Bahn frei für Streik

Die Lokführergewerkschaft GDL kämpft nicht mehr nur für mehr Geld, sondern auch für historische Rechte aller Arbeitnehmer

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Jetzt wird es ernst für die Deutsche Bahn AG: Nachdem sich die Lokführergewerkschaft GDL am vergangenen Freitag das Recht erstritten hat, ihren Arbeitskampf auch im Güter- und Fernverkehr zu führen, kommen auf den Konzern Millionenkosten zu, wenn er nicht einlenkt. Trotz der gerichtlichen Niederlage bleibt die Konzernführung bislang jedoch hart. Statt sich an den Verhandlungstisch zu setzen, schreibt Bahnchef Hartmut Mehdorn Briefe an die Bundeskanzlerin. Sprecher des Unternehmens denken derweil öffentlich darüber nach, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen.

Am Freitag hatte das sächsische Landesarbeitsgericht eine Einstweilige Verfügung aufgehoben, die eine untergeordnete Instanz in Chemnitz zu Beginn des Tarifstreits erlassen hatte. Die Entscheidung, die unter Mitwirkung von Laienrichtern zustande gekommen war, hatte seither für rege Debatten gesorgt. Im Zentrum stand und steht eine Frage: Darf einem Arbeitnehmerverband das Recht auf einen Arbeitskampf von vornherein gerichtlich aberkannt werden?

Längere Streiks in der Geschichte

Um dies zu erreichen, hat die Arbeitgeberseite im Tarifstreit bei der Bahn das Argument der Verhältnismäßigkeit vorgebracht. Der Grund des Streiks müsse, so heißt es, mit den wahrscheinlichen Folgen der Aktion abgeglichen werden. Dieser politisch-juristischen Strategie hat der Vorsitzende Richter Werner Leschnig in Chemnitz Einhalt geboten. Streiks im Güter- und Fernverkehr stünden durchaus im Verhältnis mit den Forderungen der GDL, urteilte der Jurist - und brachte die Konzernführung damit in Bedrängnis. Denn nach den geringfügigen Arbeitsniederlegungen im S-Bahn-Verkehr droht die GDL nun mit dem "stärksten und härtesten Arbeitskampf", den der Konzern bisher erlebt habe. Der aber wehrt sich wie gehabt: Die Gewerkschaft soll mit der beharrlichen Weigerung, ein neues Angebot zu unterbreiten, zum Einlenken bewegt werden. Dabei wurde das einzige Angebot der Bahn von den Lokführern bereits abgelehnt. Sie und das übrige "fahrende Personal" sollten demnach 4,5 Prozent mehr bekommen - statt der geforderten 31 Prozent.

Vor allem wegen der überspitzten Darstellungen der Unternehmerseite könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Auseinandersetzung bei der Bahn neue Standards setzt. Schon ein flüchtiger Blick in die (west)deutsche Streikgeschichte beweist das Gegenteil. Ein Kampf für Lohnfortzahlung im Krankheitsfall dauerte von 1956 bis ins Folgejahr. Damals traten mehrere Zehntausend Beschäftigte der Stahlindustrie in den Ausstand - 114 Tage lang. Solche Auseinandersetzungen gehören offenbar aber der Vergangenheit an. Nach Angaben der Hans-Böckler-Stiftung, die dem Gewerkschaftsdachverband DGB nahe steht, wurden von 1996 bis 2005 in Deutschland durchschnittlich 2,4 Tage jährlich pro Tausend Beschäftigte gestreikt. In Frankreich seien es 71 Arbeitstage gewesen, in Spanien gar 144.

Darstellungen, nach denen Streiks das Land zum Erliegen bringen, scheinen vor diesem Hintergrund übertrieben. Das gilt auch für den Konflikt bei der Bahn. Denn sowohl für die bisherige Streikdauer, als auch für die Forderung ist alles andere als unverhältnismäßig. Was selten erwähnt wird: Durch die Übernahme von Lokführern des DDR-Bahnbetriebes sind die Löhne in der Branche deutlich unter den europäischen Durchschnitt gesenkt worden, wo sie bis heute verharren.

Angriff auf das Streikrecht

So scheint neben dem Streit um die Forderungen der GDL eine andere Zielsetzung die Fronten zu verhärten. Ungeachtet des Chemnitzer Urteils von Freitag wird der Arbeitskampf der Lokführer aus dem Unternehmerlager und von Wirtschaftsliberalen genutzt, um das Streikrecht generell in Frage zu stellen. Im Fernsehsender Phoenix forderte der Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Martin Kannegießer, die Schwelle vor einen Arbeitskampf "relativ hoch" anzulegen. Im Interview mit dem Deutschlandfunk führte er diese Forderung weiter aus:

Die Schwellen allerdings dürfen nicht so niedrig sein, insbesondere dann, wenn erhebliche Schäden zu erwarten sind, die in keinem Verhältnis stehen zu dem, worum es insgesamt geht. Die Bahn ist nun nicht ein Unternehmen wie jedes andere.

Martin Kannegießer, Vorsitzender von Gesamtmetall

Das Argument drohender wirtschaftlicher Schäden wurde von dem Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) gestützt. Nach drei Tagen Streik würde täglich ein Verlust von schätzungsweise 50 Millionen Euro entstehen. Nach zehn Tagen vervielfache sich der Schaden auf bis zu 500 Millionen Euro täglich, hieß es aus dem DIW, ohne dass die Berechnungsgrundlagen erläutert wurden.

Die neue Dimension der Auseinandersetzung zeigt sich allein in dieser Argumentation. Das Recht auf Streik soll gegen den potentiell entstehenden wirtschaftlichen Schaden abgewogen werden. Die beharrliche Weigerung des Bahnkonzerns, über andere Abschlüsse als den selbst angebotenen zu verhandeln, ist vor diesem Hintergrund verständlich. Man will so lange warten, bis der Druck auf die GDL zu groß wird. Deren Vertreter setzen das Mittel des Streiks daher vorsichtig ein. GDL-Vize Claus Weselsky erteilte Forderungen aus den eigenen Reihen nach einem unbefristeten Streik bereits eine Absage. Man wolle die Republik schließlich nicht zum Stillstand bringen. Es gilt aber auch, was der Anwalt der Gewerkschaft, Ulrich Fischer, sagte:

Ein Streik, der keinen Schaden verursacht, ist kein Streik. Das ist ein Säuseln im Wind.

Ulrich Fischer, Anwalt der GDL

Die Zeichen stehen also auf Sturm im Tarifkampf bei der Bahn. Die Frage ist, wer von diesem Sturm am Ende umgerissen wird. Die Gewerkschaft, der Konzern oder das historisch erkämpfte Recht auf Streik.