Das Verlangen eines Groupies nach Ruhm

Dostojewski im Wilden Westen: Andrew Dominik stellt den "Jesse James"-Mythos vom Kopf auf die Füße und enthüllt seine brutale, mörderische Seite

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Der Mord an Jesse James als zeitgemäßes existentielles Drama: Ein Versuch über den Western und das Verbrechertum, ein Beitrag zur reichen Kulturgeschichte des Verrats, ein Zen-Western, im schlafwandlerischem Stil inszeniert: Wie für die Figuren ist auch für die Zuschauer der Weg das Ziel, denn dieses kann nur der Tod, Jesse James' Ende und das Ende des Films sein. Man wartet, ohne genau zu wissen worauf. Die neue Legende ersetzt die alte, das Interesse für die Mörder der Mörder, das für die Mörder.

1881-1882, als der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche gerade an seiner "Fröhlichen Wissenschaft" schreibt, erlebt Jesse James die letzten Monate seines Lebens und ist, wenn man Andrew Dominiks Film glauben darf, auch damit beschäftigt, die verschiedenen Charaktere - oder Ungeheuer - in seinem Inneren unter Kontrolle zu halten.

Bilder: Warner

Die Geschichte, die dieser Film erzählt, ist auf den ersten Blick überaus schlicht, und schon ganz und gar in seinem barocken Titel enthalten. "The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford", beschreibt mit historischer Akkuratesse fast dokumentarisch die letzten Monate des zum Mythos zu Lebzeiten gewordenen amerikanischen Gangsters Jesse James und den einigermaßen gut belegten, zugleich von Legenden umrankten Vorgang seiner Erschießung durch Robert Ford 1882.

Ford gehörte zum erweiterten Kreis der James-Bande und ließ sich 1881, als alle außer Jesse und Frank im Gefängnis oder tot waren, vom Gouverneur Missouris und vom ausgesetzten Kopfgeld zum Verrat verleiten. In heutigen Begriffen war er ein Killer im Regierungsauftrag. Jesse James wurde ermordet, weil er lebend in Haft den Politikern zu gefährlich war und weil sich die Behörden an ihm auch für jahrzehntelange Demütigungen rächen wollten.

Die Essenz des Films liegt aber ganz woanders. Regisseur Andrew Dominik, ein Neuseeländer, der zuvor nur einen einzigen Film gedreht hat, "Chopper", geht weit über die allzu vorhersehbare Nacherzählung des Historischen hinaus. Sein Film ist eine verführerisch inszenierte Meditation über das Western-Genre, die versucht, dieses uramerikanische Genre auf der Höhe der Gegenwart zu interpretieren, eine Reflexion der Gewaltverhältnisse Amerikas, des Gangstertums und der darin wurzelnden Mythologien, sowie des Zusammenhangs von Männlichkeit und Furcht, Wahnsinn und Brutalität. Vor allem ist er aber eine lyrische Betrachtung von Starruhm und Glamour, der "celebrity culture", die unsere Gegenwart, längst nicht mehr nur in den USA, prägt.

Outlaws, Rächer, Terroristen

Man muss hier kurz innehalten und an das Robin-Hood-Image erinnern, dass sich der historische Jesse James zum Teil selber angeschminkt hat, zum Teil die Öffentlichkeit, ein Image, das dann im 20.Jahrhundert von Hollywood bereitwillig wiedergekäut wurde - und die Wirklichkeit dahinter, sie ist spannend genug: 1847 geboren wuchs Jesse mit vier Geschwistern in Missouri auf, sein leiblicher Vater starb als goldsuchender Glücksritter beim Goldrausch in Kalifornien. Sein Stiefvater, ein Arzt, verlegte sich auf den Tabakanbau und hielt sieben Arbeitssklaven.

