Die militärische Abschottung Europas

Interview mit dem Menschenrechtler Elias Bierdel, der zusammen mit Pro Asyl dokumentierte, wie die EU geltendes Völkerrecht missachtet

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Der Kölner Journalist und Buchautor Elias Bierdel erhielt am 8. November den Georg-Elser-Preis für sein Engagement für Flüchtlingsrechte. Im Juni hatte Bierdel die Organisation Borderline Europe mitbegründet (Die Toten, die niemand sehen will), die auf das Massensterben von Flüchtlingen an den europäischen Außengrenzen aufmerksam machen will. Im Sommer nahm er an einer von der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl initiierten Recherchereise nach Griechenland teil. Er gehört zu den Autoren der Reisedokumentation, die Ende Oktober veröffentlicht wurde.

Die Gewässer vor Lampedusa, Gibraltar oder - wie hier - vor den Kanaren sind, so Borderline Europe, "das größte Massengrab Europas". Foto: Burkhard Lehde/INFOCANARIAS

Herr Bierdel, Ihnen wurde für Ihr Engagement der Georg-Elser-Preis zugesprochen. Wie haben Sie diese Nachricht aufgenommen?

Elias Bierdel: Ich habe erstmal einen Schreck bekommen, weil ich mich gefragt habe, was genau mich mit jemandem verbindet, der eine Bombe gelegt hat. Dabei gab es acht Tote und sechzig Verletzte. Ich glaube aber, dass diese Art von Schrecken wichtig ist, wenn man in dieser Reihe des deutschen Widerstandes plötzlich eine Ehrung erfährt. Ich bin jemand, der unter völlig anderen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – Deutschland ist eben keine Diktatur mehr – etwas tut, das im Prinzip normale staatsbürgerliche Pflicht sein sollte. Ich weise darauf hin, dass an den EU-Außengrenzen tausende Leute sterben.

Georg Elser war ein Tischler aus München, der erfolglos versucht hat, Hitler wegzubomben, und dann später im KZ hingerichtet wurde. Da gibt es schon Verbindendes, also vor allem, aus eigenem Antrieb aufzustehen und zu sagen: So geht es nicht. Elser wollte ja einen Krieg verhindern, was ihm nicht gelungen ist, denn der Krieg hatte schon begonnen. So geht es mir auch. Auch ich hätte gerne einen Krieg verhindert, der aber leider schon begonnen hat, und das ist der Krieg gegen Flüchtlinge.

Im Sommer haben Sie an einer von der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl initiierten Recherchereise nach Griechenland teilgenommen und sind Mitautor des am 29. Oktober veröffentlichten Berichts…

Elias Bierdel: Ich wurde auf das Thema durch die Art gestoßen, wie man uns damals abgegriffen hat, als wir mit der Cap Anamur 37 Flüchtlinge aus dem Meer gerettet hatten, die offenbar in Europa in einem solchen Maß unerwünscht sind, dass man sie lieber da draußen sterben sehen würde. Da ergab sich die Frage, wie ich damit umgehen soll, dass ich mich als Schlepper angeklagt vor Gericht wieder finde? Mir war wichtig, einen Weg zu finden, wie man damit arbeiten kann.

Jetzt haben wir mit Freunden zusammen, unter anderem dem mitangeklagten Kapitän Stefan Schmidt, die Organisation Borderline-Europe gegründet, die sich speziell die Situation an den Außengrenzen anschaut, wo so viele Leute unter ungeklärten Umständen verschwinden oder sterben. Es ist wichtig für mich, etwas tun zu können, anstatt nur da zu sitzen und mich ungerecht behandelt zu fühlen.

Daraus hat sich ergeben, dass ich im Frühjahr in Griechenland war. Wir wussten seit längerer Zeit schon, dass dort rüde Methoden seitens der Küstenwache herrschen. In Griechenland war das gesamte Problem der illegalen Migration übers Meer noch gar nicht richtig öffentlich diskutiert worden. Das ist in Spanien und Italien anders. Dort wissen die Menschen, worum es geht. In Griechenland gab es hingegen ein sehr merkwürdiges Schweigen zu diesem Thema. Ich war früher da und habe am Strand Schlauchbootwracks fotografiert. Die Küsten der kleinen Inseln wie Chios oder Samos sind nur wenige hundert Meter vom asiatischen Festland entfernt. Daher versuchen viele, an dieser Stelle rüber zu kommen. Wenn man nun wie ich dort zahlreiche zerschnittene Fetzen von Schlauchbooten findet, aber die Leute nicht da sind, die versucht haben, mit diesen Booten rüber zu fahren, dann kann man bestimmte Fragen stellen. Das habe ich gemacht. Unter anderem im Asylbüro in Frankfurt. Wir haben dann zusammen schnell entschieden, dass Pro Asyl diese Arbeit finanziert und dass wir im Sommer systematisch recherchieren wollen, um herauszufinden, was da eigentlich los ist.

