Anschlusspläne an einen schiitischen Irak?

Interview mit Daniel Brett zur Situation der Ahvazi-Araber im Iran

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Die iranische Regierung hat Probleme mit Minderheiten: Bekannt sind die kurdischen Separatisten im Nordwesten, etwas weniger bekannt die belutschischen im Südosten und weitgehend unbekannt die "Ahvazis", die vorwiegend schiitischen Araber in Khusistan, im Südwesten des Landes. Nach der Beseitigung Saddam Husseins ist für diese Araber das Schreckensszenario einer Eroberung durch einen sunnitisch dominierten Staat weggefallen. Entsprechend größer wurde die Angst im Iran vor einer Abspaltung der extrem ölreichen Region. Wir befragten Daniel Brett, den Vorsitzenden der British Ahwazi Friendship Society, die sich als Lobby der Araber in Khusistan versteht.

Volksgruppen im Iran

Was geschah in den letzten Jahren in Khusistan?

Daniel Brett: Im April 2005 kam es zu Protesten, die dadurch ausgelöst wurden, dass al-Dschasira ein Schreiben des damaligen Vizepräsidenten Aliabadi zum 'demographischen Umbau' der Provinz Khusistan veröffentlichte. Im Kern ging es dabei um eine Verringerung des arabischstämmigen Bevölkerungsanteils. Nicht durch einen gewaltsamen Genozid, sondern durch Zwangsumsiedlungen und durch Anreize für Farsi-Sprecher, dort hin zu ziehen. Seitdem wurden mindestens 12.000 Menschen inhaftiert. Es gab auch eine Vielzahl von Hinrichtungen. Wir gehen davon aus, dass ungefähr 160 Menschen getötet wurden. 60 davon sind uns bisher namentlich bekannt.

Seit 2005 gab es auch einige Bombenanschläge mit Todesopfern. Sie gehen auf das Konto einer Gruppe namens Mohieldain al-Nasir Märtyrer Brigade, welche die iranische Regierung als eine CIA-, Mossad- oder MI6-Front bezeichnet, die das Land destabilisieren will.

Außerdem gibt es da noch den militärischen Flügel einer Gruppe namens 'The Arabic Struggle Movement for Liberation of Al-Ahwaz' (ASMLA), der sich aber weitestgehend aufgelöst hat, da ihre Anhänger entweder getötet wurden oder nach Europa flohen. Von der Gruppe gibt es Videos zu den Bombenanschlägen. Manche vermuten, dass die Gruppe von 'Hardlinern' im iranischen Geheimdienstministerium infiltriert und von dort aus gesteuert wurde. Auch deshalb, weil sich der Sprengstoffanschlag vom Juni 2005 günstig auf die Popularität Ahmadinedschads bei den Wählern auswirkte. Angeblich wurde die Person, welche den Sprengstoff lieferte, nie festgenommen, verhört oder angeklagt.

Wo wurden die Videos zu den Bombenanschlägen veröffentlicht? Auf YouTube oder einer Webseite?

Daniel Brett: Auf einer Webseite namens Arabistan.org, die von den Niederlanden aus betrieben wird. Von Sympathisanten der Bombenleger.

Was sind die Quellen, auf die sich Ihre Informationen beziehen?

Daniel Brett: Die stammen in erster Linie von Menschen, die in Khusistan leben. Die Namen kann ich natürlich nicht nennen.

Überprüfen Sie Ihre Informationen mit denjenigen, die von der iranischen Regierung offiziell herausgegeben werden?

Daniel Brett: Generell werden die Geschehnisse von den iranischen Regierungsbehörden und Regierungssprechern bestätigt - auch wenn sie die Gründe für die Aufstände nicht nennen. Einige Parlamentsabgeordnete und lokale NGOs bestätigten auch die Hintergrundinformationen, die wir von den Menschen in Khusistan bekamen.

Um welche Personen und NGOs handelt es sich dabei zum Beispiel?

Daniel Brett: Es gibt da zum Beispiel verlässliche Aussagen von Emad Baghi, einem prominenten regierungskritischen Journalisten und Menschenrechtsaktivisten, der 2005 für seinen Kampf gegen die Todesstrafe mit dem französischen Menschenrechtspreis geehrt wurde und seitdem selbst im Gefängnis sitzt - wegen Verrats von Staatsgeheimnissen und Gefährdung der nationalen Sicherheit >. Baghi ist zudem Vorsitzender der 'Community for the Defense of Prisoners' Rights' und ein führender Reformer, der in Verbindung mit der Nobelpreisträgerin Schirin Ebadi steht. Auch er führt die Unruhen auf ethnische Diskriminierung, das Fehlen von Landbesitzrechten, ungleiche Beschäftigungsmöglichkeiten und generell auf Hoffnungslosigkeit und Wut unter der arabischen Bevölkerung zurück.