Die Familie gehörte zu den Verlierern der Zuspitzung der späten 50er Jahre und des Bürgerkriegs - das ist psychologisch wichtig, um die spätere Gangsterkarriere zu erklären: Denn die James' waren wie viele ihrer Zeitgenossen in der eigenen Sicht schon mit Kriegsbeginn zu Outlaws geworden. Jesse's älterer Bruder Frank schloss sich kurz der konföderierten Armee an, dann den berüchtigten "Bushwrackers", einer Partisanenarmee, die aus dem Hinterhalt operierte und die Konventionen der damaligen Kriegsführung hinter sich ließ: Sie bedrohte die Zivilbevölkerung. Frank war nachweislich an zwei Massakern beteiligt, Jesse stieß später hinzu, und es liegt nahe, dass auch er hier die Grundlagen seines späteren Lebens lernte.

Hier werden die James-Brüder und andere Gangsterbanden der Zeit wieder als unbeabsichtigte Folgen des amerikanischen Civil War, als Kinder des Krieges sichtbar, die den heutigen Kriegskindern des Balkan und des Nahen Ostens recht ähnlich sehen. Über Monate wussten sie noch nicht mal, dass der Krieg zuende war, und kurze Zeit später wurde das Verbrechen zur Erweiterung und Fortsetzung des Bürgerkriegs.

Es war von schlichter Not motiviert, aber auch von Rache der Südstaaten-Kämpfer für die Niederlage und Demütigung. Jesse James war also nicht nur Outlaw und edler Räuber, der die Zivilisten in den beraubten Zügen immer verschonte, und sich nur am Safe zu schaffen machte, er war auch ein mindestens 15-facher Mörder, einer, der einen Bankangestellten folterte, der den Safe nicht öffnen wollte, und ein Terrorist, der sich zuerst Unionssoldaten, später dann Anhänger der Union als bevorzugte Opfer wählte.

Und er war ein Propagandist in eigener Sache: In den 70er Jahren veröffentlichte der Herausgeber der "Kansas City Times", John Newman Edwards, ein glühender Anhänger der konföderierten Restauration, mehrere Rechtfertigungs-Briefe, in denen sich Jesse James für die Südstaaten-Sache stark macht, dem Krieg und der Union die Schuld an seinen Taten gibt und sich insgesamt zum Opfer und guten Menschen stilisiert. James wurde zur Symbolfigur in dem Kulturkampf nach dem Bürgerkrieg.

Dostojewski im Wilden Westen

Wenn Zeitgenossen bei den Überfällen der James-Bande immer den Mut der Täter betonen, bleibt unterbelichtet, dass es sich bei den Tätern von ihrer Persönlichkeitsstruktur her um Nihilisten handelte. Sie waren nicht "mutig", sondern sie hatten nichts zu verlieren, ihr Mut war also eine Tollkühnheit aus Verzweiflung. Das Morbide der realen Geschehnisse, der Zeit mit ihrer Anarchie wird auch in "Assassination" nicht genug gezeigt, dazu ist der Film zu schön, zu wenig düster. Aber er verzichtet auch darauf, den bekannten Mythos fortzuschreiben.

In über 30 US-Filmen - darunter auch so bizarren Titeln wie "Jesse James Meets Frankenstein's Daughter" von 1966 -, in zahlreichen Episoden verschiedener TV-Serien wie "Twilight Zone" ("Showdown with Rance McGrew"), "The Brady Bunch", "The New Adventures of Superman", "The Young Riders", "Little House on the Prairie", "The Simpsons", "Akte X", etc. ist Jesse James die Hauptfigur. Stars wie Tyrone Power, James Dean, Robert Duvall, Kris Kristofferson, Audie Murphy, Lee Van Cleef, Robert Wagner und Colin Ferrell verkörperten den Outlaw, Regisseure wie Henry King ("Jesse James"), Fritz Lang ("Rache für Jesse James"), Nicholas Ray ("The True Story of Jesse James"), Walter Hill und Samuel Fuller ("I shot Jesse James") suchten eine eigene Perspektive zu finden und zeigten James meist doch immer irgendwie als Opfer, als guten Mensch auf Abwegen.

