Vererbte Chancenlosigkeit

Neue Daten des Deutschen Jugendinstituts demonstrieren den engen Zusammenhang von Kinderarmut, Bildungsweg und sozialer und gesellschaftlicher Teilhabe

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Als die Bundesregierung 2005 ihren Zweiten Armut- und Reichtumsbericht veröffentlichte, zählte sie 1,1 Millionen Kinder unter 18 Jahren zu den Sozialhilfeempfängern. Offizielle Zahlen neueren Datums liegen bisher nicht vor, allerdings geht der Kinderschutzbund davon aus, dass mittlerweile 2,6 Millionen Kinder auf Sozialhilfeniveau leben müssen und dadurch massiven Einschränkungen aller Art ausgesetzt sind.

In der Konsequenz bedeutet das für diese Kinder: erstens eine erhebliche Reduzierung ihrer Chancen auf einen guten Schulabschluss, zweitens einen mangelhaften Gesundheitszustand bedingt durch z.B. schlechte Ernährung und drittens eine verminderte Förderung und Teilnahme an kulturellen Aktivitäten. Hinzu kommt, dass auch das Familienleben in vielen Hartz-IV-Familien Problem beladen verläuft und sich negativ auf die Entwicklung der Minderjährigen auswirkt.

Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes

Den verhängnisvollen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungsbiografie haben zahlreiche nationale und internationale Studien deutlich gemacht, angefangen von PISA 2000 über die OECD-Untersuchung "Bildung auf einen Blick" bis hin zur vor kurzem veröffentlichten World Vision-Studie Kinder in Deutschland 2007.

19% der Kinder aus der Unterschicht sind auf einer Förderschule, im Vergleich zu 1% der Kinder aus der Oberschicht. Noch deutlicher zeigt sich der Effekt der Herkunftsschicht, wenn man die Kinder nach dem von ihnen gewünschten Schulabschluss fragt. 49% der Kinder benennen das Gymnasium oder das Abitur, wobei sich Mädchen und Jungen an dieser Stelle nicht relevant unterscheiden. Kinder aus der Unterschicht benennen nur zu 20%, Kinder aus der unteren Mittelschicht zu 32%, Kinder aus der Mittelschicht zu 36%, hingegen Kinder aus der oberen Mittelschicht zu 68% und Kinder aus der Oberschicht sogar zu 81% das Gymnasium oder das Abitur als Bildungsziel.

World Vision, "Kinder in Deutschland 2007"

Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) beschäftigt sich mit dem komplexen Thema, das je nach Instrumentalisierungsbedarf oft komplett ignoriert oder polemisch verzeichnet wird, seit 2002 im DJI-Kinderpanel. Im Rahmen dieser Langzeitstudie werden rund 2.400 Familien über einen Zeitraum von fünf Jahren begleitet, um insbesondere die Lebensbedingungen und die Entwicklung von Kindern im Alter zwischen fünf und dreizehn Jahren genauer untersuchen zu können. Anhand der Daten soll der Zusammenhang zwischen Kinderarmut und kindlicher Entwicklung analysiert und eine Antwort auf die Frage gefunden werden, „wie der Einstieg in eine drohende gesellschaftliche Exklusion – aufgefasst als systematische Kumulation von Entwicklungsdefiziten der Kinder - abläuft und dann auch wirksam verhindert werden kann“.

Gefährdung der sozialen Teilhabe

Auch das Deutsche Jugendinstitut traut sich keine exakte Aussage über die Anzahl derjenigen Kinder und Jugendlichen zu, die mit ihren Erziehungsberechtigten von weniger als 60% des Durchschnittseinkommens leben müssen und damit nach vorläufiger Definition als arm gelten. Feststeht allerdings, dass die Armut im allgemeinen und die Kinderarmut im besonderen in der Geschichte der Bundesrepublik „einen historisch neuen Höchststand“ erreicht und sich die Lage nach der Einführung von Hartz IV noch einmal verschärft hat. Derzeit dürfte jedes sechste Kind in Deutschland auf oder nur knapp über dem Sozialhilfeniveau leben.

Dabei spielen Kinder im öffentlichen Bewusstsein und der gesellschaftlichen Realität eine immer wichtigere Rolle. Neben dem spürbaren Zuwachs an Autonomie und Selbstbestimmung (Kinderrechte, Entscheidungsbefugnisse) hat die „Institutionalisierung der Kindheit“ durch Betreuungseinrichtungen aller Art stark zugenommen, und der Trend zur Kommerzialisierung der ersten Lebensjahre ist ebenfalls unverkennbar. Ob Kinder und Jugendliche tatsächlich an dieser Entwicklung teilnehmen, hängt allerdings entscheidend vom finanziellen Status ihrer Familie ab.

Wer in „strenger Armut“ (Einkommen liegt bei weniger als 40 Prozent des mittleren Familieneinkommens in der Bevölkerung), in „Armut" (Einkommen liegt zwischen 40 und 50 Prozent) oder „in Armutsnähe“ (Einkommen liegt zwischen 50 und 60 Prozent) lebt, hat in fast allen Bereichen schlechtere Ausgangschancen als der gehobene Mittelstand oder die Oberschicht.

