Schleichender Störfall

Industriechemikalien: Perfluortenside kontaminieren die Umwelt - Teil 1

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Perfluortenside (PFT) erfreuen sich einer großen Beliebtheit: Vorzeigeinnovationen aus Chemie und Materialforschung wie wasserdichte und atmungsaktive Funktionsbekleidung, schmutzabweisende Teppiche, antihaftbeschichtete Küchenutensilien, fettabweisende Lebensmittelverpackungen und viele andere Produkte sind ohne sie nicht denkbar. Doch seit dem Jahr 2000 schwillt die Flut der Berichte und wissenschaftlichen Publikationen an, die sich mit einer bis dato übersehenen Facette dieser Verbindungen befassen – ihrer mittlerweile ubiquitären Verbreitung in der Umwelt.

PFT in den USA: DuPont und das große Schweigen

Bei einem Testprogramm, das der US-amerikanische Chemiekonzern DuPont 1984 am Trinkwasser der Little Hocking Water Association in Ohio, gleich auf der anderen Flussseite gegenüber der DuPont-Teflonfabrik in Parkersburg, West Virginia, durchführen ließ, wurde eine Chemikalie gefunden, die aus der Teflon-Produktion stammen musste – Perfluoroctansäure (auch als PFOA oder C8 bekannt).

Das noch bis mindestens 1989 fortgeführte Testprogramm blieb geheim, weder die Anwohner, noch die Wasserwerke oder die Behörden wurden informiert. Dabei sieht der Toxic Substances Control Act die Benachrichtigung der Umweltbehörde EPA vor. Diese forderte 1997 alle vorliegenden toxikologischen Daten an, doch DuPont kam dieser Forderung nicht nach. Erst 2002, als bekannt wurde, dass das Trinkwasser der Nachbargemeinde Lubeck kontaminiert ist, erfuhren die Bewohner Little Hockings, dass sie jahrzehntelang belastetes Trinkwasser zu sich genommen hatten.

DuPont begann mit den Tests, drei Jahre nachdem ein Werksarzt PFOA im Blut weiblicher Arbeitskräfte fand. Das Unternehmen dokumentierte ebenfalls den Ausgang der Schwangerschaften der Frauen und ließ diese bald aus dem Produktionsprozess versetzen. Andere interne Dokumente belegen, dass man bei DuPont schon 1980 um die Persistenz und Giftigkeit von PFOA sowie von den damit verbundenen Gesundheitsrisiken wusste. DuPonts PFOA-Zulieferer, 3M, hatte neue Daten zur Verweilzeit von PFOS und PFOA im menschlichen Körper veröffentlicht. In der Folgezeit erkannte man bei 3M die damit verbundenen Gefahren. Die Perfluor-Industrie war gewarnt. 3M ist zwar mittlerweile aus der PFOS und PFOA-Produktion ausgestiegen, doch die Folgen sind nach wie vor unübersehbar. Die ehemalige Produktionsstätte und eine nahe gelegene 3M-Müllhalde in Cottage Grove bei Saint Paul, Minnesota, sind nach wie vor die bedeutendsten Perfluortensid-Einträger am Mississippi. Eine Sammelklage von Betroffenen wurde nicht zugelassen.

Gegen DuPont wurde ebenfalls eine Sammelklage angestrengt. 2005 stimmte das Unternehmen einer Zahlung von mindestens 107 Millionen US-Dollar zu. (Zum Vergleich: von Teflon abgeleitete Produkte haben einen Anteil an den jährlichen Gewinnen des Unternehmens von mindestens 100 Millionen US-Dollar). Bestandteil der Einigung ist der Einbau von Filteranlagen in sechs kleinen Wasserwerken der anliegenden Gemeinden in Ohio und West Virginia, darunter auch in Little Hocking. Im gleichen Jahr musste der Konzern der EPA eine Vergleichssumme in Höhe von ca. 16.5 Millionen US-Dollar zahlen – das höchste je von der EPA verhängte Bußgeld. Fünf Millionen US-Dollar davon sollen in weitere Studien zu den Eigenschaften von PFOA gehen, die dessen weltweite Verbreitung erklären könnten. DuPont betont jedoch nach wie vor, dass keine von PFOA ausgehenden Beeinträchtigungen der menschlichen Gesundheit bekannt sind.