Nochmal zu den Umsiedlungen, die Sie bereits erwähnt haben. Wie muss man sich das genau vorstellen?

Daniel Brett: Die Regierung sagt: 'Wir nehmen euer Land'. Und dann nehmen sie es. Und reißen die Häuser mit Bulldozern ein. Wir haben hierzu auch Videos.

Erhalten die Landbesitzer irgendwelche Entschädigungen dafür?

Daniel Brett: Wenig bis keine. Als Miloon Kothari, der UN Special Rapporteur on Adequate Housing, im Juli 2005 nach Khusistan kam, sagte er dazu, dass, wenn die iranische Regierung überhaupt Entschädigungszahlungen leistet, diese gerade einmal ein Vierzigstel des gegenwärtigen Grundstückwertes abdecken würden. In relativ vielen Fällen wird aber überhaupt keine Entschädigung gezahlt und die Betroffenen enden in Hütten und Slums.

Können die Enteigneten frei entscheiden, wohin sie umgesiedelt werden?

Daniel Brett: Offiziell werden sie ja nicht umgesiedelt, es wird ihnen ja nur gesagt, dass sie das Land verlassen sollen. Sie leben dann auf den Grundstücken von Verwandten, meist in provisorischen Behausungen wie Hütten oder Zelten. Andernfalls in den Slums der Randbezirke von Ahvaz. Das war auch der Fokus der Aufstände in der Stadt. Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Landenteignung und den Unruhen.

Die meisten Ahvazi-Araber befinden sich aber nach wie vor in Khusistan, oder?

Daniel Brett: Sie haben einfach nicht das Geld, um zu gehen. Einige sind aber auch in andere Provinzen umgesiedelt, vor allem in die kleinen arabischen Enklaven im Nordosten des Landes. Also in die von ihren Heimatorten am weitesten entfernten Regionen des Iran, wo sie - oftmals kulturell entwurzelt - in von Drogenabhängigkeit und Kriminalität gekennzeichneter Armut leben.

Was passiert, wenn ein Landbesitzer sich weigert, sein Grundstück zu verlassen?

Daniel Brett: Sie haben keine Wahl. Sie können nicht sagen, 'wir gehen nicht'. Das ganze geschieht mit vorgehaltener Waffe. In dem erwähnten Video beschreibt eine Frau, wie ihr Besitz konfisziert wurde. Weil sie nicht weiß, wohin sie gehen soll, lebt sie zwar immer noch auf ihrem Grundstück, jedoch unter freien Himmel, weil ihr, nun in Regierungsbesitz befindliches Haus zerstört wurde. Das ganze geschah bereits vor den Unruhen 2005.

Sind die Ahvazi-Araber mehrheitlich Schiiten oder Sunniten?

Daniel Brett: Sie sind zu 80% Schiiten. Sie denken aber nicht vorrangig in religiösen Kategorien. Ahvazis sind in erster Linie Menschen, die in Stammesverbänden leben und sich zunächst mit deren Ritualen und Bräuchen identifizieren. Religiöse Gegensätze sind dort nicht so bedeutsam wie anderswo. Sie leben nach konservativen Wertvorstellungen, sind ziemlich arm und orientieren sich an den lokalen Stammesfürsten, deren Einfluss die iranische Regierung seit der Revolution zurückzudrängen versucht.

Hat der radikale Salafismus Einfluss auf die Sunniten unter den Ahvazis?

Daniel Brett: Der ist äußerst gering. Es gab zwar mal einen Versuch der Einflussnahme von einigen Salafisten. Aber ich glaube nicht, dass sich dadurch die Unruhen erklären lassen. Den Konflikt zwischen den Ahvazis und dem iranischen Staat gibt es schon seit 80 Jahren, also bevor der radikale Salafismus in der Region Einzug hielt. Ich glaube nicht, dass der Salafismus einen relevanten Faktor darstellt.

Welche Rolle spielt Saudi Arabien?

Daniel Brett: Keine wichtige, denn generell interessieren sich die sunnitisch-arabischen Länder nicht für die Belange schiitischer Gruppen, geschweige denn für die Ahvazi-Araber. Das Gleiche gilt natürlich auch für die iranisch-persischen Gruppen, die ja keine Araber sind. Die Ahvazis stehen also alleine da. Sie sind in einer ähnlichen Situation wie die mit ihnen verwandten Ma'dan in den 1980er Jahren im Irak. Die beiden Gruppen sind nur durch den Schatt al-Arab getrennt – auf der einen Seite leben die Ahvazis, auf der anderen Seite die Ma'dan. Es gibt auch Verbindungen zwischen den Stämmen.

Gibt es eine Bewegung bei den Ahvazis, sich den Ma'dan im Irak anzuschließen und einen arabisch-schiitischen Staat zu gründen?