Henry King etwa, bei dem kein Geringerer als der schönste romantische Schönling, den Hollywood je gekannt hat, Tyrone Power, den Gangster verkörpert und Henry Fonda seinen Bruder, zeigt die Bruder als Opfer der Brutalität der Landnahme der Eisenbahngesellschaften. Wie wird man Gangster durch den bösen Fortschritt und Kapitalismus? Der Film ist reine Ideologie: Eine reaktionäre Verklärung des Siedlerlebens mit kochender Mutti und braven Farmerdasein, in dem James von bösen Kapitalisten die Rückkehr ins Zivilleben verweigert wird, in der man ihm das Familienleben und den Neuanfang in Kalifornien versagt. Ein schönes Märchen, mehr nicht.

"Frank and Jesse James knowed how to rob them trains, they always took it from the rich and gave it to the poor, they might have had a bad name but they sure had a heart of gold." Strophe aus Lied von Countrysänger Hank Williams, 1983

Die Dämonen

Ganz ist dieses sehr idyllische Bild der Wirklichkeit auch bei Dominik keineswegs verschwunden - zu Recht: Die Wahrheit in den Köpfen ist wichtiger und meist interessanter als die in den Archiven. Doch stellt er den Mythos vom Kopf auf die Füße, enthüllt seine brutale, mörderische Seite und rückt den Volkshelden aus dem Zentrum.

Der Held seines Films ist nicht mehr Jesse James, sondern Robert Ford. Er steht im Zentrum, seine Psychologie wird in Form von inneren Monologen entfaltet. Dominik zeigt in Ford das Verlangen eines Groupies nach Ruhm, zeigt, wie die Faszination für den Star sich mit Geltungssucht paart. Folgt man dem Film ist die Geschichte von Jesse James und Robert Ford eigentlich die enttäuschter - nicht notwendig homosexueller - Liebe und unbewußter Demütigung. Eine symbolische Begegnung von Star und Fan, die sich zur Obsession radikalisiert und an deren Ende der Fan den geliebten Star tötet, der ihn nicht so, wie gewünscht, wieder lieben will. Eine Bluttat aus Ressentiment.

Sie machte Jesse James endgültig zum prototypischen Outlaw-Helden. Lobende Nachrufe wurden geschrieben, der tote Körper wurde auf Eis gelagert und man bot für ihn 50 000 Dollar. Photos des aufgebahrten Toten verkauften sich tausendfach. Ein frühes Massenmedienphänomen.

Die in diesem Zusammenhang vielleicht interessantesten Fakten betreffen die Folgen des Mordes: Robert Ford wurde nämlich durch den Mord tatsächlich selbst zum Star, der seine Tat 800 Mal auf der Bühne, dem damaligen Kino nachspielte und darüber verzweifelte. Zehn Jahre später wurde er selbst ermordet - ohne Nachrufe, Fotos und Nachruhm. Irgendwann würde man aber nun gern die Fortsetzung sehen: "The Assassination of Robert Ford by the Coward Ed O'Kelly". Immerhin ein solches Buch gibt es tatsächlich: "Ed O'Kelley: The Man Who Murdered Jesse James' Murderer" von Judith Ries, (Missouri, 1994).

Brad Pitt spielt Jesse James als müde und paranoid gewordenen Rockstar des Verbrechens, als einen alternden, latent depressiven Familienvater, von Verfolgungswahn und anderen Dämonen gequält, bei dem man nie ganz sicher ist, ob er seiner Jugend nun nachtrauert oder froh ist, sie überlebt zu haben, einen brutalen Mörder, der von seinem Ruhm eher verfolgt wird, mit der Begeisterung seiner Fans nichts anfangen kann und todessehnsüchtig sein Ende herausfordert - ähnlich wie Jim Jarmush's stilistisch ganz anders gearteter Western-Pastiche "Dead Man" zeigt "Assassination" in James eine Figur, die eigentlich schon von Beginn an tot ist.