Was haben Sie an den europäischen Außengrenzen erlebt und gesehen?

Elias Bierdel: Gleich in meinem allerersten Interview mit einem Flüchtling auf der Insel Chios, einem Palästinenser aus dem Libanon, habe ich Details erfahren, die ich mir niemals hätte vorstellen können. Es ging um regelrechte Folterungen auf hoher See bis hin zur Scheinhinrichtung. Der Mann ist von der Küstenwache mit dem Kopf unter Wasser getaucht worden, man hat ihm eine Plastiktüte über den Kopf gezogen und zugehalten, bis er keine Luft mehr bekam.

All das hat mich völlig niedergeschlagen in dem Augenblick. Ich brauchte ein paar Tage, um mich überhaupt wieder zu motivieren für diese Arbeit. Wir haben sie fortgesetzt, nachdem uns auf verschiedenen Inseln von Angehörigen völlig verschiedener ethnischer Gruppen ganz ähnliche Sachen berichtet wurden. Da war uns klar, dass das nicht abgesprochen ist, sondern dass wir es mit systematischen Techniken zu tun haben, die die Küstenwache anwendet, um Flüchtlinge abzuwehren. Auch daher geht die Zahl der Toten steil nach oben.

All das haben wir schriftlich niedergelegt und am 29.10. in Brüssel und Athen zeitgleich veröffentlicht. Wir hoffen, dass es was hilft, etwa in dem das Thema Parlamenten zugeleitet wird. In Griechenland jedenfalls hat es eingeschlagen wie eine Bombe. Zum Glück. Wir haben oft das Gefühl, an einem Thema zu arbeiten, das keiner so recht hören will. In Griechenland war das anders. Die haben diesen sehr harten Bericht, der schwerste Vorwürfe gegen griechische Behörden enthält, nicht unter den Teppich zu kehren oder zu leugnen versucht. Im Gegenteil, es gab eine Fragestunde im Parlament. Abgeordnete einiger Parteien haben sich ganz klar zu ihrer Scham über diese Umstände bekannt. Es gab eine Riesenkampagne mit Presse und Öffentlichkeit. Wir hoffen, dass sich jetzt was ändert. Der erste Schritt ist schon mal, dass der Chef der Küstenwache, den man nur als Faschisten bezeichnen kann, am 7. Dezember in den Ruhestand verabschiedet wird.

Es sind Zonen der Rechtlosigkeit entstanden

Sie haben eben den Begriff „systematisch“ benutzt, der auch im Bericht auftaucht…

Elias Bierdel: Das fängt an mit dem eben erwähnten Chef der Küstenwache, der als lokaler Befehlshaber allein zu entscheiden hat. Die Aufgabe, die Europa bzw. die griechische Regierung ihm stellt, lautet: Sorge dafür, dass keiner mehr rüberkommt. Aber natürlich heißt es eigentlich auch, dass dabei keine Gewalt angewendet werden darf.

Das ist ja immer unsere europäische Heuchelei. Unsere Einheiten, Frontex und andere, sollen die Boote stoppen und zur Umkehr bewegen, ohne Gewalt anzuwenden. Doch so läuft das Spiel nicht. Es ist klar, dass diese Menschen auf den Booten nach Europa wollen. Dann greift dieser Chef der Küstenwache zu Methoden, die mit unserem Wertekatalog oder unseren Gesetzen wahrhaftig nicht in Einklang sind. Er persönlich ist der Überzeugung, dass es sich nicht um Flüchtlinge, sondern um Terroristen handelt. Auch bei den minderjährigen Afghanen und Irakern beispielsweise. Feindliche Krieger, islamistische Kämpfer, die kommen, um Europa in den Abgrund zu reißen. Hier entsteht ein Chorgeist in der Behörde, wo klar ist: Das sind Feinde. Nicht Menschen, die Hilfe und Schutz bei uns suchen, und die auch Anspruch darauf haben, sondern Feinde, die abgewehrt werden müssen.

