-Staaten von ihren Nachbarn mit Küstenzugang. Diese Abhängigkeit lässt sich vermutlich nur mittels eines stärkeren übernationalen Integrationsprozesses mildern. Zudem sollten die Kontinentalstaaten verstärkt auf Luftwege und elektronischen Handel setzen. Collier geht explizit auch auf die ressourcenreichen sowie auf die Küstenstaaten ein, die sich in Afrika ebenfalls weit unterhalb der Erwartungen entwickelten.

Ressourcenreiche Länder benötigen demnach eine starke Demokratie mit umfangreicher Rechenschaftspflicht - als Musterbeispiel hebt Collier hier Botswana hervor, als schlechtes Beispiel dient Nigeria. Dass die afrikanischen Küstenstaaten sich nicht wie ihre asiatischen Gegenstücke entwickelten, erklärt Collier mit verpassten Gelegenheiten: Inzwischen hat Afrika keine Vorteile in Bezug auf die Arbeitskosten mehr, gleichzeitig aber große Probleme, den Kern und das Klima für umfangreichere ökonomische Ansiedlungen zu schaffen.