Und ein bisschen erinnert er auch an Friedrich Nietzsche auf alten Fotografien, allerdings vor allem an den Nietzsche der Endphase. Für Pitt wiederum, wie eigentlich für jeden Darsteller, hat Nietzsche eine gute Gebrauchsanweisung formuliert:

Aus der Kriegsschule der Seele: Ein für allemal einen Charakter darstellen, aber ohne dass erkennbar wird, dass man noch fünf oder sechs andere hat.

Jetzt bleibt eigentlich nur noch zu wünschen, dass Brad Pitt einmal Nietzsche darstellt und zwar so, dass alle sieben Charaktere sichtbar werden.

Der Idiot

Wie Robert Ford ist es auch sein Darsteller Casey Affleck, der in diesem Film den nominell größeren Star in den Schatten stellt: Grandios spielt Affleck mit hell weinerlicher Stimme und unsicheren Körperbewegungen diesen schwer durchschaubaren spätpubertären Charakter, der James mal naiv und zutraulich, mal hinterhältig und immer obsessiv wie ein Stalker auf den Fersen klebt - "als ob er eine Biografie über den Outlaw schreiben würde."

Stilistisch ist "Assassination" geprägt von den wunderbaren Bildern der brillanten Kamera von Roger Deakins. Deakins nähert sich der Bildsprache früher Photographien an: Die Bilder sind in der Mitte scharf, verschwimmen aber leicht zu den Rändern hin. Die von Braun und Grautönen, von mattem Weiß und tiefem Schwarz und indirektem Licht dominierte Farbpalette des überwiegend im Winter spielenden Films ähnelt zwischendurch immer wieder Schwarzweißaufnahmen. Die Bewegungen der Kamera sind langsam, ihr Blick zeigt weite Himmel, bleibt gelegentlich an dessen Wolkenspielen hängen. Oder er fängt das Gras ein, die Bäume, stumme Gesichter. Gesprochen wird nur das Nötigste; so entsteht ein schöner Zen-Western, beherrscht von einer kontemplativen Atmosphäre, die in den besten Momenten an Terence Malick erinnert, nur gelegentlich auch manieriert wirkt.

Einmal mehr belegt Dominiks ambitioniertes, bildgewaltiges Werk, dass der Western heute offenbar nur noch in der Rückwendung auf Filme der 70er und damit als Abgesang auf sich selber möglich ist. Dominik spielt mit Mythenzerstörung. Bei ihm fehlt erkennbar der Hass auf Mythologie, darum tut er zwar nicht so, als sei es seinerzeit besonders glorreich zugegangen, aber seine Bilder sind doch fast ein bisschen zu schön, um wahr zu sein.

Man hat dem Film so allerhand vorgehalten: Er habe keine Haltung zum Gegenstand, als ob Rembrandt-Licht und Heldenmüdigkeit, die Erschöpfung von Männlichkeit und deren Flucht in Depression, die der Film vorführt, keine Haltung wären. Er fände keine Geschichte, die Amerika sich selbst erzählen müsste - als ob die Geschichte der Kriegskinder und der Medienmechanismen, das Auseinanderklaffen von Wahrheit und Mythos keine Geschichte wären. Er biete keine Psychologie, als ob die Innenschau des Verrats und von Menschen, die unter der Woche morden und am Sonntag mit der Familie am Frühstücktisch sitzen und in der Kirche singen, nicht hochpsychologisch wäre.

Im Mittelteil etwas zu lang bleibt der Film aber bis zum Ende faszinierend, zumal sich die Dramaturgie ständig steigert und die letzte halbe Stunde zur stärksten des Films wird. Dabei ist dies ein Drama der Entschleunigung, noch mehr aber der Desillusionierung, das der print-the-legend-Moral der Mediengesellschaft Widerstand entgegensetzen will. Stark erinnert der Film an Robert Altmans "Buffalo Bill and the Indians". Wie der ist auch dies eine Entmythisierung der historischen Figur, die paradoxerweise aber durchaus absichtlich selbst wieder mythisches Potential entfaltet.