Was wir festgestellt haben ist: Es gehört zu den gängigen Techniken, dass Boote da draußen nicht nur gestoppt und die Insassen verprügelt und ausgeraubt werden. Sie werden auf unbewohnten Felseilanden ausgesetzt, wo sie teils tagelang ohne Kleidung, Nahrung usw. ausharren, bis sie doch noch irgendjemand rettet. Es werden Flüchtlinge ins Wasser gestoßen, sie werden, wie schon erwähnt, regelrecht gefoltert. Es gibt eine ganze Palette von Techniken, die angewendet werden. Das ist kein Zufall. Wenn Sie mich nach der Systematik dieser Dinge fragen, dann fällt eines auf: Vieles davon erinnert an die Verhörpraktiken, die wir aus Guantanamo und Abu Ghuraib kennen. Ich frage mich, ob es dort irgendwelchen Austausch gibt, das möchte ich ernsthaft weiter untersuchen. Gibt es Kurse, in denen das unterrichtet wird?

Wie sieht denn die rechtliche Situation der Flüchtlinge aus? Bekommen sie zumindest juristischen Beistand? Gibt es vor Ort Gruppen oder gar Behörden, die versuchen, diese Menschenrechtsverletzungen zu unterbinden oder einzuschränken?

Elias Bierdel: Die von uns festgestellten Abwehrtechniken sind jetzt wenigstens öffentlich geworden. Wir werden genau beobachten, ob sich wirklich etwas ändert. Wir müssen befürchten, dass ähnliche Praktiken auch im Mittelmeer, vor Lampedusa und den Kanaren, nicht ganz unbekannt sind, um es vorsichtig auszudrücken, nachdem wir es punktuell nachweisen konnten.

Die rechtliche Lage der Flüchtlinge ist die, dass es kein Gesetz mehr gibt, das für sie gilt. Es sind Zonen der Rechtlosigkeit entstanden, die wir uns in Europa überhaupt nicht vorstellen konnten. Im Unterschied zur Lage vor Sizilien und den Kanaren, wo diese Boote irgendwo auf offener See sind, im Niemandsland auf dem Wasser, ist es hier so, dass sie, sobald sie die türkischen Gewässer verlassen, automatisch auf griechischem Gebiet und somit in Europa sind. Damit hätten sie Anrecht auf eine ganze Reihe von Rechtsmitteln, die sie geltend machen könnten. Beispielsweise müssten sie angehört werden. Wir wissen ja gar nicht, wer die Leute sind, und aus welchen Gründen sie unterwegs sind.

Immerhin gibt es noch das Versprechen, Menschen, die vor Verfolgung fliehen, Asyl zu gewähren. Aber wenn man sie nicht anhört, stellt man auch nicht fest, warum sie unterwegs sind, also gibt es diesen Anspruch nicht. Es ist ja auf der breiten Front so, dass sie nicht mal mehr das Recht auf Leben geltend machen können. Dabei gibt es das Verbot des Refulement. Man darf nicht Flüchtlinge daran hindern, ein rettendes Ufer zu erreichen. Man muss sie aufnehmen. All das ist in Flüchtlingskonventionen und internationalen Bestimmungen festgelegt. Aber dieses Recht wird ausgehebelt. Das ist die Katastrophe. Das ist für mich das Entscheidende und Erschütternde, dass es hier nicht so sehr darum geht, dass wir versuchen müssen, die Gesetze zu verbessern, sondern dass wir versuchen müssen, den existierenden Gesetzen Geltung zu verschaffen. Und das ist doch etwas, was jeden Europäer und auch jeden Deutschen aufs Höchste beunruhigen sollte, wenn er erlebt, dass in seinem Land, auf seinem Kontinent plötzlich allgemeines Völkerrecht de facto außer Kraft gesetzt wird.

Welche Haltung haben denn EU-Parlament und Bundesregierung zu diesen Sachverhalten?