Daniel Brett: Ich glaube eher nicht, dass der Zusammenhalt zwischen beiden Gruppen ausreicht, um gemeinsam politische Forderungen zu artikulieren. Die Ahvazi-Bewegung ist in sich schon ziemlich zersplittert und es geht auch mehr um ökonomische als um genuin politische Probleme. Man muss sich vor Augen halten, dass die Hälfte der Ahvazis Analphabeten sind. Sie sind unglaublich arm und es gibt keine effektiven zivilgesellschaftlichen Organisationen. Es existiert keine wirkliche Verbindung nach außen. Ein anderer Punkt ist, dass die Schiiten im Irak so stark von Teheran beeinflusst sind, dass sich der Wunsch nach Verbindungen zur dortigen politischen Elite in Grenzen hält – obwohl es viele moderate Schiiten im Irak gibt, die der Ahvazi-Sache Sympathie entgegenbringen.

Was sehen sie als Grund für den “demographischen Umbau” - die Energieressourcen in Khusistan?

Daniel Brett: Das war schon der Hauptgrund dafür, dass die Pahlavis 'Arabistan' – wie die Gegend damals hieß - unter die direkte Kontrolle der Zentralregierung stellten. Dort befinden sich 90% des iranischen Öls. Aber darüber hinaus gibt es noch andere Gründe, warum die Gegend für die iranische Regierung so wichtig ist. Einer davon ist Wasser, ein anderer die Fruchtbarkeit des Bodens. Es gibt riesige Zuckerrohrplantagen, viel Landwirtschaft und Flüsse, deren Wasser in die wasserknappen Nachbarregionen abgeleitet werden soll.

Das ist natürlich ein weiterer Grund für die Spannungen zwischen den Ahvazi-Arabern und den iranischen Behörden und stellt aus Sicht der Araber eine Bedrohung ihrer traditionell-landwirtschaftlichen Existenzgrundlage dar. Dabei geht es auch um die schlechte Wasserqualität, die eine Folge der neu angesiedelten intensiven Landwirtschaft in der Region ist. Auch die petrochemische Industrie führt zu Wasserverschmutzung. Khusistan ist mittlerweile eine der verschmutztesten Gegenden der Welt. Es geht hier um die gesamte iranische Wirtschaft und nicht nur um das Öl. Außerdem ist die Region auch von strategischer Bedeutung.

Die neuen Projekte, wie zum Beispiel die Zuckerrohrplantagen oder der Hafen, locken neue Siedler an. Handelt es sich dabei ausschließlich um Farsi-Sprecher?

Daniel Brett: Nein, es gibt genauso auch türkische Azeris, die ein Viertel der Bevölkerung des Iran ausmachen. Viele von den Zuwanderern gehören der Mittelschicht an, sind Fachleute und Ingenieure. Auch sie sind in der Region ansässig. Was die Regierung gemacht hat, ist, Siedlungen für sie zu errichten, wie das Ramin-Viertel oder Shirinshah, wo sie ganz unter sich leben, ohne Araber mit lokalem Bezug. Araber finden schwerer Arbeit weil sie ärmer und schlechter ausgebildet sind - was auf die Diskriminierung im Erziehungswesen zurückzuführen ist, aber auch auf ihre Armut und auf Vorurteile. Deshalb sind sie von den wirtschaftlichen Entwicklungsprojekten in der Region weitgehend ausgeschlossen. Die Arbeitsstellen gehen ganz überwiegend nur an Leute von außerhalb Khusistans. Das ist eine Ursache der ethnischen Spannungen.

Wie sieht die Diskriminierung im Erziehungswesen genau aus?

Daniel Brett: Iran ist ein islamischer Staat. Das Hocharabische, in dem der Koran geschrieben ist, wird natürlich in den Schulen gelehrt. Allerdings werden andere Fächer nur in Farsi und nicht in denen der Minderheiten unterrichtet - Naturwissenschaften, Literatur, Geographie.

Es gibt also keine gesonderten Lehrpläne für die Ahvazi-Minderheit?

Daniel Brett: Nein. Es gibt auch keine Schulen, die in arabischer Sprache unterrichten. Aber selbst wenn es solche Schulen gäbe, bin ich nicht sicher ob sie dazu führen würden, dass Ahvazis in größerer Zahl in den Entwicklungsprojekten Anstellung fänden. Die Regierung und die Unternehmen, die ihr gehören, besteht nämlich darauf, dass die Leute, die dort angestellt werden, fließend Farsi sprechen. Und die meisten der Projekte gehören dem Staat. Es ist also ein großes Dilemma. Ich kann eigentlich beide Seiten verstehen: Es muss in solch einer multiethnischen Gesellschaft mit so vielen verschiedene Sprachen eine lingua franca geben. Das führt aber dazu, dass die Nicht-Muttersprachler weniger Chancen haben und es ihnen ökonomisch schlechter geht. Die iranische Regierung weigert sich aber bisher, das Problem anzugehen - es scheint für sie nicht unbedingt Priorität zu haben.