Der Neandertaler spricht zu uns

Fortschritte bei der genetischen Entschlüsselung

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Vor einem Jahr wurde die Entschlüsselung der ersten Million Basenpaare des Neandertalergenoms als wissenschaftlicher Durchbruch gefeiert, nachträglich erweisen sich diese Daten nun als unbrauchbar, da sie mit der DNS moderner Menschen verunreinigt wurden. Aber dennoch macht das Genomprojekt große Fortschritte und ganz aktuell gelang der Nachweis, dass der Neandertaler – genau wie wir - das Schlüssel-Gen der menschlichen Sprache besaß.

Die Gentechnologie macht es heute möglich, einen immer tiefer gehenden Blick in das Erbgut des Neandertalers zu werfen, des Ur-Europäers, der die Ankunft des modernen Menschen auf Dauer nicht überlebte.

Die versteinerten Knochen des Homo sapiens neanderthalensis wurden 1856 erstmals im Neandertal bei Mettmann gefunden. Lange galt dieser vor 25.000-30.000 Jahren ausgestorbene Mensch als primitiver und grausamer Halbaffe, ein gebückt gehender, stark behaarter und wilder Mann, der nur Grunzlaute ausstoßen konnte, keine Kultur besaß und die Keule schwang. Ein Bild, das inzwischen völlig revidiert werden musste.

Uns ähnlich – manchmal sogar mit roten Haaren

2006 war das Neandertaler-Jahr und die Bilanz der Erforschung dieses menschlichen Cousins zeigt uns einen engen Verwandten, zwar kleiner als wir und stämmiger mit langem, flachem Schädel, Überaugenwülsten und fliehendem Kinn – aber doch ähnlich genug, dass er nach Aussagen der Anthropologen heute in einer Großstadtmenge kaum auffallen würde. Nach jüngsten Erkenntnissen, die in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Science veröffentlicht werden, hatten einige Neandertaler rote Haare und blasse Haut, manchen modernen Menschen nicht unähnlich, die in Europa anzutreffen sind. Grundlage für diese Annahme sind Pigment-Gene, die in Neandertalerknochen gefunden wurden (vgl. Rothaarig durch Neandertaler-Gen?).

Der Neandertaler war ein Kulturwesen, er stellte technisch durchaus raffinierte Stein- und Knochenwerkzeuge her, verwendete Birkenpech als Klebstoff und bemalte seinen Körper mit Pigmenten. Er trug Kleidung, pflegte kranke Angehörige und bestattete wahrscheinlich seine Toten (vgl. Neues vom wilden Mann).

Eine kürzlich im Wissenschaftsmagazin Nature veröffentlichte Studie (an der auch das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie beteiligt war) zeigte, dass es kein einzelnes klimatisches Ereignis gegeben hat, das zum Aussterben der Neandertaler geführt haben könnte.

Mindestens 100.000 Jahre besiedelte der Neandertaler erfolgreich Europa, aber auch Sibirien und Teile Asiens, wie eine neue Studie belegt. Was letztlich zu seinem Verschwinden führte, ist umstritten – wie auch die Rolle, die der moderne Mensch dabei spielte. Klar ist nur, dass er mindestens 10.000 Jahre lang in Europa mit Homo sapiens sapiens zusammen lebte, bis sich seine Spur endgültig in Südspanien verliert (vgl. Letzte Zuflucht Gibraltar).

Genetische Spuren in uns

Debattiert wird unter den Experten auch immer noch darüber, ob in dieser langen Zeit der Koexistenz der moderne Mensch mit dem Neandertaler möglicherweise Nachkommen zeugte – Kinder, die dann zu unseren Vorfahren wurden. Eine Minderheit unter den Spezialisten ist überzeugt, das anhand von Knochenfunden belegen zu können. Hauptvertreter dieser Gruppe ist Erik Trinkaus.