Elias Bierdel: Fangen wir mit den Parlamentariern an. Die wissen tatsächlich meistens nicht wirklich, was da draußen passiert. Das liegt daran, dass es systematisch geheim gehalten wird. Ich war auch schon mit Delegationen von Europaparlamentariern dort, um ein Flüchtlingslager auf den Kanaren anzuschauen. Da wurde uns eine Kulisse vorgeführt, ausgefegte Zelte gezeigt und gesagt, dass nur wenige Leute hier seien und es keine Probleme gäbe. Es ist auch für Parlamentarier schwierig zu sehen, was tatsächlich passiert.

Das muss natürlich jeden Abgeordneten mit ein wenig Anstand beunruhigen. Seine Kontrollrechte werden ihm entzogen, weil die EU-Grenzschutzorganisation Frontex in Warschau nicht mehr im selben Maße wie normale Behörden der parlamentarischen Kontrolle unterliegt. Hier dürfen Abgeordnete nur noch über das Haushaltsvolumen abstimmen, aber nicht mehr darüber, wer was im Einzelnen tut. Das berührt unsere Demokratie im Kern. Diese Erkenntnis setzt sich nur sehr langsam durch. Europaparlamentarier wissen, dass dieses Thema die Seele Europas berührt und wir sehr genau hinschauen sollen, aber sie sind noch ein wenig hilflos. Das EU-Parlament ist, ja, wie wir wissen, auch nicht sehr stark.

In der EU-Kommission gibt es Leute wie den Kommissar Frattini, die das sehr wohl als Thema sehen und versuchen, auf eine europäische Solidarität hinzuarbeiten, die aber nicht funktioniert. Es geht darum, innerhalb von Europa die Lasten zu verteilen, die daraus bestehen, die Menschen, die an den Küsten landen, zur Prüfung ihrer Asylverfahren zu übernehmen, um dann anschließend zu sehen, was man mit ihnen macht. Es ist nicht einzusehen, warum Deutschland, das über hervorragende Einrichtungen, Infrastruktur, Fachleute verfügt, einfach sagt: Ist nicht unser Problem, bei uns kommt ja de facto keiner mehr an.

Bei der EU-Innenministerkonferenz unter deutscher Ratspräsidentschaft von Herrn Schäuble im Juni machten die Malteser diesen Vorschlag und sagten: „Die Leute wollen gar nicht zu uns, die wollen nach Europa. Insofern ist es doch richtig, wenn wir sie verteilen. Das ist für uns kleines Land so, als würden in Deutschland 1,4 Millionen im Jahr ankommen. Wir können das nicht mehr.“ Das wurde unter deutscher Präsidentschaft abgelehnt. Da bin ich einigermaßen verwundert. Es gibt eine große Menschenrechtsrhetorik, die beteuert, man wolle unter keinen Umständen zulassen, dass viele Menschen sterben. Aber wenn es darum geht, konkret zu helfen, ist keiner mehr zuständig. Das führt dazu, dass ein kleines Land wie Malta zunehmend die Grenzen dicht macht und niemanden mehr rettet. Und daran ist Berlin mitverantwortlich.

Wir müssen uns eingestehen, dass von diesen Menschen viele zunehmend durch aktive europäische Politik aus ihren Heimatregionen vertrieben werden

Welche Lösungsansätze sehen Sie, und worin wird Ihre weitere Arbeit bestehen?

Elias Bierdel: Wenn wir uns die Ursachen nicht anschauen, dann werden wir zu keiner Lösung kommen. Die Antwort Europas, die im Wesentlichen aus einer militärisch organisierten Flüchtlingsabwehr besteht, kann nicht der letzte Schluss sein. Vor allem wenn wir sehen, dass die Todeszahlen steil ansteigen. Nach letzten Schätzungen sterben heute bis zu 60% mehr Menschen als vor Beginn der Abschottungsmaßnahmen durch Frontex. Das können wir nicht beweisen, aber es ist ein Hinweis darauf, dass die „Erfolgsmeldungen“, die wir hören, bedeuten, dass deshalb weniger Menschen ankommen, weil mehr von ihnen gestorben sind.

Aus meiner Sicht ist das ein gefährlicher Irrweg, der das Problem an einem unzulässigen Ende angreift, zumal mit Gefahr für Leib und Leben für die Leute, um die es geht, und die in aller Regel mit gut nachvollziehbaren Gründen Schutz und Hilfe bei uns suchen. Was ich für den entscheidenden Punkt halte, ist: Wir müssen uns anschauen und eingestehen, dass von diesen Menschen viele zunehmend durch uns, durch aktive europäische Politik, aus ihren Heimatregionen vertrieben sind. Beispiel Handelsbedingungen. Unsere Agrarsubventionen für Produkte hier auf dem Kontinent zerstören die Märkte in Afrika. Das weiß ja nun schon jeder, das ist ja banal. Aber wie wirkt das?