Den Shareholdern bereiten die Bußgeldzahlungen keine größeren Kopfschmerzen. Hier erinnert man sich noch an die 1990er Jahre, an die Zahlung von einer Milliarde US-Dollar in der Folge der Prozesse um das Fungizid Benomyl (Benlate), dessen Produktion 2001 eingestellt wurde.

Was sind Perfluortenside?

In perfluorierten organischen Verbindungen sind sämtliche Wasserstoffatome des Kohlenstoffgerüsts durch Fluoratome substituiert. Die hohe Ionisierungsenergie des Fluors, kombiniert mit dessen geringer Polarisierbarkeit, führt zu schwachen inter- und intramolekularen Wechselwirkungen – und letztendlich zu den bemerkenswerten Eigenschaften dieser Stoffgruppe. Die Kohlenstoff-Fluor-Bindung ist die stabilste bekannte Bindung in der organischen Chemie – deshalb sind perfluorierte organische Verbindungen chemisch und thermisch stabiler als ihre Kohlenwasserstoff-Pendants. Gerade diese Stabilität schien jahrzehntelang synonym zu sein mit ökologischer Unbedenklichkeit.

Die oberflächenaktiven Perfluortenside bestehen aus einem perfluorierten Kohlenstoffgerüst sowie einer funktionellen Kopfgruppe. Die hydrophile Kopfgruppe kann mit wässrigen Phasen in Wechselwirkung treten, während die perfluorierte Kohlenstoffkette öl-, fett- und wasserabweisende Eigenschaften hat. Perfluortenside sind amphiphil (sowohl hydrophil als auch lipophil) und grenzflächenaktiv. Stofflich können Perfluortenside grob in perfluorierte Carbonsäuren, perfluorierte Alkylsulfonate sowie in Fluortelomeralkohole unterteilt werden.

Perfluoroctansäure (PFOA), C7F15COOH, wird durch elektrochemische Fluorierung von Octansäure in Fluorwasserstoff gewonnen. PFOA kann bei der Überhitzung von Teflon entstehen; es tritt als Prozessemission und als Verunreinigung in Endprodukten wie z.B. in Konsumgegenständen auf. Die Abkürzung PFOA wird auch häufig verwendet, wenn von den Salzen der Perfluoroctansäure gesprochen wird.

Stabilität und Amphiphilie begründen die Vielfalt der Verwendungsmöglichkeiten von PFT. Sie kommen vor allem in der Textilindustrie und in der Papierveredelung zum Einsatz. Weitere Anwendungen finden sich als Feuerlöschmittel-Schäume oder als Nebelunterdrücker in den Säurebädern der galvanischen Verchromung. Perfluoroctansäure dient als Emulgatorsubstanz bei der industriellen Erzeugung von Fluorpolymeren wie Polytetrafluorethylen oder „Teflon“ (PTFE) sowie Polyvinylidenfluorid (PVDF).

Perfluoroctansulfonat (PFOS)

Unterschiedliche Funktionalisierungen sind bekannt – wichtig sind die Metall- und Ammoniumsalze der Perfluoroctansulfonsäure sowie abgeleitete Sulfonylhalogenide und das Sulfonamid. Die weltweite Produktion des PFOS-Vorläufers Perfluoroctylsulfonylfluorid wurde für das Jahr 2000 mit 3.665 Tonnen beziffert. PFOS und PFOA sind die mittlerweile bekanntesten Vertreter einer Stoffgruppe mit mehr als 350 weiteren Stoffen, die sich von ihnen ableiten. PFOS weist eine deutlich höhere Bioaffinität als PFOA auf. Perfluoroctansulfonate finden z.B. sich in Teppichen, Ledermöbeln, Textilien, Verpackungen und Reinigungsmitteln.

Die Bevölkerung der Industrienationen lebt mit Perfluortensiden im Blut

Die Giftwirkung von PFOS und PFOA gilt als gut untersucht. Sie sind nicht biologisch abbaubar, weder unter aeroben, noch unter anaeroben Bedingungen.1 Sie sind Endmetaboliten. Im Tierversuch wirken sie nach kurzzeitiger Belastung mäßig giftig, Langzeitstudien jedoch berichten von Entwicklungsstörungen, häufigerem Auftreten von Carcinomen sowie Tumorentwicklungen in Leber, Bauchspeicheldrüse, Hoden, Brust und Schilddrüse. Die Übertragbarkeit der Ergebnisse der Tierversuche auf den Menschen ist umstritten. Bei Chemie-Arbeitern von 3M - die über lange Zeit einer hohen PFT-Belastung ausgesetzt waren, ist ein häufigeres Auftreten von Blasen- und Prostatakrebs festgestellt worden.

