Auf dem Weg zu einer europäischen Öffentlichkeit?

Das Internet scheint für eine grenzüberschreitende Kommunikation besser gerüstet zu sein als die alten Medien

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Können knapp 500 Millionen Menschen aus 27 Ländern, die in mehr als 20 Sprachen mit- und übereinander reden, eine einheitliche Öffentlichkeit ausbilden? Dieser nicht nur auf den ersten Blick kniffligen Frage gingen die Teilnehmer des Workshops „Towards a European Public Sphere“ nach, zu dem kürzlich die Bundeszentrale für politische Bildung und das Institut für die Wissenschaften vom Menschen nach Wien eingeladen hatten. Im 9. Bezirk eingefunden hatten sich zahlreiche Vertreter alternativer Medienprojekte, die sich vor allem mit der Nutzung des Internet zur Positionierung und Kommunikation europäischer Themen befassen – und somit einen guten Eindruck von der Empirie der häufig eher theoretisch adressierten Fragestellung haben.

Nahezu ständiger Begleiter war dabei die mehr berüchtigte als berühmte Internet-Rede von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher. Schon im Eröffnungspanel hatte Carl Henrik Fredriksson, Redaktionsleiter des Online-Magazins Eurozine, auf die mögliche Relevanz des Textes sowie der zugehörigen Diskussion für die europäische Öffentlichkeit verwiesen und damit eine wesentliche Diskussionslinie vorgegeben. Auffällig an der Debatte um Schirrmachers Thesen sei einerseits, dass ein breites – und damit auch internationales – Echo in den Printmedien bislang ausgeblieben ist. „Grund dafür ist das Fehlen jeglicher transnationaler Aspekte in Schirrmachers Argumentationskette und die damit verbundene Verkürzung der Diskussion auf die nationale Ebene“, so Fredriksson.

Noch deutlich schärfer kritisierte der niederländische Medien-Theoretiker Geert Lovink die Gutenberg-Fixierung Schirrmachers. Der Gründungsdirektor des Amsterdamer Institute of Network Cultures wies darauf hin, dass Schirrmacher in seinen Äußerungen jegliches Verständnis für die spezifischen Nutzerkulturen der neuen Medien vermissen ließe. Dessen Grundannahme, die mit dem Internet aufkommenden Formen der Mediennutzung wie selbstverständlich als Verlängerung alter Medientraditionen in ein neues technologisches Umfeld zu begreifen, bezeichnete Lovink als fundamentales Fehlurteil zahlreicher Medienmanager klassischer Prägung. Die Fixierung auf die Nachrichtenindustrie erschwere einen klaren Blick auf das real existierende Medienverhalten im Netz – ein Problem, vor dem auch Medienforscher und -analysten nicht gefeit sind:

Das Internet ist ein soziales Medium, in dem viel passiert – nur ein Bruchteil bezieht sich auf Nachrichten und das, was die alten Medien berichten. Die nächste Entwicklung des Internet ist nicht von den Inhalten bestimmt, sondern vom Verhalten der Nutzer.

In der laufenden Debatte um die Ausgestaltung von Mediensystemen unter den Bedingungen der Digitalisierung wirkten sich solche Einschätzungen auch auf die Beurteilung der wahren Machtverhältnisse im Mediensektor aus:

Warum regen sich alle über Rupert Murdoch auf, wenn es um Medienmacht und Kartellbildung geht? Wir sollten viel mehr darauf achten, was Google für die Zukunft plant.

Lovinks Verdikt über die Bewohner der alten Medienwelt mündete schließlich in den markigen Worten: „We have to tell those people: Shut up!“

Neben Schirrmacher schwebte mit Jürgen Habermas auch noch der Säulenheilige der politischen Öffentlichkeit über der anregenden Debatte – doch mit Blick auf die zunehmend zerfaserte, dabei aber überraschend flexiblen und lebendigen Teilöffentlichkeiten in Europa wurden Zweifel am eher schwerfälligen Habermas-Konzept laut. Die monolithische Idee einer umfassenden, integrativen europäischen Öffentlichkeit, die eine flächendeckende Verarbeitung grenzüberschreitender Themen und Positionen ermöglicht und so für einen kontinuierlich verfügbaren Resonanzraum politischer Diskurse sorgt, scheint schon angesichts der erheblichen Größenordnung von etwa einer halben Milliarde Menschen kaum realisierbar.

Gerade den in Wien vertretenen Internet-basierten Medienprojekten wie openDemocracy, n-ost, signandsight, eurotopics, Transitions Online oder Eurozine öffnet sich nur eine eher kleinteilige und fragmentierte Wirklichkeit internationaler Diskussionen, die von vielen Projekten zuallererst wechselseitige Übersetzungsdienstleistungen fordert. Entsprechend wenig überraschend ist dabei der Befund, dass ein großer Teil der Arbeit an der europäischen Öffentlichkeitsfront in die Organisation und Finanzierung von neuen Sprachfassungen einzelner Beiträge einfließt. Der Einheitlichkeitsanspruch einer „integrativen europäischen Öffentlichkeit“ in puncto Themen, Zugangsmöglichkeiten und Diskursregeln ist von solchen Spezialdienstleistern nicht einzulösen. Aber ist das zwingend erforderlich? Ist ein solch umfassendes Referenz- und Resonanzsystem tatsächlich eine notwendige Bedingung für eine funktionierende europäische Demokratie?

Vielleicht ist an dieser Stelle ein Umdenken nötig, um Räume für neue, flexiblere Konzepte von Öffentlichkeit zu eröffnen – denn schließlich verfügt das sich entwickelnde politische System der EU keineswegs über sämtliche Funktionseinheiten, die aus dem Blickwinkel von Politikwissenschaft und Demokratieforschung zur Grundausstattung moderner politischer Systeme zählen. So kennt das europäische Mehrebenensystem etwa auch kein echtes europäisches Parteiensystem, sondern nur nationenübergreifende Fraktionsgemeinschaften im Straßburger Parlament. Es gibt kein gemeinsames, vereinheitlichtes Wahlrecht, sondern lediglich einige Rahmenvorgaben innerhalb derer die Mitgliedsstaaten ihre eigenen Wahlsystematiken umsetzen. Und schließlich ordnet auch keine starre Verfassung die Strukturen europäischer Politik, sondern ein Konglomerat von Verträgen, Vereinbarungen und Übereinkünften. Warum kann also nicht auch eine andere Form von Öffentlichkeit als belastbares Rückgrat für ein komplexes demokratisches Gemeinwesen dienen?

Per Dekret aus Brüssel lässt sich ein grenzüberschreitender Kommunikationsraum ohnehin noch weniger realisieren als ein weitgehend einheitliches Vertragspapier, das verfassungsähnliche Funktionen übernehmen soll. Das Internet weist als neue Medienumgebung zumindest in technologischer Hinsicht weniger Barrieren für eine grenzüberschreitende politische Kommunikation auf als alte Medien. Mindestens deshalb ist es ein wichtiger Bestandteil für die Entwicklung neuer Strukturen und Prozesse nicht nur politischer Kommunikation, sondern auch politischer Kultur. Inwieweit auf dieser „medialen Hinterbühne“ (Geert Lovink) und im Rücken der etablierten Akteure der alten Medienwelt die Basis für einen genuin europäischen Kommunikationsraum gelegt werden kann, ist noch offen.