Auf den afrikanischen Märkten, in Senegal beispielsweise, wo ich viel unterwegs war, liegen die zu Dumpingpreisen angebotenen Tomaten aus den Anbaugebieten Spaniens und Italiens, die dort übrigens auch mit Hilfe illegaler Einwanderer angebaut werden. Und weil die Erzeugnisse durch Steuersubventionen schon bezahlt sind, kann man sie zu beliebigen Preisen abkippen. Das ist eine Form von Müllentsorgung der Überschussproduktion, die wir früher noch für teures Geld vernichtet haben. Das wird jetzt einfach nach Afrika gebracht. Die Folge: Die Einheimischen Bauern können mit den Preisen nicht mehr konkurrieren, weshalb in diesen Agrarstaaten ganze Bevölkerungsschichten einbrechen.

Gleiches gilt für die Fischerei. Unsere Fischereiflotten vor den Küsten Senegals – bis vor kurzem eines der fischreichsten Gewässer der Erde – haben derartig zugeschlagen, dass die Fischer dort buchstäblich nichts mehr zu fischen und deshalb ihre eigenen Familien jetzt nichts mehr zum Leben haben. Und die machen sich auf zum Beispiel in Richtung Kanaren. Wer möchte ihnen das verdenken?

Selbst wenn wir den ganzen Bereich der extrem ungerechten Handelsbeziehungen, die Art, wie diese Welt wirtschaftlich organisiert ist, außer Acht lassen, dann sollen jetzt diese Länder, speziell Subsahara, auch noch die Last des Klimawandels tragen. Da geht es nicht um zwei Grad wärmer oder kälter, sondern darum, dass in absehbarer Zeit keine Lebensgrundlagen mehr da sind, dass es kein Trinkwasser mehr in bestimmten Ländern gibt. Wer ist dafür verantwortlich? Afrika ist an der Emission von Treibhausgasen nicht einmal mit 6% beteiligt. Daran kann es also nicht liegen.

Ist es nicht so, dass wir unseren maßlosen Lebenswandel, den wir hier traditionell auf Kosten von anderen, von Nachbarregionen, führen, und einem Reichtum, der auf Ausbeutung basiert, überdenken sollten? Ich meine ja. Wir sollten lernen, die Leute in den Booten als Warnzeichen ernst zu nehmen. Herbert Leuninger, einer aus der Gruppe der zornigen alten Männer – das sind ja nicht die schlechtesten -, ein ehemaliger katholischer Priester und Mitbegründer von Pro Asyl, nennt die Leute in den Booten „Botschafter der Ungerechtigkeit“. Das finde ich sehr klug, das hilft uns weiter. Wir müssen verstehen, dass es diese Botschaft ist, die für uns so wichtig ist. Darum wollen wir versuchen, die Bevölkerung dazu zu ermutigen, nicht nur mit Ängsten auf die Migrationsphänomene zu schauen, sondern mit einem möglichst klaren Blick.

Am Ende ist es auch in unserem Interesse, wenn wir aufhören, diese brutale und tödliche Politik zu betreiben, die Menschen das Überleben unmöglich macht, und am Ende auf sie zu schießen, wenn sie bei uns eine bessere Zukunft suchen. Es handelt sich um ein tabuisiertes Thema. Politiker wollen davon nach Möglichkeit nichts hören, denn sie haben keine schnellen Lösungen an der Hand.

Die Medien, speziell in Deutschland, haben dieses Thema bisher in skandalöser Weise ignoriert. Das ist für mich nicht nachvollziehbar. Ich habe in vielen Gesprächen mit werten Exkolleginnen und Kollegen versucht, das zu diskutieren, und die konnten mir nicht erklären, warum der Tod von zehntausenden Menschen kein Thema für sie sein sollte. Im journalistischen Sinne. Also: Hinschauen. Sich trauen, das wahrzunehmen. Wenn wir als Menschen nicht mehr in der Lage sind, das Grauen zu sehen, wenn wir die Trauer nicht mehr spüren, dann brauchen wir keine klugen Reden mehr zu halten.