So wächst der Anteil der Kinder, die von häufigen gemeinsamen Aktivitäten mit ihren Eltern berichten können, über die fünf Ebenen Unterschicht, untere, mittlere und obere Mittelschicht und Oberschicht von 5,4 auf 8,8, 15,5 und 20,2 bis auf 22,7 Prozent.

Auch das Konsumverhalten und Familienklima sind unmittelbar betroffen. So erinnert sich jeder vierte Achtjährige an Auseinandersetzungen mit der Mutter wegen des Kaufs von Markenkleidung. In allen anderen Gruppen liegt dieser Wert bei maximal 10,7 Prozent. Wenn es um Computerequipment, Haustiere und Lebensmittel geht, sind die Zahlenverhältnisse ähnlich deutlich. Doch Kinder aus armen Familien müssen sich nicht nur hinsichtlich ihrer Konsumwünsche einschränken und streiten deshalb öfter mit den vermeintlich Verantwortlichen. Sie haben auch deutlich mehr Schwierigkeiten, gute und verlässliche Freunde zu finden oder an attraktiven Freizeitangeboten teilzunehmen. Wenn sie dauerhaft in Armut leben, gibt es praktisch keine Chance, gegen die Stationierung am Rande der Gesellschaft zu opponieren und/oder aussichtsreichere Positionen einzunehmen. Für (zu) viele Menschen sind die sozialen Grenzen bereits im Kindes- und Jugendalter hermetisch abgeriegelt.

Einfluss auf die Persönlichkeit

Neben den gerade beschriebenen, mehrheitlich vorhersehbaren und bekannten Effekten, lassen sich mit den Daten des DJI-Kinderpanels auch Rückschlüsse auf die Beeinflussung der Persönlichkeitsbildung durch finanzielle Faktoren gewinnen. So führt die dauerhafte Armutserfahrung während der Grundschulzeit offenbar zu einer deutlich erhöhten motorischen Unruhe und fällt hier als auslösende Ursache stärker ins Gewicht als etwa der Bildungsgrad der Mutter, das Geschlecht des Kindes oder die Familienstruktur, in der es aufwächst.

Die Gleichaltrigenbeziehungen (Peers) können die Persönlichkeitsbildung ebenfalls entscheidend beeinflussen und unterstützen bei Kindern aus der Mittel- und Oberschicht nicht nur die soziale und kognitive Aufgeschlossenheit und das positive Selbstbild – sie hemmen in der Regel auch die Tendenz zur sogenannten Externalisierung und unterbinden damit aggressives und gewalttätiges Verhalten. Den Kindern aus armen Familien fehlen oft vergleichbare Maßstäbe und Vorbilder, aber auch die Wohn- und Lebensbedingungen, die eine ungehemmte Entfaltung der Persönlichkeit begünstigen könnten. Bei ihnen wirkt das sozio-strukturelle Umfeld deshalb nicht selten in die entgegen gesetzte Richtung. Armut bekommt so quasi-genetische Qualitäten: Aus armen Kindern werden arme Eltern.

Leistungsdifferenzen

Dass arme und reiche Kinder aufgrund der völlig unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen nur sehr selten identische Leistungen erbringen können, liegt auf der Hand. Allerdings zeigen die Untersuchungen des DJI-Kinderpanels, dass der Zeitfaktor hier eine entscheidende Rolle spielt: Je länger Kinder in armen Verhältnissen leben, desto häufiger wirkt sich die finanzielle Situation auf die schulischen Leistungen aus. Fast jedes zweite arme Kind hat eklatante Probleme im Rechnen – bei Kindern, die selten oder nie von Armut betroffen sind, liegt der Wert zwischen 15 und 20 Prozent. Aber auch umgekehrt wird ein Problem daraus: 8 Prozent aller dauerhaft in Armut lebenden Kinder kommen mit mathematischen Aufgaben sehr gut klar, während die anderen Gruppen hier Werte von bis zu 41 Prozent erzielen.

Die soziale Situation wirkt sich in vielen Fällen auch auf das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen und die Selbsteinschätzung ihrer Leistungsfähigkeit aus. Auf die Frage, ob sie eine gute Arbeit schreiben, wenn sie sich vorher entsprechend anstrengen, antworten 98 aller nicht von Armut betroffenen Kinder mit „ja“. Bei den armen Altersgenossen sind es nur 89 Prozent. Knapp 10 Prozent sind also schon im Kindesalter davon überzeugt, dass sie ihre Situation durch Anstrengung und eigenes Bemühen nicht mehr verändern können.