Die große Mehrheit der Paläoanthropologen ließ sich bislang nicht von dieser These überzeugen. Aber es war Wasser auf die Mühlen der Verfechter der Vermischungs-Theorie, als das Neandergenomprojekt vor knapp einem Jahr seine Analyse von einer Million Basenpaare aus dem Erbgut in der Wissenschaftszeitschrift Nature bekannt gab, denn es gab scheinbar genetische Hinweise auf urzeitlichen Sex zwischen den beiden Menschenarten. Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig kam nach den vorliegenden Daten zu dem vorsichtigen Schluss, dass männliche Vertreter des Homo sapiens sapiens wohl doch Neandertaler-Frauen geschwängert haben könnten:

Möglicherweise hat es einen Austausch von genetischem Material zwischen dem modernen Menschen und dem Neandertaler gegeben.

Wie sich inzwischen herausstellte, eine Schlussfolgerung, die auf einer Verunreinigung des Genmaterials durch Erbgut eines heutigen Menschen beruht. In der Fachzeitschrift PLoS Genetics veröffentlichten Jeffrey D. Wall und Sung K. Kim von der University of California San Francisco ihren Vergleich der in Nature erschienen Studie mit einer Gen-Analyse des Neandertalers, die gleichzeitig im Fachblatt Science publiziert wurde. Die Forschergruppe rund um James P. Noonan vom U.S. Department of Energy Joint Genome Institute hatte für seine Untersuchungen Material aus dem selben, 38.000 Jahre alten Knochen entnommen, sprich ihre Probe direkt aus dem Max-Planck-Institut erhalten.

Umso erstaunlicher war die Tatsache, dass sich die Ergebnisse in entscheidenden Punkten widersprachen. Die Daten der beiden Teams können schlicht nicht vom selben Individuum stammen, eine Probe musste mit DNS eines heutigen Menschen, wahrscheinlich eines Mitarbeiters, verunreinigt worden sein – und zwar die der Gruppe um Richard Green. Bruchstücke des Erbgutes irgendeines modernen Zeitgenossen waren auf das Neandertalermaterial geraten und mit ihm zusammen schier endlos vervielfältigt worden.

Den Forschern im Max-Planck-Institut in Leipzig waren die Diskrepanzen in den Ergebnissen auch schon aufgefallen, die neue Studie überraschte sie nicht, sie hatten bereits selbst Vergleiche gemacht und waren ebenfalls zum Schluss gelangt, dass ihre Daten aus der ersten Million Basenpaare eingehender Überprüfung nicht standhielten. Einer der beteiligten Forscher, Johannes Krause, erklärt gegenüber Telepolis, dass es damals schlicht zu wenige Daten für einen gründlichen Abgleich gab. Die DNS des Neandertalers wurde mit den Genen von Schimpansen und modernen Menschen verglichen, um sie in ihrem Verwandtschaftsgrad einordnen zu können.

Sicherheitsüberprüfungen wurden anhand mitochondrialer DNS (aus den Mitochondrien, den Energiefabriken der Zelle, die über die Mütter vererbt werden) vorgenommen und es ergab sich daraus keinerlei Hinweis auf eine Verunreinigung. Tatsächlich liegt das Problem nur im Bereich der nuklearen DNS, also dem Erbgut aus dem Kern der Zelle. Wie es geschehen konnte, dass nur dieser Bereich verschmutzt wurde, kann nur die Zukunft zeigen. Wenn das gesamte Genom entziffert ist, können die Abweichungen genau abgebildet und analysiert werden.

Johannes Krause ist zuversichtlich:

Aller Anfang ist schwer. Es war ein gewagtes Projekt, es war uns immer klar, dass Kontamination ein großes Problem darstellt. Längst arbeiten wir mit erhöhten Sicherheitsstandards. Noch können wir nicht quantifizieren, wie viel Kontamination in der DNS vorhanden war, aber die Daten werden nicht mehr verwendet. Jetzt markieren wir alles mit einer Schlüsselfrequenz, die jede Kontamination sichtbar macht, die außerhalb des Reinraums passieren kann, wenn wir Material weitergeben. Das ist eine zusätzliche Sicherheit. Ständig wird überprüft und es sind keine Diskrepanzen mehr aufgetreten.

