Zerstört die Netzkultur den musikalischen Film?

Filmmusik heute, damals und in Zukunft, Teil 3

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Die aktuelle Netzkultur mit ihrer multimedialen Zerstückelung und Chaotisierung von Daten schwankt zwischen Einfalt und Vielfalt. Sie hat speziell das Medium Film und die Vorstellung von Filmmusik in einer Weise durcheinander gebracht und einer ästhetischen Trivialisierung unterzogen, die bisher noch nicht angemessen analysiert worden ist.

Das Medium Kino-Spielfilm hatte in den 1950er bis 70er Jahren einen musikalischen Rhythmus der zeitlichen Entfaltung von Ton und Bild entwickelt, der auch für die zukünftige Kinokultur wegweisend ist. Diese musikalische Struktur steht im gegenwärtigen tobenden Krieg der digitalen Medien auf dem Spiel. Die Paradoxie: Der Ursprung der Filmmusik ist eigentlich recht unmusikalisch. Der Film ist erst mit der Zeit in sich bild-musikalisch geworden. Stanley Kubrick hat den musikalischen Film in seiner puren Essenz weiter herausgearbeitet. Aber im i-Pod-Zeitalter droht das Kino wieder unmusikalisch und belanglos zu werden.

Der musikalische Film

Die Rettung für die anspruchsvolle Verbindung von Film und Musik ist und bleibt der wahrhaft musikalische Film. Was ist das? Ein Film, der bereits in seinen Bildern und Einstellungen musikalisch im weitesten Sinne ist, bei dem sowohl die Bilder, als auch der zwischen Wort, Geräusch und Musik wechselnde Sound eine Ästhetik der Eigenwertigkeit der Spuren und der Geschmeidigkeit ihres Zusammenwirkens und Gegeneinander-Ausspielens entwickelt haben.

Gene Kelly in 'Singing in the rain'

Der musikalische Film ist ein wichtiger Lernschritt in der audiovisuellen Gestaltung von Raum und Zeit, Bild und Ton. Bei ihm ist das wechselnde Tempo und die Dynamik aller Bilder und Einstellungen professionalisiert; der Film ist insgesamt abstrakter gestaltet als der in weiten Passagen oft theaterlastige, an Figuren und Situationen hängende Stumm- und Sprechfilm. In seiner Dynamik entwickelt er einen musikartigen Impuls, Rhythmus und Schwung, der die bewegten Bilder, die dargestellte Bewegung und den Verlauf der Zeit zum Hauptthema werden lässt.

Man kann mit Recht behaupten, dass diese Errungenschaft im multimedialen Tosen des Internet in Gefahr ist. Die Trennung, Reduzierung und Filtrierung der auditiven und visuellen Kinodaten in grobe Zufallseindrücke begünstigt das Abdriften einer kohärenten Film- und Kinokultur in wahrhaft unmusikalische Zustände, ja in die Vorläuferepoche von Stumm- und frühem Tonfilm.

West Side Story

Mit dem musikalischen Film ist nicht jedes Musical gemeint, obwohl es auch da filmische Spitzenleistungen eines nur cineastisch möglichen stimm- und tanzakrobatischen Dauerfeuerwerks gibt (Fred Astaire, Ginger Rogers, Gene Kelly) , auch nicht Lars von Triers grotesk gescheitertes, inszenatorisch „dogmatisches“ Werk „Dancer in the Dark“. Die klassische „West Side Story“-Verfilmung beweist immer noch, wie architektonisches, choreographisches und dramaturgisches Bild-Schnitt-Gespür in das mehrschichtige Phänomen einer überzeugend verfilmten Musik-Handlung einfließen. Auch Musiker-Biopics sind hier nicht gemeint, vielleicht mit folgenden Ausnahmen: Danièle Huillets und Jean-Marie Straubs „Chronik der Anna Maria Magdalena Bach“ (1968), der Urzelle für Kubricks stilistische Exaktheit in Sachen klassischer Musik in „Barry Lyndon“ (1976), Milos Formans überbordende Umsetzung von Peter Shaeffers Theaterstück „Mozart“ und Oliver Stones „The Doors“.

Allzuoft sind Musik-Filme erfüllt von einem frankensteinförmigen Schmierentheater, um den plakativen Film-Wahnsinn zu produzieren, dem die beabsichtigte Genialität gleich abhanden kommt. Auch beim Konzertfilm kommt es darauf an, den Geist der Protagonisten, die Interaktion mit dem Publikum oder die gesamte Konzertatmosphäre herüberzubringen, wie bei „Woodstock“, „Stop Making Sense“ (Talking Heads) und „Home of the Brave“ (Laurie Anderson). Das Unerträgliche an „Rhythm Is It!“ von Grube und Lansch ist, dass vom eigentlichen Ereignis und den Proben immer nur Häppchen zu sehen sind, und stattdessen die typischen Schüler-Lehrer-Künstler-Konflikte PR-mäßig überbetont werden. Das Finale hätte eben gleich das komplette Finale sein müssen. Hier hat das TV-Internet-Geplaudere die musikalische Geduld überrumpelt.