Investitionen in die Zukunft

Man kann dieser Situation mit Achselzucken begegnen, auf die leeren öffentlichen Kassen verweisen oder sich selbst für unzuständig erklären. Damit sie sich nicht noch weiter verschlimmert, wären freilich kompetente Analysen und effektive Gegenmaßnahmen erforderlich. Wolfgang Gern, Sprecher der Nationalen Armutskonferenz, sieht im wesentlichen drei Gründe für die prekäre Lage:

Die Zunahme von nicht existenzsichernder Arbeit im Niedriglohnsektor, die Verschlechterung der finanziellen Lage durch den Regelsatz von Hartz IV, die Deregulierung der sozialen Infrastruktur im öffentlichen Sektor – vor allem in sozialen Brennpunkten. Ursächlich für Armut ist die jeweilige Erwerbsstruktur in den Familien. Kinderarmut ist dort am größten, wo Eltern Schwierigkeiten haben, sich auf dem Arbeitsmarkt zu positionieren, das heißt vor allem bei Alleinerziehenden, bei Familien mit drei oder mehr Kindern, und bei Familien mit Migrationshintergrund.

Wolfgang Gern

Nach Gerns Einschätzung trägt die Politik in Bund, Ländern und Kommunen aber auch konkret und vor Ort dazu bei, dass Kinder und Jugendliche immer häufiger von Armut bedroht werden. Zwar könnten Bildungsprogramme und gezielte Förderinstrumente die Probleme nicht allein beheben, ohne sie fehlten allerdings jegliche Voraussetzungen für die Herstellung von Chancengleichheit.

Bei seit Jahren eingefrorenen unzureichenden Regelsätzen, die den Aspekt Bildung mindestens rechnerisch ausklammern, haben sehr viele Länder und Kommunen ihre Zuschüsse für arme Kinder und Jugendliche – etwa für Schulbücher oder Schülerbeförderung – pro Kopf nicht in der früheren Höhe halten können und z.B. Eigenbeteiligungen eingeführt oder Fahrtkostenzuschüsse gestrichen. Damit ist das Existenzminimum von Kindern deutlich unter das Niveau von 2004 gefallen – und das bei erheblich gestiegenen Verbraucherpreisen.

Wolfgang Gern

Die Nationale Armutskonferenz fordert vor diesem Hintergrund endlich eine „realitätsnahe“ Berechnung des Existenzminimums von Kindern, die neben den Bereichen Bildung und Betreuung auch den Bedarf für Wachstum und Entwicklung umfasst. Teile dieses Existenzminimums könnten als Sachleistungen etwa in Form kompletter Lernmittelfreiheit „ausgezahlt“ werden.

So wichtig auch ein Ausbau einer sozialen Infrastruktur für Kinder und Jugendliche ist, den die Bundesregierung nun deutlich vorantreiben möchte, er darf nicht ohne die Sicherstellung des Existenzminimums geschehen. Ohne Verteilungsgerechtigkeit wird es keine Teilhabe- und Chancengerechtigkeit geben können.

Wolfgang Gern

Der studierte Physiker, Soziologe und Jurist Gerhard Beisenherz, Autor des vor fünf Jahren erschienenen und mittlerweile prophetisch anmutenden Bandes „Kinderarmut in der Wohlfahrtsgesellschaft. Das Kainsmal der Globalisierung“, kritisiert in diesem Zusammenhang beispielhaft die „Monetarisierung“ der städtischen Infrastruktur, die sich in der Erhöhung von Eintrittspreisen, Aufnahme- und Mitgliedgebühren ausdrückt und vom Schwimmbad über Musikschulen und Sportvereine bis zum öffentlichen Nahverkehr reicht. Um zu verhindern, dass Kinder immer früher ihre „Exklusionskarrieren“ beginnen, müsse diese Entwicklung wieder rückgängig gemacht und stattdessen gezielt in Bildungs-, Freizeit- und Kulturprogramme für Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien investiert werden.

Denn um die Vererbung von Armut über den Bildungskanal zu verhindern, müssen wir genau da ansetzen, wo die Ausstattung der Eltern mit kulturellem Kapital das selbst nicht gestattet. Das heißt wir brauchen niedrigschwellige und möglichst aufsuchende Angebote – vergleichbar dem Ansatz des Frühförderprogramms Opstapje – für genau diese Zielgruppe der bildungsfernen und zugleich armen Familien. (…) Dafür gibt es sehr erfolgreiche Modelle auch in anderen Ländern, die aber, wenn man sie ernst nimmt, auch Kosten verursachen. Billig ist das alles nicht zu bekommen.

Gerhard Beisenherz

Der Kinderschutzbund fordert für die Kinder von ALG II-Empfängern oder Empfängern von Leistungen nach SGB XII und AsylbG ergänzend die Möglichkeit, ganztägige Bildungseinrichtungen kostenlos besuchen zu können. Ob diese Investitionen bewilligt und getätigt werden, erscheint derzeit mehr als fraglich. Schließlich ist der Armutsbericht der Bundesregierung auch ein Reichtumsbericht und dokumentiert als solcher nicht nur die finanzielle Lage von 50 Prozent aller bundesdeutschen Haushalte, die zusammen weniger als 4 Prozent des gesamten Nettovermögens besitzen. Er beschreibt auch die Situation der 10 Prozent, die knapp 47 Prozent des gesamten Nettovermögens auf sich vereinen und ihren Anteil im Zeitraum von 1998 bis 2005 um gut zwei Prozentpunkte steigern konnten. Hier dürfte das Interesse an grundlegenden Veränderungen und einer größeren Verteilungs-, Teilhabe- und Chancengerechtigkeit vergleichsweise gering sein.