Perfluortenside wie PFOS und PFOA werden seit mehr als 50 Jahren produziert und haben Trinkwasser und Nahrungskette erreicht. Besonders betroffen sind marine Säugetiere und andere Fischfresser industrialisierter Gebiete (Ostsee, Mittelmeer, die Großen Seen, entlang der Küste von Asien doch auch in der Arktis und in Alaska).2 Sie wurden unter anderem in ostdeutschen Seeadlern, italienischen Mittelmeer-Delfinen, Forellen vom Ontariosee oder arktischen Eisbären nachgewiesen. In einem Naturschutzgebiet, ganz in der Nähe der 3M-Produktionsstätte von Antwerpen, wurde der bisherige PFOS-Konzentrations-Rekord registriert - in der Leber von dort vorkommenden Waldmäusen.

PFT reichern sich nicht wie die meisten POPs ("Persistent Organic Pollutants") im Fettgewebe an, sondern in Muskelgewebe, Niere, Leber und Gallenblase; außerdem vermögen sie Bindungen mit Proteinen des Blutserums einzugehen.

Säugetiere können PFOS und PFOA oral oder inhalativ aufnehmen. Sie passieren leicht die Blut-Hirn- sowie die Blut-Plazenta-Schranke und wurden nach Aufnahme mütterlicherseits auch in Föten und Neugeborenen nachgewiesen. Beide Stoffe werden kaum ausgeschieden. Die biologische Halbwertszeit von PFOS im menschlichen Blutplasma wird mit 8.7 Jahren angegeben (Ratten: 7.5 Tage); für PFOA beträgt sie 4.4 Jahre. Bisher gibt es keinen Nachweis für mutagene Eigenschaften. Die in der Umwelt angetroffenen Konzentrationen gelten als nicht akut toxisch. Bei Studien zur subchronischen Giftigkeit in Nagetieren und Primaten fand man schon bei niedrigen Konzentrationen leberschädigende, immuno- und neurotoxische Reaktionen. Besonders kritisch werden die Befunde der Tierversuche hinsichtlich der Beeinträchtigung der Entwicklung bewertet.

Aufgrund weltweiter Nachweise – und aufgrund seiner fortpflanzungsgefährdenden und kanzerogenen Eigenschaften - wird PFOS gegenwärtig als besonders kritisch eingestuft. Es erfüllt nach bisher vorliegenden Studien die Kriterien, um als persistent, bioakkumulativ und toxisch eingestuft zu werden; sein Vorkommen in der Arktis ist beredtes Beispiel seiner Transportfähigkeit über weite Strecken. PFOA weist eine ebenfalls hohe Persistenz auf; Bioakkumulation sowie Transport- und Verteilungsmechanismen sind Gegenstand aktueller Forschung. Andere Perfluortenside wie Fluortelomeralkohole können zu PFOS und PFOA abgebaut werden und sollten ebenfalls in die Risikobewertung einbezogen werden. Weitere Perfluor-Verbindungen sind bisher noch gar nicht ins Blickfeld der Untersuchungen gerückt.

1968 erschien ein Nature-Artikel über die zufällige Entdeckung fluororganischer Verbindungen im Humanserum. Die Forscher hatten auf ihrer Suche nach Fluoriden im Blutserum kovalente Kohlenstoff-Fluor-Verbindungen festgestellt. Perfluortenside konnten nach Einführung verbesserter Analysenmethoden nachgewiesen werden – der Nachweis von PFOS und PFOA im menschlichen Blut wurde erst im Jahre 2001 publiziert.3 Dem Chemiekonzern DuPont jedoch war bereits Anfang der 1980er Jahre bekannt, dass das Blut von Betriebsangehörigen mit dem Ammoniumsalz der Perfluoroctansäure kontaminiert war.

Im II. Teil: PFT-Funde in Deutschland, PFT und REACH, Erinnerungen an das „Dreckige Dutzend“