Inzwischen sind viel mehr Daten von verschiedenen Neandertaler-Individuen in das Projekt eingeflossen. Der Zeitplan ist nicht gefährdet, das Genom des Neandertalers soll in einfacher Form Mitte bis Ende nächsten Jahres der Öffentlichkeit vorgestellt werden:

Wir sind sehr optimistisch, wir haben in den letzten Monaten große Forschritte gemacht, die uns sozusagen beflügeln.

Nach den neuen Ergebnissen deutet nichts mehr daraufhin, dass sich Neandertaler und moderne Menschen miteinander fortgepflanzt haben, der ursprüngliche Einwohner hat wohl doch keine Spuren in uns hinterlassen.

Sprache und DNS

Das der Homo sapiens neanderthalensis wirklich spurlos verschwand, bestätigt indirekt auch eine neue Studie von Johannes Krause und Kollegen, die in der Ausgabe von Current Biology Anfang November veröffentlicht wird.

Entdeckt wurde es vor einigen Jahren an der University of Oxford bei der Forschung nach den genetischen Ursachen von schweren Sprachstörungen, die in einer Familie gehäuft auftraten. Der entsprechende Erbfaktor fand sich in Form einer Mutation auf Chromosom 7, das Gen FOXP2 war beschädigt. Dieses Gen steuert offensichtlich die Kontrolle über Mund- und Zungenbewegungen, die für ein klar artikuliertes Sprechen grundlegend sind. Beim modernen Menschen hat FOXP2 eine ganz spezielle Beschaffenheit, die sich in zwei Abschnitten deutlich von der des Schimpansen unterscheidet (vgl. Der kleine Unterschied).

Genau danach suchte jetzt das europäische Wissenschaftler-Team und fand ein mit dem modernen Menschen identisches FOXP2 im Erbgut des Neandertalers. Von seinem Erbgut her gesehen hatte er also die gleichen Voraussetzungen zur differenzierten Sprache wie wir.

Ein erstaunliches Resultat, denn bislang waren die Paläoanthropologen der Meinung, dass diese Mutation zur höheren Sprechfertigkeit nicht älter als 200.000 Jahre sei. Der letzte gemeinsame Vorfahre von Homo sapiens neanderthalensis und Homo sapiens sapiens lebte da aber längst nicht mehr. Jetzt muss das Alter von FOXP2 neu berechnet werden, wahrscheinlich ist es mindestens 300.000 bis 400.000 Jahre alt.

Um auszuschließen, dass die untersuchten Überreste von einem gemeinsamen Kind von Neandertaler und modernem Menschen stammen, nahmen die Forscher das Y-Chromosom genau unter die Lupe. Und es zeigte sich, dass die untersuchten Individuen (46 DNS-Extrakte aus 22 Neandertaler-Knochen von zwei verschiedenen Individuen, die in einer Höhle in Nordspanien gefunden wurden) völlig andere Y-Chromosomen aufwiesen, als sie heute lebende Menschen haben. Was erstens beweist, dass sie von reinen Neandertalern stammen und zweitens, dass die Proben nicht durch moderne DNS kontaminiert wurden.

Letzteres war auch äußerst unwahrscheinlich, weil diese Knochen bei der Ausgrabung sofort unter sterilen Bedingungen geborgen und gefroren unverzüglich ins Labor, in den Reinraum des Max-Planck-Instituts in Leipzig transportiert wurden. Dort wurden die DNS-Proben extrahiert. Homo sapiens sapiens (vgl. Neandertaler - Homo neanderthalensis - Kebara 2).

Anatomisch betrachtet, könnte der Neandertaler also eine Plaudertasche gewesen sein – und jetzt ist klar, dass auch eine wichtige genetische Voraussetzung gegeben war. Vielleicht wäre ein Homo sapiens neanderthalensis heutzutage nicht nur in einer Menge unauffällig, sondern auch ein gern gesehener Talk-Gast.